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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg an der Oper Frankfurt

Nicht gerettet um zu leben, sondern um Zeugnis zu geben

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Barbara Aumüller/Oper Frankfurt und Renate Feyerbacher

Das 1968 fertiggestellte Werk des polnisch-sowjetischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg (1919-1996), das am Bolschoi-Theater in Moskau uraufgeführt werden sollte, aber abgesagt wurde – erinnerten die KZ-Szenen an den Gulag? – und erst 2006 konzertant zur Aufführung kam, gelangte erst 42 Jahre später erstmals auf eine Opernbühne: in Bregenz. „Seitdem reist die ‚Passagierin‘ durch die Welt und ich mit ihr“, scherzt Zofia Posmysz in einem Gespräch mit Intendant Bernd Loebe. Nun erlebte „Die Passagierin“ am 1. März 2015 ihre Frankfurter Erstaufführung.

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Andreas von Schoeler, Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums, Intendant Bernd Loebe, Zofia Posmysz, Übersetzerin Sabine Leitner; Foto: Renate Feyerbacher

Ist es möglich, über Auschwitz eine Oper zu schreiben?

Der pessimistische Aufklärer Theodor W. Adorno (1903-1969), Philosoph, Komponist, Soziologe, Professor an der Universität Frankfurt, gebürtiger Frankfurter, der in die USA emigrieren musste, aber zurückkehrte, weil er zu Europa, zu Deutschland gehöre, schrieb in „Kulturkritik und Gesellschaftskritik“ den viel zitierten, kontrovers diskutierten Satz: „… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Würde dieser Satz befolgt, müsste auf jegliche Kultur verzichtet werden.

Eine Oper ist möglich, wenn das Geschehen von jemand erzählt wird, der Auschwitz selbst erlebt hat. Es ist Zofia Posmyz (geboren 1923), die am 28. Februar mit Intendant Bernd Loebe im Holzfoyer auf dem Podium sass. Die Einundneunzigjährige war tags zuvor aus Chicago gekommen, wo „Die Passagierin“ aufgeführt wurde. Zunächst fast streng, skeptisch wirkt sie, sie wie auch Bernd Loebe äussern ihre Anspannung vor diesem Gespräch. Schön ist ihr zartes, schmales Alters-Gesicht, wenn sie lächelt.

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Zofia Posmysz in der Oper Frankfurt; Foto: Renate Feyerbacher

Zofia Posmysz, ehemalige Rundfunkjournalistin und Kulturredakteurin, erzählt und erzählt – „Ich bin nie müde“ – zunächst, wie es zum Libretto kam, das auf ihrer gleichnamigen Novelle aus dem Jahre 1962 basiert. Drei Jahre zuvor hatte sie ein Hörspiel geschrieben mit dem Titel „Die Passagierin aus Kabine 45“. Das polnische Fernsehen interessierte sich. Regisseur und Kameramann Andrzej Munk (1921-1961) realisierte zunächst ein Fernsehspiel, das grosse Beachtung fand. Dann ermutigte er die Autorin, ein Drehbuch zu verfassen. Da sie aber keine Erfahrung mit dieser Art Text hatte, schrieb sie die Erzählung, aus der ein Drehbuch entstand, und Regisseur Munk begann mit den Dreharbeiten zu einem Spielfilm. Auf der Rückreise vom KZ Auschwitz-Birkenau verunglückte er tödlich. Der Film wurde von seinem Mitarbeiter fertiggestellt. Er lief 1964 bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes und erhielt den Preis des FIPRESCI (Internationale Filmkritiker- und Filmjournalisten-Vereinigung).

Wie kam es zu der Idee für Zofia Posmysz‘ Novelle?

Zur Eröffnung der Fluglinie Warschau-Paris 1958 durfte die mittlerweile angesehene Journalistin einen Tag nach Paris fliegen. Auf der Place de la Concorde glaubte sie, die Stimme ihrer ehemaligen KZ-Aufseherin in Auschwitz, Anneliese Franz, zu hören. Sie war schockiert und drehte sich um. Aber sie war es nicht. Ihre Erinnerungen an das Konzentrationslager Auschwitz, in das sie, die gläubige Katholikin, mit 18 Jahren nach Verteilung von Flugblättern in Krakau eingeliefert wurde (später kam sie nach Ravensbrück, wo sie am 2. Mai 1945 von den Russen befreit wurde), liessen sie jedoch nicht mehr los. Anneliese Franz, die KZ-Aufseherin, soll bereits 1956 verstorben sein, so die Aussage eines Mannes, der dies der signierenden Autorin Zofia Posmysz erzählte. Vor Gericht stand Anneliese Franz nie. Der polnische Dichter Zbigniew Herbert (1924-1998) drängte Zofia Posmysz zu schreiben: sie sei nicht gerettet worden, um zu leben, sondern um Zeugnis zu geben. Sie habe nur wenig Zeit.

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Intendant Bernd Loebe, Zofia Posmysz, Übersetzerin Sabine Leitner; Foto: Renate Feyerbacher

Zofia Posmysz beginnt zu schreiben: Das Geschehen verlegt sie auf einen Ozeandampfer. Lisa reist mit ihrem Ehemann Walter, einem deutschen Diplomaten, nach Brasilien. Es ist ein Höhepunkt seiner Karriere. Lisa glaubt, in einer Passagierin die Auschwitz-Inhaftierte Marta erkannt zu haben, die sie für tot gehalten hatte. Ihre Unruhe, schliesslich ihr Geständnis gegenüber Walter, dass sie KZ-Aufseherin war, führt zunächst zu einer Ehekrise. Aber Walter fürchtet nur um seine Karriere und verdrängt das Gehörte. Ein Beispiel für das kollektive Vergessen in den Jahrzehnten nach dem Krieg. Gegenwart und Vergangenheit greifen ineinander. Der Ozeandampfer mit langen Treppen und schmalen Türen dreht sich und wird in seinem Innern zum Konzentrationslager. Ideal ist das Bühnenbild von Katja Haß. Die Passagierin wird zu Marta.

„Eine gewisse Tragik ist mit dieser Oper verbunden“ (Zofia Posmysz)

Weder der russische Librettist, der Musikwissenschaftler Alexander Medwedew (1927-2010), der zweimal mit der Autorin in Auschwitz war, noch der polnisch-russische Komponist Mieczyslaw Weinberg haben die szenische Aufführung der Oper erlebt. Jahrzehnte hatten sie darauf gehofft. Medwedew, der zur szenischen Uraufführung im Juli 2010 nach Bregenz kommen wollte, war zuvor erkrankt und starb wenige Tage nach der Aufführung.

Weinberg begann ein Klavierstudium an der Warschauer Musikakademie, das er nach dem Einfall der deutschen Nazis sofort abbrach. Er floh über Minsk, Taschkent nach Moskau. Seine Familie, die aus Moldawien stammte und seit 1903 in Polen lebte, wurde ermordet. 1943 schickte er Dmitri Schostakowitsch (1906-1975), einem der bedeutendsten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, seine Sinfonie. Dieser lud ihn nach Moskau ein, wo Weinberg bis zu seinem Tode lebte. Kurz vor Stalins Tod 1953 wurde er verhaftet wegen des Verdachts, eine jüdische Verschwörung zu planen. Der bei den stalinistischen Machthabern umstrittene Schostakowitsch setzte sich für ihn ein. Frei kam er aber erst nach Stalins Tod.

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Peter Marsh (Walter), Tanja Ariane Baumgartner (Lisa) und Sara Jakubiak (Marta); Foto © Barbara Aumüller

„Dank der Musik wird Auschwitz immer ein Thema bleiben“ (Zofia Posmysz)

Wuchtig beginnt das Vorspiel mit Paukenschlägen und Bläsern. Dieses Motiv kehrt immer wieder. Das ist markerschütternd. Eine Frau, es ist die Passagierin Marta, tritt auf und schreibt in die Luft: „Ich lebe, du lebst, sie lebt“, in verschiedenen Sprachen. Es wird auf die Wand projiziert, vor der sie steht.

Auf die Frage nach der Lebensqualität erzählte Zofia Posmysz von den Glücksmomenten im KZ, vom Fleckfieber, von den heftigen Durchfällen und von dem Arzt, der sie beschwor, die Nacht noch durchzuhalten, und ihr am Morgen Tropfen gab. „Was das für eine Freude war. Ich lebe.“ Der Arzt, auch ein Häftling, über den sie später eine Erzählung schrieb, wurde wegen seines Medikamentenschmuggels ins KZ zu zehn Tagen Stehbunker verurteilt.

Die Hoffnung auf ein späteres Leben, die Solidarität der Frauen, das alles findet sich textlich sowie musikalisch in der Oper wieder. Sehr farbenreich ist die Musiksprache: mal ohrenbetäubend laut als Zeichen für Brutalität, dann nur leise begleitend, wenn es um den Zusammenhalt der Frauen geht, und lyrische Momente bei den Liebesaugenblicken zwischen Marta und Tadeusz. Dieser kommt in den Frauenblock, um die Geige zu holen, auf der er den Lieblingswalzer des Lagerkommandanten spielen soll. Stattdessen spielt er Bachs d-moll-Chaconne. Der Tod ist ihm sicher. Musik gab es immer in den Konzentrationslagern, mal zur Belustigung, mal um die Todesschreie zu übertönen. Weinberg greift zu Jazz- und Volksliedelementen, auch zu Walzerklängen. Es fasziniert, wie es ihm gelingt, die Stimmen der Passagiere mit denen der Gefangenen zu verschmelzen.

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Brian Mulligan (Tadeusz) und Sara Jakubiak (Marta); Foto © Barbara Aumüller

„Ein Gebet die ganze Oper“, so Bernd Loebe. Zofia Posmysz teilt diese Formulierung

Die Funktion des ausgezeichneten Chors (Tilman Michael) erinnert an griechische Tragödien. Christoph Gedschold, der bereits in Karlsruhe die Erstaufführung der „Passagierin“ dirigierte, sprang für den erkrankten Leo Hussain ein. Souverän leitete er das stark besetzte Frankfurter Opern- und Museumsorchester.

Regisseur Anselm Weber gelingt es, die Übergänge von Normalität zu Brutalität eindrücklich umzusetzen. Lähmende Momente. Die themagemässe Darstellung, eindrückliche Szenen im Konzentrationslager ohne Exzesse von grober Brutalität, wohl aber psychologischer Quälerei, ist sicher auch der intensiven Bearbeitung von Chefdramaturg Professor Norbert Abels geschuldet, der auch Musiker ist.

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Chefdramaturg der Oper Frankfurt, Professor Norbert Abels; Foto: Renate Feyerbacher

Lisa, die ehemalige KZ-Aufseherin, heute glückliche Ehefrau, und Marta, ehemalige KZ-Inhaftierte, die Passagierin, begegnen sich nur durch Blicke. Keinmal gibt es eine direkte Konfrontation. Auch ihre Gänge hat Amseln Weber geradezu choreografiert. Diese Distanz erhöht die Anspannung. Dieses Nicht-Miteinander-Reden ist schlimmer als Hass. Lisa versucht sich gegenüber Walter zu verteidigen. Sie sei doch auch gut zu ihr gewesen. Dabei versuchte sie, Marta zu beherrschen, zu unterdrücken, aber Marta liess sich nicht brechen. Lisa höhnte: „Lagermadonna“.

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in der Mitte stehend v.l.n.r. Sara Jakubiak (Marta) und Tanja Ariane Baumgartner (Lisa) sowie das Ensemble; Foto © Barbara Aumüller

Zwei grossartige Sängerinnen geben Lisa und Marta ihre Stimme. Dieses Stimmen-Duell von Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner, seit Jahren Ensemblemitglied, und Sopranistin Sara Jakubiak, neu im Ensemble, ist beeindruckend. Für Tanja Ariane Baumgartner ist diese Rolle eine Gratwanderung zwischen liebender und angsterfüllter Ehefrau und zynisch handelnder KZ-Aufseherin, zwischen Sadismus und Hinwendung, die sie meisterhaft, emotional ebenso wie kalt, grandios bewältigt. Die Amerikanerin Sara Jakubiak – international viel unterwegs, der Oper Frankfurt aber bis 2017/2018 fest verbunden – ist als Passagierin stumm. Sie konzentriert ihre Stimme ganz auf Marta. Es gibt Momente, da bleibt einem der Atem stehen, so authentisch ist Gesang und Spiel auch von den anderen KZ-inhaftierten Frauen – Anna Ryberg, Maria Pantiukhova, Jenny Carlstedt, Judita Nagyová, Nora Friedrichs, Joanna Krasuska-Motulewicz, Barbara Zechmeister. International besetzt sind die Rollen und entsprechen der Internationlität der Oper.

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im Vordergrund kniend Tanja Ariane Baumgartner (Lisa)  und neben ihr liegend Sara Jakubiak (Marta)  sowie im Hintergrund den Chor der Oper Frankfurt; Foto © Barbara Aumüller

Peter Marsh überzeugt in der kleinen Rolle des Ehemanns von Lisa. Der Amerikaner Brian Mulligan singt Tadeusz, den Geliebten von Marta. Eine herrliche Baritonstimme. Sein Liebes-Duett mit Marta macht atemlos. Auch Mulligans Spiel – fantastisch. Professionell besetzt sind auch die Rollen der SS-Männer – Dietrich Volle, Magnús Baldvinsson, Hans-Jürgen Lazar – , die sie nur widerstrebend übernommen haben sollen, des Steward Michael McCown. Alle Sängerinnen und Sänger geben an diesem Abend ihr Rollendebüt.

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am linken Bildrand stehend Sara Jakubiak (Marta)  und am rechten Bildrand stehend Tanja Ariane Baumgartner (Lisa)  sowie im Hintergrund das Ensemble; Foto © Barbara Aumüller

Der Applaus wollte nicht enden, vor allem als Zofia Posmysz auf die Bühne geführt wurde, elegant, freundlich lächelnd, sichtlich gerührt und begeistert, das Publikum beklatschend.

Eine Oper, ein Inszenierung, die auch Schülerinnen und Schülern gezeigt werden sollte. Es würde Zofia Posmysz freuen, die sich bei der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz engagiert.

Weitere Aufführungen am 6., 8., 14., 20., 22. und 28. März 2015, jeweils um 19 Uhr

 

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