200 Jahre Städel (6) – Tischbeins Goethe als Inspirator
Petra Kammann stellt ihre ganz persönlichen Schätze im Städel vor (6)
Die Ikone unseres in Frankfurt geborenen Dichterfürsten gehört auf jeden Fall an eine zentral exponierte Stelle im Städel: Tischbeins „Goethe in der römischen Campagna“ von 1787, wenngleich dieses Bildnis bei näherer Betrachtung durchaus irritierend ist. Es stellt Goethe über lebensgroß dar, in einer kaum wahrnehmbaren Unterperspektive.
Der so mächtig thronende wie nachdenklich dreinblickende Dichter mit dem großen Schlapphut und gehüllt in ein ecrufarbenes Gewand, lagert mit seinen leicht verdrehten Beinen und linken Füßen (man musste die Schuhe damals erst als rechten und linken Schuh einlaufen) auf den Überbleibseln einer antiken Kulisse: den Resten eines ägyptischen Obelisken, eines griechischen Reliefs, eines römischen Kapitells, die kampanische Landschaft im Rücken.
Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe in der römischen Campagna, 1787, Öl auf Leinwand, 164 × 206 cm; Foto: Städel Museum – U. Edelmann – ARTOTHEK
Als Goethe nach dem Erfolg seines Werthers anonym zu seiner zweijährigen Italienreise aufbrach, hatte er in Rom eine Anlaufstelle, den Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, und zog in dessen Wohnung am Corso. Für den zeichnenden und malenden Dichter mag die Begegnung ebenso inspirierend gewesen sein wie für den Maler, der das Dichtergenie als Klassiker zwischen den Epochen inszenierte. Goethe bekannte: „Das Stärkste, was mich in Italien hält, ist Tischbein, ich werde nie … so viel in so kurzer Zeit lernen können als jetzt in Gesellschaft dieses ausgebildeten, erfahrenen, feinen, richtigen, mir mit Leib und Seele anhängenden Mannes.“ Tischbein wiederum zeichnete Goethe in Rom mehrfach. Doch dieses Bildnis wirkte besonders stark weiter. Karl Meyer Freiherr von Rothschild vermachte es etwa 100 Jahre später, im Jahr 1887, dem Städel.
Andy Warhol, Goethe, 1982, Siebdruck und Acryl auf Leinwand, 200 × 210 cm, seit 2010 Dauerleihgabe der Commerzbank AG, Frankfurt am Main; © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Foto © Städel Museum – ARTOTHEK
Abermals knapp 100 Jahre später, im Jahre 1982, verfremdete der Pop-Artist Andy Warhol Goethes Porträt. Er war bei einem Städel-Besuch mit Suhrkamp-Verleger und Goethe-Liebhaber Siegfried Unseld auf Tischbeins „Goethe in der römischen Campagna“ gestoßen. Den markanten Kopf mit Hut verwandelte er in eine vierteilige Edition und als Siebdruck auf Leinwand. Andy Warhol hatte bereits 1962 damit begonnen, Pressefotos von Prominenten wie Marilyn Monroe und Elvis Presley im Siebdruck zu reproduzieren und durch den Einsatz poppiger Farben zu verfremden; zuletzt bediente er sich der Köpfe und Motive aus allen Lebensbereichen, gleich ob aus Musik, Kunst, Politik, Wirtschaft, Sport oder der Produktwelt. Die Porträt-Siebdrucke ziehen sich allerdings bis zuletzt durch sein gesamtes Werk. Mit Warhols „Fabrik“ und den zahlreich darin wirkenden Mitarbeitern stellte er so Begriffe wie Originalität, Authentizität oder Einzigartigkeit, die normalerweise im Zusammenhang mit Kunst assoziiert werden, in Frage.
Das bekannte Städelbild, verfremdet als peppige Siebdruck-Ikone, ging endgültig ins kollektive Bewusstsein größerer Schichten ein. Da schon Warhol durch die Verfremdung des vertrauten Gemäldes unser Bewusstsein für den Charakter medial vermittelter Wirklichkeit geschärft hat, ist es nur folgerichtig, dass Warhols Siebdruck heutzutage im zeitgenössischen Erweiterungsbau des Museums hängt (die Commerzbank stellte es aus ihrer Sammlung als Dauerleihgabe dem Museum 2010 zur Verfügung), begleitet wiederum von einer weiteren medialen Vermittlung, der Schwarz-Weiß-Fotografie der Frankfurter Fotografin Barbara Klemm.
Barbara Klemm, Andy Warhol, Frankfurt am Main 1981; Foto: © Barbara Klemm
Als die geniale FAZ-Fotografin Barbara Klemm, die etliche charakteristische Künstlerporträts geschaffen hat, mit ihrem Mann das Frankfurter Städel besuchte, begegnete sie zufällig dem Pop-Artisten, der den „Tischbein-Goethe in der Campagna“ einmal „im Original“ studieren wollte. Die Fotografin, bekannt dafür, den „richtigen Moment“ zu erwischen, trägt ständig ihre kleine Leica griffbereit in der Umhängetasche mit sich. So konnte sie spontan reagieren und den fast scheuen und etwas starren Warhol vor Tischbeins berühmtem Gemälde ablichten. Entstanden ist so das Bild zweier Künstler, gesehen von einer Künstlerin, für die typische Körperhaltungen Teil der Persönlichkeit sind. So kann auch der heutige Besucher des Städel die doppelten medialen Brechungen, die für unsere Zeit so charakteristisch sind, nachvollziehen und erkennen, welche eigenen Wege die Rezeption von Ikonen nehmen kann.
→ 200 Jahre Städel (1)
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→ 200 Jahre Städel-Stiftung – Städel Museum Frankfurt am Main