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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt (8)

Spielzeit 2014 / 2015 – eine Auswahl

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Birgit Hupfeld/Schauspiel Frankfurt (10) und Renate Feyerbacher (2)

ANNE
Die Blechtrommel
Dantons Tod
Macbeth – Ein Bastard von Dave St-Pierre und William Shakespeare
Endstation Sehnsucht

Knapp 125.000 Besucher kamen in der Saison 2014/2015 bis Ende März 2015 ins Schauspiel Frankfurt. Das bedeutet eine Auslastung von durchschnittlich 90 Prozent – eine neue Rekordmarke. Im Juli geht diese Spielzeit – die sechste von Intendant Oliver Reese – zu Ende, der (ab 1. August 2017) die Leitung des Berliner Ensembles übernimmt als Nachfolger von Claus Peymann.

Thementage „Leben mit Auschwitz – Danach“

Über Leben“ ist das Motto der Spielzeit. So stand der Februar 2015 ganz im Zeichen der Thementage über Auschwitz, über den Holocaust. Vor 70 Jahren wurden die Überlebenden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Auschwitz, Bergen-Belsen, Dachau, Theresienstadt, Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen, Mauthausen, um die grössten zu nennen, und den vielen kleineren Konzentrations- und Durchgangslagern in Deutschland, Österreich, Polen, Niederlande, Frankreich, Tschechien, Lettland, Litauen, Estland befreit. Michel Friedman, Anwalt, Fernsehmoderator, Publizist und Philosoph, begleitete einige Veranstaltungen und liess sich von Oliver Reese zu Auschwitz befragen, wo mehrere seiner Familienmitglieder umkamen. Unter den Zeitzeugen, die an diesen Thementagen redeten, war auch Trude Simonsohn. Die 94jährige gibt jungen Menschen den Rat: „Lernt, ‚Nein‘ zu sagen. Das ist nicht immer einfach, aber es geht nur in der Demokratie. In der Diktatur geht es dann nicht mehr.“

„ANNE“

Zum 70. Todestag von Anne Frank hat Martina Droste, Leiterin des „Jungen Schauspiels“, das Projekt „Anne“ entwickelt nach Tagebuchtexten von Anne Frank und Motiven aus dem Stück „Anne“ von Jessica Durlacher und Leon de Winter.

Die in Frankfurt am Main geborene Anne Frank schrieb von 1942 – „die feierliche Einweihung meines Tagebuchs beginnt am 20. Juni 1942“, wenige Tage zuvor war sie 13 Jahre alt geworden – bis 1. August 1944 im niederländischen Exil ein Tagebuch. Die Familie war 1933 aus Frankfurt nach Amsterdam geflohen. Als die Deutschen die Niederlande okkupierten und ihre Massnahmen gegenüber der jüdischen Bevölkerung verschärften, konnte sich die Familie Frank, Mutter, Vater, Schwester Margot, Anne und Freunde in einem Hinterhaus verstecken.

Es sind acht Untergetauchte auf engstem Raum. Spannungen bleiben nicht aus. Sehr offen schreibt Anne über das, was ein junges Mädchen in der Pubertät bewegt. Das tut sie in der Form von Briefen an die „Liebe“, die „Beste Kitty“, eine fiktive Freundin. Sie notiert, wie sie mit dem lieben Peter über Sexualität redet, beklagt, dass sie nicht richtig aufgeklärt ist. Peter übernimmt die Aufgabe. „Glaubst du, dass Vater und Mutter es gutheißen würden, dass ich auf einer Couch sitze und einen Jungen küsse?“ (17. April 1944). Sie fühlt sich beobachtet, eingeengt, zu oft kritisiert von den Erwachsenen. „Das halte ich nicht aus, wenn so auf mich aufgepasst wird, dann werde ich erst schnippisch, dann traurig, und schliesslich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen …“ (1. August 1944 – letzter Eintrag). Sie ist äusserst selbstkritisch. Sie träumt vom Leben danach, davon, was sie nach dem Krieg machen will. Sie schimpft manchmal auf die Erwachsenen und schildert den unangenehmen Zustand im Versteck. Aufmerksam kommentiert sie das politische Geschehen. Ihre Beobachtungsgabe und ihre Analysen sind erstaunlich.

Vater Otto Frank überlebte als Einziger der acht Untergetauchten.

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ANNE
Regie: Martina Droste; (↑) Jana Nieruch, Amir Homola Belamkadem, Jakob Zeisberger, Nina Mohs, Valentin Teufel, Peter Breidenich, Naomi Simeunovic, Marius Huth, Mahalia Slisch; Foto © Birgit Hupfeld

↓ Nina Mohs, Naomi Simeunovic, Jakob Zeisberger; Foto © Birgit Hupfeld

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Die Ensemble-Mitglieder des „Jungen Schauspiels“ sind zwischen 14 und 21 Jahre alt und kommen aus unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Martina Droste hat folgende Fragen als Arbeitsbasis formuliert: „Was bedeuten Annes Beobachtungen heute für uns? Welche Fragen möchten wir ihr stellen? Welche Fragen stellt Anne der Welt? Verändern die feinfühligen Reflexionen der jungen Autorin unsere eigenen Entwürfe von Würde und Glück? … Wir möchten uns keine Deutungshoheit über Anne Frank als Person anmaßen.“ Es gelingt ihr, heutigen Jugendlichen das Erwachsenwerden unter den Bedingungen des entwürdigenden, nationalsozialistischen Systems nahe zu bringen. Die Produktion, die in der kommenden Spielzeit im Repertoire bleibt, wurde zum 36. Theatertreffen der Jugend, das Ende Mai in Berlin beginnt, eingeladen. 126 Bewerbungen gab es. Das junge Frankfurter Ensemble gehört zu den acht Theatergruppen, die schliesslich am Bundeswettbewerb teilnehmen.

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Günter Grass am 10. Oktober 2010 bei seiner Ausstellung in „Die Galerie“ Frankfurt; Foto Renate Feyerbacher

„Die Blechtrommel“

Auch Bühnenstücke nahmen Bezug auf das Thema Holocaust, den 2. Weltkrieg und „70 Jahre danach“. Wieder eine Romanvorlage.

Immer mehr Roman-Adaptionen bieten die Theater an, weil zeitgenössische Stücke fehlen. Auch Oliver Reese sieht ein Defizit, weil versäumt wurde, Dramatiker zu fördern, zu entwickeln. Das will er demnächst in Berlin versuchen, wo fünf Sprechtheater zur Verfügung stehen. Oliver Reese ist ein Meister in Sachen Roman-Adaption, das hat er schon mehrfach bewiesen, und ein ideenreicher Regisseur. Das zeigte er erneut mit seiner Theaterfassung „Die Blechtrommel“. Das 600 Seiten starke Romanwerk des Nobelpreisträgers Günter Grass (1927-2015), das 1959 erschien, hat Reese in ein gut zwei Stunden dauerndes Theaterstück umgewandelt, und es ist erstaunlich, wie der Original-Grass-Text erhalten blieb.

Der kleinwüchsige Oskar Matzerath, dessen Geburtsdatum Grass ins Jahr 1924 legt, ist die Hauptfigur der „Blechtrommel“, ein Zeitgenosse von Grass, der über geschichtliche und familiäre Fakten mal als Ich-Erzähler, mal in der dritten Person berichtet. Joachim Kaiser bezeichnete seinerzeit in der Süddeutschen Zeitung den Roman „als schneidend prägnanter Versuch, die Beziehungen zwischen Kleinbürgerei und den Abenteuern der Diktatur festzuhalten“. Oskar vermittelt keine Behaglichkeit, sondern fordert die Auseinandersetzung mit der Zeit während und nach Nazi-Deutschland. Er trommelt gegen die Verdrängung. Es gibt keinen Trost, keine Erlösung, keine Läuterung. Er selbst nimmt die Geschehen der Welt nicht wirklich wahr: „Im Januar dreiundvierzig sprach man viel von der Stadt Stalingrad. Da Matzerath den Namen dieser Stadt ähnlich betonte, wie er zuvor Pearl Harbour, Tobruk und Dünkirchen betont hatte, schenkte ich den Ereignissen in jener fernen Stadt nicht mehr Aufmerksamkeit als anderen Städten, die mir durch Sondermeldungen bekannt wurden; denn für Oskar waren Wehrmachtsberichte und Sondermeldungen eine Art Geografieunterricht“ (Kapitel „Bebras Fronttheater“). Grass erzählt Zeitgeschichte aus der Perspektive der Hauptperson Oskar.

Günter Grass, der ursprünglich an der Premiere am 11. Januar 2015 teilnehmen wollte, verstarb 3 Monate später. Die Hamburger Premiere im März, in der Dramatisierung und unter der Regie des namhaften Theatermanns Luk Perceval, nahm er jedoch noch wahr. In Hamburg spielte die grossartige 70jährige Barbara Nüsse den kleinwüchsigen, nicht mehr wachsen wollenden Oskar Matzerath. Es waren Szenen mit mehreren Schauspielern.

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↑↓ DIE BLECHTROMMEL
Regie: Oliver Reese; Nico Holonics; Fotos © Birgit Hupfeld

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Regisseur Reese besetzte seine Fassung dagegen mit nur einem Schauspieler: mit Nico Holonics, der seit 2012 Ensemblemitglied ist („Kleiner Mann, was nun“, „Die Nibelungen“, „Gefährliche Liebschaften“). Kein einfaches Unterfangen, sondern ein Experiment, das gelang. Holonics spielt dieses nervige, die Erwachsenen analysierende Kind in knielangen Hosen mit Jacke und Kniestrümpfen, wie sie Jungen früher tragen mussten, er ist fein gescheitelt (Kostüme Laura Krack). Als Requisiten gibt es nur einen hohen Stuhl, der Oskars kurze Beine pendeln lässt, viele rot-weisse Trommeln bilden einmal eine Trommelwand – tolle Idee (Bühne Daniel Wollenzin). Der Text ist geballt, aber gut aufzunehmen, weil nichts von ihm ablenkt. Grossartig, wie Nico Holonics den Textmarathon bewältigt und mit welcher Spielfreude er diesen Oskar präsentiert. Eine eindrückliche Bühnenadaption.

Zwar schweifen die Gedanken gelegentlich zu Volker Schlöndorffs Film, für den er den „ausländischen“ Oscar erhielt, aber das sind nur Minimomente, denn das Bühnengeschehen ist spannend und faszinierend. Stehend applaudierte das Publikum.

Vorstellungen gibt es im Juni, Juli und in der Spielzeit 2015/2016.

„Dantons Tod“

Es ist das Jahr 1794. Die Schreckensherrschaft der französischen Revolution hat ihren Höhepunkt erreicht. Die Idee, politische und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, ist erloschen. Es herrscht Totalitarismus. Um dem Volk zu gefallen, das dahinvegetiert, müssen prominente Köpfe rollen. Einer ist Danton, der das Morden und Töten satt hat, weil auch mehr und mehr Unschuldige unter den Opfern sind. Er und seine Freunde, Camille und Lacroix, wollen, dass Nachsicht und Gnade geübt wird. Robespierre lehnt ab, St. Just, mit ihm verbündet, bereitet die Intrige vor, er sei ein Verschwörer. Die Hinrichtung Dantons und seiner Freunde wird verkündet.

Der historische Georges Jacques Danton (1759-1794) war zunächst ein harter Verfechter des gewaltsamen revolutionären Kampfes. Dann kam er zu der Einsicht, „dass man das Gebäude der Gesellschaft nur mit dem Kompass der Vernunft und des Geistes erreichen und fest verankern kann“. Robespierre warf ihm vor, die Revolution rückgängig machen zu wollen, und nannte ihn und seine Freunde „indulgents“ – die Nachsichtigen. Trotz Warnungen kehrte Danton nach einem Aufenthalt ausserhalb von Paris dorthin wieder zurück. „Sie werden es nicht wagen“, soll er immer wieder gesagt haben. Aber er und seine Freunde werden verhaftet. Robespierre und St. Just drohten dem Nationalkonvent, der die Verhaftungen zunächst kritisierte, aber schliesslich den Tod durch die Guillotine einstimmig beschloss. Auch den Richtern hatten Robespierre und St. Just gedroht. Von Justizmord wurde später gesprochen.

Der im hessischen Goddelau geborene Georg Büchner (1813-1837) schrieb „Dantons Tod“ im Winter 1834/35 in fünf Wochen – noch keine 22 Jahre alt. Das Stück wurde im selben Jahr gedruckt, aber erst 67 Jahre später in Berlin aufgeführt. Büchner, damals Student in Gießen, hatte zuvor in der Flugschrift des „Hessischen Landboten“, die Landbevölkerung zur Revolution aufgerufen: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen“. Er wurde in Friedberg vor Gericht geladen und, als er nicht erschien, steckbrieflich gesucht. Darauf floh er nach Straßburg.

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Regie: Ulrich Rasche; Torben Kessler, Nico Holonics; Foto © Birgit Hupfeld

Der Literaturwissenschaftler und Theologe Hermann Kurzke empfiehlt eine „konsequent autobiografische Leseweise“ des Stücks. Büchner nennt Danton Georg, nicht Georges. „Georg Danton ‚ist‘ Georg Büchner“, interpretiert Kurzke. Im „Hessischen Landboten“, so schreibt er, sei Büchner als Robespierre angetreten. Nun in „Dantons Tod“ habe er den Gemäßigten in sich entdeckt, „dem die individuelle Menschlichkeit wichtiger war als Weltverbesserung“ (Hermann Kurzke, „Georg Büchner – Die Geschichte eines Genies“, C.H.Beck).

Büchners Held Danton spricht aus, was Büchner selbst hat: Angst. „Ich weiß wohl – die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“

Am 27. März 2015 hatte „Dantons Tod“ im Schauspiel Frankfurt Premiere. Schwarze, riesige Walzen, die sich ständig drehen und sich hin und her bewegen, auch hoch fahren können, beherrschen die Bühne, die dadurch gedrungen klein wirkt. Über zwei Stunden stehen die Protagonisten auf diesen sich drehenden Walzen und sprechen ihre Texte, die wahrlich Tiefe haben und ganze Konzentration erfordern. Ständig müssen die Schauspieler gehen. Wie Marionetten hängen sie an Sicherheitsgurten, denn beim Sturz würden sie zermalmt. Diese Walzen sind Symbole der Gratwanderung, wie sie die Akteure der Französischen Revolution vollzogen: es ist ein Prozess des Zerriebenwerdens. Nur wer ständig schreitet, kommt voran, kann sich behaupten. Staunend verfolgt man im Zuschauerraum dieses Spektakel und fragt sich, wie Regisseur Ulrich Rasche, der auch die Bühnenidee verantwortet, die Schauspielerinnen und Schauspieler zu diesem spektakulären Einsatz motivierte. Gelegentlich nur gibt es mal eine „Verschnaufpause“ für die Akteure, die über Rampen, die herruntergelassen werden, die Walzen verlassen können. Diese Bühnenkonstellation fasziniert.

Die ständige Bewegung verändert auch den Sprachrhythmus. Erschwerend, ja störend kommt hinzu, dass der Text ständig von Musik und auch gelegentlich von singenden Choristen auf der hinteren Walze begleitet wird. Danton kommt leichtfüssig daher, mal mit offenem Hemd, mal mit freiem Oberkörper wie ein Luftikus – bravourös gespielt von Torben Kessler. Ein Höhepunkt ist die Konfrontation mit Robespierre, der wie seine Gefolgsleute ganz in Schwarz auftritt. Robespierre, der angeblich Tugendhafte, der mordet, und Danton, der Genusssüchtige, mit freiem Oberkörper, stehen sich gegenüber beziehungsweise Danton liegt einmal wie gedemütigt vor ihm. Wie ein Gnom, gedrungen, wirkt Nico Holonics als Robespierre. Ein starker Auftritt – wie er bei den Bösewichten meist eher gelingt als bei den Vernünftigen.

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Regie: Ulrich Rasche; Ensemble; Foto © Birgit Hupfeld

„Wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab“ (Robespierre).

Es gibt keine Guillotine, keine Andeutung: Die Walzen fahren hoch und wieder herrunter, die Verurteilten baumeln an ihren Gurten. „Es ist mir, als wäre ich in ein Mühlwerk gefallen und die Glieder würden mir langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht. So mechanisch getötet zu werden!“ hatte Danton gesagt.

Das Publikum war von dieser Inszenierung beeindruckt.

Weitere Vorstellungen gibt es im Juni, die Wiederaufnahme in der Spielzeit 2015/2016.

„Macbeth – Ein Bastard von Dave St-Pierre und William Shakespeare“

Dieser Shakespeare fällt ganz aus dem Rahmen üblicher Macbeth-Aufführungen. Nur zehn Seiten des weltberühmten Textes werden in den eindreiviertel Stunden insgesamt gesprochen. „Actions speak louder than words.“ Das ist der Gedanke von Dave St-Pierres Bewegungstheater. Der 1974 im kanadischen Québec geborene St-Pierre arbeitet seit 20 Jahren in der Tanzsszene. Er ist Choreograf und Regisseur und arbeitet mit Tänzern, Schauspielern, Akrobaten, Sängern und Nicht-Professionellen zusammen. Er hat eine eigene Company. Sich selbst nennt er einen Mainstream-Künstler, seitdem er zusammen mit dem Leiter der Zirkustruppe „Cirque EloÏze“ (Kanada) 2012 das Erfolgsstück „Cirkopolis“ inszenierte. Und sich noch von seiner Lungentransplantation erholte.

Wie Thomas Hahn im Programmheft schreibt, wurde St-Pierre „sein Bild in den Medien, eine Mixtur aus seinen schrillen Inszenierungen und seiner dramatischen Krankengeschichte selbst unheimlich. Dave zog die Notbremse, um das Heft des Handelns selbst in der Hand zu behalten“. Von emotionalen Orgien in seinen früheren Stücken ist die Rede. An „Macbeth“, ein hochexplosives emotionales Geschehen, müsse er jetzt in einer neuen Art herangehen. Dass er polarisieren würde, war schon vorher klar.

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(v.l.) Alex Huot und Dave St-Pierre nach der Presskonferenz am 31. März 2015; Foto: Renate Feyerbacher

Auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz hatte Oliver Reese den Regisseur, Dave St-Pierre, und Alex Huot, Fotograf, Illustrator, Video-Künstler, das Projekt vorstellen lassen. St-Pierre und Huot haben schon mehrfach zusammengearbeitet. Im Vorfeld war zu erahnen, was auf der Bühne geschehen würde. „Macbeth – Ein Bastard von Dave St-Pierre und William Shakespeare“ ist der Abend benannt.

Nicht mit Tänzerinnen und Tänzern, sondern mit Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt er sein Bewegungstheater „Macbeth“. An die Akteure des fremden Ensembles könne er nicht „die selben Anforderungen stellen wie an die Darsteller seiner eigenen Kompanie“. Ein solides, psychisches Gleichgewicht habe gefunden werden müssen, um „ohne Trauma zu überstehen“. Die Akteure sind nicht nackt, wie manchmal üblich bei St-Pierre, sondern tragen feine körperfarbene Trikots. Lady Macduff, die ermordet wird (Katharina Bach), zeigt sich in japanischem Bondage (erotischer Fesselkunst).

Die Bühne ist meist so dunkel, dass aus der Reihe 15 Feinheiten der Szenerie kaum zu erkennen sind, vor allem nicht die Schrifttafeln, auf denen einzelne Worte stehen. „Hagel, Hungersnot“ ist zu lesen. Geister, Hexen, Dämonen in schwarzen Kapuzenpullis und Masken bevölkern ständig die Bühne, räumen auch mal Tische um, deren Sinn nicht zu deuten ist. Die Kenntnis des Stückes ist wichtig, um zu ahnen, was vorgeht. Es gibt Szenen, die ermüden, aber auch solche, die faszinieren.

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MACBETH
Regie/Choreografie: Dave St-Pierre; Constanze Becker; Foto © Birgit Hupfeld

Zum Beispiel: Constanze Becker („Medea“,„Ödipus und Antigone“, Eysoldt-Ring) schreitet – ganz Königin – als Lady Macbeth in pompöser Robe mit langer Schleppe (Kostüme Raphaela Rose) daher, dann recken sich Arme heraus, die sie betasten. Sie scheint es zu geniessen. Eine gruselig-beeindruckende Szene. Von der Idee her auch eindrücklich die Szene, als Malcolm den toten Vater auf einem rollenden Brett immer schneller um sich schleudert. Sie hört jedoch kaum auf und verliert dadurch an Spannkraft. Wahnsinnig, wie Lisa Stiegler als Malcolm und Christoph Pütthoff als Duncan, König von Schottland, das aushalten.

Später übernimmt Macbeth, kraftprotzig von Viktor Tremmel dargestellt, diesen Rennmodus mit einer langen Leine, an der weisse, lebensgrosse Puppen hängen – Symbole für die Ermordeten. Gute Idee, mutet dennoch seltsam an.
Zwiespältige Begeisterung für die Choreografie-Inszenierung, dagegen uneingeschränkte Begeisterung für die Leistung der Schauspieler. Sicher – Tänzerinnen und Tänzer hätten es noch perfekter gemacht. Aber allein die Sterbeszene von Constanze Becker ist eine grandiose Körper-Studie. Wirklich uneingeschränktes Lob für das gesamte Schauspieler-Team.

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MACBETH
Regie/Choreografie: Dave St-Pierre; Christoph Pütthoff, Lisa Stiegler; Foto © Birgit Hupfeld

Das gemischt jung-alte Publikum, einige wenige hatten das Theater verlassen, spendeten dem Spektakel überschwänglichen Beifall. Trotz Einwänden: hingehen, weil aussergewöhnlich!

Dave St-Pierre und Alex Huot, die neben mir in der Reihe sassen und mich wiedererkannten, weil ich sie fotografiert hatte, begaben sich nicht auf die Bühne. Ich fragte: „Why?“ Dave St-Pierre: „I don’t like me to präsent“.

Weitere Aufführungen Ende Mai, mehrfach im Juni und in der kommenden Spielzeit.

„Endstation Sehnsucht“

Der amerikanische Autor Tennessee Williams (1911-1983), Sohn eines heruntergekommenen Sprösslings aus einer angesehenen Südstaaten-Familie, der oft abwesend war, und einer puritanisch geprägten Mutter, Tochter eines Geistlichen, wurde zum Aussenseiter, vor allem als er sich 1938 öffentlich als homosexuell outete. Prägend war auch die Einlieferung seiner Schwester in eine Nervenheilanstalt, die sie bis zum Lebensende nicht mehr verliess. Schon früh hatte Williams literarische Erfolge: mit „Die Glasmenagerie“ (1945), mit „Endstation Sehnsucht“ (1947) und „Die Katze auf dem heissen Blechdach“ (1955). Er wurde weltberühmt. Alle drei Dramen wurden verfilmt. Regisseur Elia Kazan widmete sich 1951 „Endstation Sehnsucht“ mit Marlon Brando und Vivien Leigh. Sieben Jahre später kam „Die Katze auf dem heissen Blechdach“ mit Paul Newman und Elizabeth Taylor in die Kinos. Alle drei Streifen zählen zu den Meisterwerken der Filmgeschichte. Dann kam Williams literarischer Einbruch, es folgten Drogen- und Alkoholabhängigkeit, ein schwerer Nervenzusammenbruch, den er erst Jahre später überwand. Bis zu seinem rätselhaften Tod reiste er ruhelos umher.

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ENDSTATION SEHNSUCHT
Regie: Kay Voges; Stephanie Eidt, Ralf Drexler, Susanne Buchenberger, Jos Diegel oder Alexander Dumitran (Live Kamera); Foto © Birgit Hupfeld

„Endstation Sehnsucht“ hat autobiografische Züge. Blanche DuBois wird mit dem Verlust des elterlichen Anwesens, einer grossen Pflanzenplantage im Süden der USA, nicht fertig. Sie ist tief gefallen nach dem Suizid ihres jungen Ehemannes, an dem sie mitschuldig ist. Mit den Verehrern hat es nicht geklappt und mit neuen wird es nicht klappen. Sie flüchtet sich in den Alkohol beziehungsweise zu Schwester Stella, die mit Stanley, einem Industrieangestellten, Sohn polnischer Einwanderer, verheiratet ist, in eine muffige Zweizimmerwohnung in New Orleans. Sie hat kein Geld. Er hat sich den Regeln des beginnenden Wettbewerbs nach dem Zweiten Weltkrieg angepasst. Stella hat sich untergeordnet, ihre gute Herkunft verdrängt. Die Konflikte sind vorprogrammiert, weil Blanche die Wirklichkeit ausblendet. Sie findet vor allem bei Stanley – gespielt von Oliver Kraushaar – kein Verständnis für ihre Lebensvorstellungen, für ihr Traditionsbewusstein, für ihre Illusionen.

Regisseur Kay Voges, Schauspiel- und Opernintendant in Dortmund, arbeitet an der Schnittstelle von Theater und Film. Das heisst, das Bühnengeschehen wird mit Kameras aufgezeichnet und projiziert. Die Bühne wird zum Filmstudio.

Bei „Endstation Sehnsucht“ sind zwei Kameramänner ständig präsent. Es ist eine live-Aufzeichnung, dazwischen das agierende Protagonisten-Team. Weil ständig auf die Leinwände geschaut wird, werden die Schauspielerinnen und Schauspieler hauptsächlich in Grossaufnahmen wahrgenommen. Ein Vorteil ist, dass auch Leute, die in hinteren Zuschauerreihen sitzen, das ausgezeichnete Spiel von Stephanie Eidt („Phädra“) als Blanche und Claude de Demo („Dogville“) als Stella in ihren Feinheiten wahrnehmen können. Die eigentliche Theateratmosphäre bleibt jedoch ziemlich auf der Strecke.

Auch diese Regiearbeit hinterlässt eine zwiespältige Beurteilung: die Schauspiel- und Medienkunst beeindruckt, aber sie vereitelt den Reiz des Theaters. Das sollte einen aber nicht abhalten, „Endstation Sehnsucht“ zu besuchen.

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ENDSTATION SEHNSUCHT
Regie: Kay Voges; Stephanie Eidt, Oliver Kraushaar, Jos Diegel und Alexander Dumitran (Live-Kamera); Foto © Birgit Hupfeld

Regisseur Kay Voges geht es um „die Differenz zwischen Herstellung und Wirkung“. Er ist überzeugt, dass die Risse der Seele durch das Bild des Schauspielers vor der Kamera deutlich werden.

Weitere Vorstellungen im Juni und Juli sowie in der Spielzeit 2015/2016.

→ Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt / 1
→ Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt / 9

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