home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Eine Zwischenbetrachtung über die Natur

Essay

Von Gunnar Schanno

Die Natur, wenn der Mensch sie in reflektierter Weise von sich selbst trennt, ist dem Menschen gegenüber indifferent. Sie ist, wenn sie in anthropomorpher, vermenschlichter Weise wie ein handelndes Individuum versinnbildlicht wird, neutral und konsequent in ihren Reaktionen. Was ihr angetan wird, gibt sie zurück – gibt sie zurück mit absoluter Zuverlässigkeit, unbestechlich und integer, unnachsichtig und emotionslos. Selbst die im Menschen innerlich wirkende Natur zahlt das zurück, was der Mensch sich selbst, seiner Natur in sich, seinem Körper, gegeben hat, belohnt und bestraft im Maße dessen, was er ihr im eigenen Ich als biologische Zentrale zugefügt, entzogen, womit er sie überhäuft und strapaziert hat. Die von innen und außen wirkende Natur versetzt den Menschen in die Stadien zwischen den Grenzwerten von Gesundheit und Krankheit. Die Natur vergisst nichts. Sie ist nicht romantisch. Sie ist buchhalterisch gewissenhaft, wenn sie Bilanz zieht, wenn es um Plus oder Minus geht, sie verrechnet jedes Atom, jedes Molekül, jede Verknüpfung, sie registriert das Sichtbare und das Unsichtbare, den Stoß und die Strahlung, die physisch verträgliche und die unverträgliche Substanz.

Die Natur außerhalb des Menschen Ich ist angelegt auf Erhalt ihres je eigenen Lebensraums, auf Ausreizen ihres Terrains bis an des Menschen Grenzen. Wo er sich aus künstlichem, gestaltetem, künstlerisch verfremdetem, von ihm zum Kulturraum erklärten Areal zurückzieht, folgt die Natur in natürlicher, unstilisierter, originär unkultivierter Direktheit. Für die Natur ist der Mensch als selbstreflektierendes Wesen zum Waffenträger besonderer Art geworden. Wo er wirkt, hinterlässt er im Zuge technischer Ausstattung eine Spur der Naturverdrängung, des künstlichen, manipulierten Natursurrogats, der Naturverwüstung, wenn nicht der Naturzerstörung. Doch wo sie endet und durch den Menschen in seiner passageren Übermacht gegenüber der Natur nicht weiter verfolgt und sich selbst überlassen wird, schafft sich die Natur mit größter Selbstverständlichkeit ihren Raum, erobert ihn in völliger Absichtslosigkeit und doch zwischen Zielstrebigkeit und Gelassenheit zurück. Wo Natur sich selbst überlassen bleibt, der Zügelung, der Selektion, des Beschnitts und der Stutzung in Gärten und Parks nicht klein und domestiziert gehalten wird, wo sie aus der menschseits gewünschten Obhut und Zügelung, bis in ihre Gene manipulativ erzielten Dienerschaft und Einverleibung entlassen ist, da reißt sie alle Grenzen ein, zerkleinert, zermürbt, zerstäubt alles Menschenwerk, da kennt sie Limits nur noch, wo Ursache und Wirkung in Gegenseitigkeit den Grad ihrer Materialisierung und Objektivierung festlegen.

Joseph Werner-Diana of Ephesus as allegory of Nature-ca

Joseph Werner (genannt der Jüngere, 1637-1710): Diana von Ephesos als Allegorie der Natur, Radierung, um 1680, Art Institute of Chicago; wikimedia commons

Natur ist auch indifferent gegen sich selbst. Wie zu alten Erdzeitaltern kann sie geradezu suizidär in Erscheinung treten, wenn Teile ihres Organismus und ihrer Materie – belebte und unbelebte – sich aufeinander werfen, ihre eigenen Elemente von Feuer, Wasser, Erde und Luft gegen sich selbst in Einsatz bringt. Wenn ihre Elemente wie Kriegsmittel als Asteroiden und Meteoriten, als Vulkane, als Erdbeben, Sturmfluten, einbrechende Landmassen und Stürme für Momente ihr eigenes Antlitz zerstören. Natur bietet dem Menschen keine Geborgenheit. Wer sie sucht, muss auf ein Jenseits der Natur hoffen. Wenn das temporär Selbstzerstörerische der Natur nicht allein sie selbst trifft, sondern auch die von ihr selbst in eine Sonderstellung erhobene Spezies Mensch, dann helfen all dessen Erbarmensrufe nicht, die der Mensch an sie richtet, da helfen auch nicht Rufe an das, was der Mensch glaubt, ihr übergeordnet zu haben, an das Allmächtige eines Gottes, dann zerstört sie, was ihr in den Weg kommt, dann einverleibt, zermalmt, dann frisst sie, wie Saturn, ihre eigenen Kinder der Fauna und Flora. Auch die Heiligen akzeptiert die Natur nicht als die Vermittler zwischen sich und dem Menschen, sich und dem Höchsten, dem Höchsten und dem Menschen, akzeptiert keine Opfergaben, wenn ihre Beben und ihre Gewalten assisische Kirchenkuppel, heilige Tempel, schützendes Bauwerk, heimelige Stätten für Alte, Frauen und Kinder einstürzen lassen.

Mit der Technik hat der Mensch sich der Natur gegenüber gestellt, hat Kriegsmittel gegen sie geschaffen. Mit der aus Technisierung entstandenen Industrialisierung hat die Koexistenz zwischen Natur und Mensch ein Ende gefunden. Der Mensch hat die Solidarität mit der Natur im Maße seiner technischen Extendiertheit aufgehoben. Die Natur des Menschen, seine in sich angelegte Dynamik, sein Erfindungsreichtum, sein rastloses Arbeiten als Seinsmodus zwischen sich und der Natur, sich und der Welt, seine Populationsmasse, sie haben ihn befähigt, sich selbst, seine Spezies ins Überdimensionale, Naturunverträgliche zu steigern. Der Mensch hat sich selbst in ein parasitäres Verhältnis zu ihr gesetzt. Als Parasitär vernichtet er seinen von der Natur bereitgestellten Wirtsorganismus.

Aus seinem Selbstverständnis heraus erobert der Mensch die Natur in dem Maße, wie er glaubt, dass die Erde ihm untertan sei, dass die externe Natur ihm zu dienen habe, dass sie sein Besitz sei bis in die Tiefen von Ozean und Erdreich, bis in einst undurchdringliche Wälder, bis in einst unerreichbare Höhen und Welten. Im gleichen Maße akkumulieren sich die Gefahren für den Menschen, nicht für die Natur.

Eine Zwischenbetrachtung zu ihr, der Natur, soll auch so distanzierende Begriffe wie Umwelt- oder Klimaschutz in Frage stellen. Für Natur und ihre aus Menschensicht betitelte Sub-Phänomene wie Umwelt oder Klima ist Schutz als Fürsorglichkeit, als Erhaltenswert keine Kategorie. Natur und Umwelt benötigen keinen Schutz durch den Menschen. Denn der Umwelt und dem Klima sind die Menschen kein Maßstab. Beide pendeln sich in ihren Systemen irgendwo und irgendwann wieder ein, werden, was sie waren und sind, was sie sind, auch nach dem Menschen. Klima und Umwelt waren und sind weit vor Menschengedenken nur Augenblickszustände unterschiedlicher Bedingtheiten und werden es sein auch in Phasen, da sie die Völker auf der Flucht vor Fluten und Flammen vor sich hertreiben. Was als Klimakiller ein Kampfbegriff gegen das Verfeuern fossiler Brennstoffe gedacht ist, ist kein Killer des Klimas, als ließe sich Klima beeindrucken von vorübergehenden Anreicherungen bestimmter Stoffe in seinem Raum, gemeint ist nicht ein Klima-, sondern ein Menschenkiller. Die Natur schlägt den Menschen, nicht der Mensch die Natur.

Der Mensch arbeitet sich immer an der Natur ab. Aller Scharfsinn, sie verändern zu wollen, endet im Trugschluss. Sie existiert nach unveränderlichen Gesetzen auch ohne ihn. Aus ihr strömt dem Menschen primär keine Freiheit zu. Sie ist Abgeschlossenheit, System, sie ist unüberholbar, unkorrigierbar, sie ist konkurrenzlos. Die Natur ist in ihrer Funktionshaftigkeit in Mikro- und Makrokosmos unbezwingbar, sie ist unersetzbar, sie ist sich selbst, in welcher Form und Gestalt auch immer. Diese Unabhängigkeit der Natur lässt den Menschen ringen und verzweifeln, siegen und scheitern zugleich. Die Natur ist des Menschen Schicksal. Er ist aus ihr gebildet und geformt, er produziert aus ihr, er hat nur die Natur als einzige Quelle des Lebens, innerlich und äußerlich. Sie ist ihm Wirklichkeit und Rätsel, Subjekt und Objekt. Ihren Gesetzen ist er unterworfen in alle Lebensphasen hinein. Er muss die Natur ertragen, ihre Macht dulden, denn sie bevorzugt ihn nicht. Weder die innere, die ihn der Gesundheit wie der Krankheit aussetzt, noch die äußere, die sich ihren Weg über Leichen bahnt, wenn sie dazu getrieben wird, der Ursache die Wirkung folgen lässt.

Der Mensch ist Teil der Natur, in ihren unveränderlichen Gesetzen verfangen und gefangen, und ist dennoch in der Lage, sie und sich selbst in Außensicht wahrzunehmen, wie im Traum sich neben sie und sich selbst stellen und beobachten zu können, sich ihrer zu bewältigen in Zahl und Regel. Und doch ist der Mensch wider alles Mühen und Hoffen nicht in der Lage, Herr über die Natur zu werden. Die Natur stellt die Regeln auf, nicht der Mensch. Ihre Regeln sind nicht abstrakt, sie sind Bedingungen in der Aufeinanderfolge singulärer Ereignisse. Aus diesem Sachverhalt mag aber der naturhafte Mensch auch Entlastung fühlen darüber, dass er nicht alle Bürde tragen muss, dass nicht alles Tun und Lassen, alles Misslingen, alles schuldlos schuldige Unrechttun, alle Verfehlung, dass er sich nicht alle daraus entstehende Glücklosigkeit selbst zuschreiben muss. Doch Sinngebung aus der Natur gibt es nicht. Sie ist Vielfalt der Dinge, sie ist Teil und Ganzes, sie ist Chaos und Ordnung. Sie ist im Kleinen, was sie im Großen ist. Sie erscheint dem Menschen in Raum und Zeit. In ihrer Gesamtheit ist sie dialektisch ziellos und zielstrebig zugleich. Die Natur gibt keine Antworten auf Fragen. Sie nimmt sich das Recht der Zerstörung ohne menschseits gegebenen schuldhaften Anlass. Der Natur ist das Individuum nichts, die Species alles. An der Species der Menschheit selbst erkennen wir, dass ihr Fundus für sie die Art, die große Zahl, das verschwenderische Werden und Vergehen auch der Menschen ist.

The_Earth_seen_from_Apollo_17-500

„Blue Marble“, Fotoaufnahme während des Fluges von Apollo 17 zum Mond am 7. Dezember 1972; wikimedia commons/NASA, Foto: Harrison Schmitt/Ron Evans

Im kriegerischen Verhältnis, in das der Mensch in technischer Bewaffnung mit der Natur getreten ist, setzt die Natur die Regeln, zwingt sie den Menschen zum Frieden, nötigt ihm Verhandlungen auf von Kyoto bis ins Lima des Jahres 2014 und für alle weiteren Jahre, setzt sie die Bedingungen und Limits für Maß und Erträglichkeit von menschseits geschaffenen technoiden Umformungen in ihr. Natur und ihr widerspenstig gewordenes hominides Geschöpf sind ungleiche Gegner und der Mensch als Geschöpf kann doch nur sein Überleben – so die Natur will – kann nur Friede und sein gutes Gewissen finden in ihr und im Eins-Sein mit ihr.

→ Kultur und Zivilisation
→ Kultur – Profiteur der Zivilisation

 

Comments are closed.