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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

“New Frankfurt Internationals” 2015: “Solid Signs” (3)

Zwei „Qualja“ von Emilia Neumann –
geheimnisvolle Vorhänge von Helena Schlichting

Von Erhard Metz

Wer im Lexikon nach „Qualja“ sucht, tut dies vergeblich; im Obergeschoss des Frankfurter Kunstvereins hingegen wird der Suchende fündig. Im Lexikon aber findet man „Qualia“ – es ist die Mehrzahl von Quale – als einen Begriff der Philosophie des Geistes. Volker Gadenne, Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Linz, hat uns den Begriff verständlich gemacht: „Menschen haben Empfindungen und Gefühle, und sie können Arten solcher mentaler Ereignisse wiedererkennen und unterscheiden. Sie haben erfahren, wie der Geschmack einer Zitrone ist und wie er sich von dem eines Stücks Schokolade unterscheidet … Dieses erlebte ‚wie‘ eines mentalen Zustandes ist ein Quale (Plural Qualia). Man nennt es auch die Erlebnisqualität oder phänomenale Qualität des betreffenden mentalen Zustandes oder Ereignisses. Oft werden auch diese Zustände oder Ereignisse selbst Qualia genannt. Qualia sind weiterhin durch die Formulierung beschrieben worden, ‚wie es für ein Subjekt ist‘, in dem mentalen Zustand zu sein, wie sich der Zustand ‚an-fühlt‘ …“ (Quelle: www.sprache-werner.info, herausgegeben von Ulrich Werner, München).

Was denken wir – nein, was empfinden, was fühlen wir, wonach suchen wir in uns selbst, wenn wir vor Emilia Neumanns „Qualja“ stehen, sie umrunden, sie betrachten, uns über sie verwundern, sie zugleich schön, aber irgendwie auch komisch, „knubbelig“, „putzig“ finden, in ihre Körperlichkeit hineinblicken, den Horizont unserer Erinnerungen nach ähnlich Gesehenem, dabei Empfundenen, gar nach Vertrautem abtasten?

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Emilia Neumann, Qualja I und Qualja II, 2014, Pigment, Gips, Stahl, Armierungsgewebe, Courtesy the artist

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Möchten wir so ein „Qualja“ anfassen, vielleicht streicheln, es mit nachhause nehmen und dort aufstellen, es den staunenden Besuchern als Kunstwerk präsentieren und, wenn sie wieder gegangen, es gar als eine Art Mitbewohner oder „Haustier“ empfinden? Was würde solches bedeuten, was in uns freisetzen?

Neumanns Arbeiten seien, lesen wir im Katalog, vordergründig nicht sinnlich angelegt. Das mag sein. Aber was ist das, was das Bezaubernde und eben doch so Sinnliche an ihnen ausmacht? Assoziationen wecken sie vielfältiger Art im Betrachter – und auch mehr: Wie verhält es sich doch mit den „Qualia“?

Szenenwechsel.

Bezauberndes, Verzauberndes eignet auch den geheimnisvollen Vorhängen von Helena Schlichting. Was nur haben wir vor uns? Sind es Skulpturen, zarte Malereien – oder gar Fotografien? Was wäre, wenn wir jetzt sagten: ja, es sind so eine Art Fotografien – „fotografiert“ jedoch ohne Kamera?

Vorhang-Arbeiten der Künstlerin lernten wir bereits in der Absolventenausstellung 2012 der Städelschule kennen. Sie bestimmten seinerzeit den Treppenaufgang zum Ausstellungsraum, dem alten Zollamtssaal, öffneten sozusagen wie ein zu beiden Seiten zurückgezogener Bühnenvorhang den Blick auf das weitere Ausstellungsgeschehen. Im Rahmen der aktuellen “New Frankfurt Internationals 2015: Solid Signs” sehen wir im Frankfurter Kunstverein zart sich im Luftzug bewegende Stoffe, gleichsam Gardinenstores, luftig schwebend aufgehängt an Gardinenstangen oder nach Art eines Paravents in hochrechteckigen hölzernen Rahmen, hier bläulich schimmernd. Allein das Näherkommen vermag bei ihnen bereits leichte, leise Bewegungen zu bewirken. Und wieder stellt sich der Gedanke ein: möchte man nicht solche Kunstwerke mit nachhause nehmen?

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Vorhang #2 Wandschirm mit Fenster, 2014/2015, Eichenholz, Vorhangstoff, Eisenblaudruck (Cyanotypie), 2,10 m x variabel, Courtesy the artist

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Compose (no ideas but in things). Invent. Vorhang #4, #5 und #6, Vorhänge, Träger von metallischem Silber, lichtdichte Kiste, 2,05 x 1,90 m, Courtesy the artist

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Vorhänge und Licht – Helena Schlichting spielt mit beidem. Die Vorhänge – mit ihren Mustern und in all ihrer Transparenz – verschleiern nur leicht das hinter ihnen zu Sehende. Eine Erläuterung scheint notwendig: Die Künstlerin beschichtet die Gardinenstoffe mit einer Fotoemulsion, belichtet sie, wie wir lesen bei Mondschein oder auch mit dem Licht ihres Telefondisplays, und entwickelt sie – es handelt sich im Grunde um alte fotografische Techniken. Das Verfahren ist sehr zeitaufwändig. Die Ergebnisse sind erstaunlich, sie überschreiten die Grenzen zwischen zweidimensionaler Fotografie und raumgreifender Skulptur. Und sie sind von einem einzigartigen, geradezu auratischem Reiz!

Auch die kleine, mit zwei Schnappschlösschen versehene, lichtdichte Kiste spielt eine Rolle. Sie ist nicht verschlossen, man darf sie, versichert uns die Kuratorin Lilian Engelmann, durchaus kurz öffnen. In ihr befinden sich weitere Vorhangstoffe, sie sind ebenfalls mit Fotoemulsion beschichtet und werden durch das einfallende Licht belichtet. Was mag die anschliessende Entwicklung, wenn sie denn erfolgt, zum Vorschein bringen? Die Geburt eines neuen Kunstwerks – unter Mitwirkung der Betrachter?

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In vergleichbarer Weise verfährt Helena Schlichting mit ihren Frottagen und Fotogrammen auf Barytpapier, die in einer Vitrine gezeigt werden.

Emilia Neumann, 1985 in Offenbach geboren, studierte an der Hochschule für Gestaltung Offenbach bei den Professoren bzw. Lehrbeauftragten Wolfgang Luy und Georg Hüter, ergänzt um ein Studium an der Facultad de Bellas Artes Alonso Cano in Granada. Sie erhielt unter anderem den Förderpreis der Darmstädter Sezession und war Preisträgerin der Künstlerhilfe Frankfurt am Main. Emilia Neumann lebt und arbeitet in Offenbach.

Helena Schlichting, 1976 in Frankfurt am Main geboren, studierte nach einer Ausbildung zur Fotografin zunächst an der Hochschule für Gestaltung HfG Offenbach bei Professor Heiner Blum und anschliessend an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule – als Meisterschülerin von Professorin Judith Hopf. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

“New Frankfurt Internationals” 2015 “Solid Signs”: Doppelausstellung im Frankfurter Kunstverein und im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden, bis 26. April 2015

Abgebildete Werke © die jeweilige Künstlerin; Fotos: Erhard Metz

→  “New Frankfurt Internationals” 2015: “Solid Signs” (4)
→  “New Frankfurt Internationals” 2015: “Solid Signs” (1)

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