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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

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Meisterwerke von Jean-Jacques de Boissieu im Städel

Frauen-Bildnis gegen Landschaft mit Kühen ausgetauscht

Von Hans-Bernd Heier

Ob Johann Friedrich Städel (1728-1816) seinen Zeitgenossen, den damals international bekannten Künstler Jean-Jacques de Boissieu (1736-1810), persönlich kennen gelernt hat, ist nicht belegt. Dass er aber die Arbeiten des herausragenden Zeichners und Radierers aus Lyon sehr zu schätzen wusste, zeigen die mehr als 20 Zeichnungen und weit über 200 Radierungen, die der Gründer des Städelschen Kunstinstituts erworben hat. Dieses Konvolut zählt zum alten Museumsbestand und umfasst eine der größten Sammlungen von Boissieus Werken in Deutschland.

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Porträt Jean-Jacques de Boissieu, Radierung, 1796

Der Frankfurter Kaufmann und Bankier Johann Friedrich Städel stiftete 1815 sein Haus am Rossmarkt, seine Kunstsammlung sowie sein Vermögen zur Gründung des nach ihm benannten Kunstinstituts. Deutschlands ältester bürgerlicher Museumsstiftung steht 2015 ein ereignisreiches Jahr bevor: Im Jubiläumsjahr präsentiert Frankfurts bedeutendste Kunsteinrichtung eine Vielzahl hochkarätiger Sonderausstellungen. Den Reigen eröffnet die Schau „Jean-Jacques de Boissieu. Ein Zeitgenosse Städels“. Gezeigt werden in der Ausstellungshalle der Graphischen Sammlung erlesene Zeichnungen und Radierungen des französischen Künstlers. Bei der Auswahl der Arbeiten konnte Kuratorin Jutta Schütt, Leiterin Graphische Sammlung ab 1750, aus dem Vollen schöpfen. Für die Präsentation seien aus dem reichen Sammlungsbestand 13 Zeichnungen sowie 83 Radierungen ausgewählt worden, die einen bemerkenswerten Einblick in das künstlerische Schaffen Boissieus gäben, so die Kuratorin.

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„Die Seifenblase“, Radierung, 1799

„Aus dem über 100.000 Arbeiten umfassenden Bestand unserer Graphischen Sammlung haben wir als Auftakt zum Jubiläumsjahr etwas Besonderes ausgesucht: eine Ausstellung, die Johann Friedrich Städel als kenntnisreichen Kunstsammler thematisiert und darüber hinaus unserem Publikum einen virtuosen Zeichner und Druckgrafiker näherbringen will“, sagt Museumsdirektor Max Hollein. „Diese Ausstellung führt zum Ursprung der Sammlung des Städel und der Sammeltätigkeit des Gründers zurück“.

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„Flussgegend, ein Pferdefuhrwerk durchquert eine Furt“, Aquarell, 1793

Boissieu, 1736 in Frankfurts heutiger Partnerstadt Lyon geboren, war schon zu Lebzeiten über die Grenzen Frankreichs hinaus ein hochgeschätzter Künstler. Landschaften, Genreszenen und Porträts zählten zu seinen bevorzugten Sujets. Er konzentrierte sich in seiner künstlerischen Arbeit auf Zeichnungen und Radierungen; Gemälde sind hingegen von ihm nur wenige überliefert. Seine exzellenten Zeichnungen und Druckgrafiken begeisterten nicht nur Fürsten, sondern auch private Sammler wie Johann Friedrich Städel. „Der reiche Bestand an Radierungen und Zeichnungen Boissieus in der Sammlung Johann Friedrich Städels zeugt vom Geschmack des Frankfurter Bankiers und Gewürzhändlers, der als Sammler nicht nur herausragende Werke alter Meister erwarb, sondern ebenso an zeitgenössischer Kunst interessiert war“, erklärt Jutta Schütt.

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„Halbfigur einer jungen Frau mit einem Muff“, Rötel und Bleistift, ca. 1770

Boissieu, der aus einer Familie des niederen südfranzösischen Adels stammte, besuchte in seiner Heimatstadt Lyon eine kostenlose Zeichenschule, deren praxisnahe Ausbildung der in Lyon ansässigen Seidenindustrie diente. Zum Radieren animierte ihn ein Kunsthändler der Stadt. Da der Autodidakt keine Kunstakademie besucht hatte, wurde er zu seiner Zeit als „Amateur“ bezeichnet. Seine ersten kleinen Radierungen von Köpfen und szenisch zusammengestellten Figuren, die „Griffonnements“ (Kritzeleien), wurden bereits 1758 in Paris verlegt.

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Kuratorin Jutta Schütt, Leiterin Graphische Sammlung ab 1750, und Direktor Max Hollein erläutern auf der Pressekonferenz das Werk Boissieus; Foto: Hans-Bernd Heier

„Fortschrittlich vertritt Boissieu in seinen radierten Landschaften und Bildnissen sowie den fein nuancierten Pinsel- und Kreidezeichnungen eine vom Naturstudium genährte Wirklichkeitsnähe, die auf eine von akademischen Normen unabhängige, bürgerliche Kunstauffassung verweist“, so Schütt. Die politisch und gesellschaftlich turbulenten Zeiten rund um die Französische Revolution haben indes im Werk des Künstlers keine Spuren hinterlassen. Im Zentrum seines Schaffens stehen Landschaft, Bildnis und Genre, hingegen werden die offiziellen Gattungen Historie und Religion von ihm kaum thematisiert.

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„Die großen Scharlatane“, Radierung, 1772

Der Chevalier verbrachte den Großteil seines Lebens in Lyon. Die Stadt der Seidenindustrie verließ er nur zweimal für längere Zeit: für einen Aufenthalt in Paris zwischen 1762 und 1764, wo er beispielsweise den einflussreichen Künstler Jean-Baptiste Greuze (1725-1805) oder Sammler wie Pierre-Jean Mariette kennenlernte. In den Jahren 1765/1766 reiste er im Gefolge des Herzogs de La Rochefoucauld (1743-1792) nach Genua, Neapel und Rom. Während dieser Zeit begegnete er vielen richtungsweisenden Persönlichkeiten seiner Zeit wie dem Philosophen und Autor Voltaire (1694-1778) oder dem Archäologen und Kunstschriftsteller Johann Joachim Winckelmann (1717-1768).

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„Ansicht der Rhône-Brücke in Lyon“, Aquarell, Feder in Braun auf geripptem Bütten, 1760

Auf der ausgedehnten Italienreise hielt Boissieu seine Eindrücke mit dem Pinsel fest, „wobei die sich im Licht entfaltende Landschaft im Zentrum stand“, erläutert Schütt. „Fortan griff er in seinen Arbeiten immer wieder auf diese italienischen Naturstudien zurück, die ihm als direkte Vorlagen oder als Erinnerungsstützen für Radierungen von frei komponierten Landschaften dienten“. Auch Johann Friedrich Städel konnte eine dieser begehrten Pinselzeichnungen Boissieus („Ruine des Apollotempels am Ufer des Averner Sees“, 1765) erwerben, die in der Ausstellung zu sehen ist.

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„Château Gaillard“, Pinsel in Grau und Schwarz, 1796

Im Anschluss an die Italienreise kehrte Boissieu ins heimatliche Lyon zurück und wurde 1771 königlicher Beamter. Das sicherte ihm bis zum Ausbruch der Französischen Revolution ein regelmäßiges Einkommen. Boissieus adelige Abstammung, die ihm zunächst viele Türen geöffnet hatte, hätte sich für den Chevalier als lebensgefährlich erweisen können. Doch eine offizielle Bescheinigung aus Paris stellte ihn und seine Werke unter Schutz und half ihm, sicher durch die Revolutionswirren zu kommen. Vielleicht ist dieser Schutzbrief auch ein wenig der Tatsache zuzuschreiben, dass in seinen Arbeiten die Revolution nicht stattfand.

Ein Schwerpunkt der sehenswerten Schau im Städel bilden Landschaftsradierungen und -zeichnungen. Unter den Landschaften finden sich topografisch klar zuordenbare Ansichten der Stadt Lyon, aber ebenso komponierte, aus unterschiedlichen Versatzstücken aufgebaute Werke. Die Radierung „Ansicht der Rhône-Brücke in Lyon“ von 1761 ist beispielhaft neben einem ein Jahr zuvor ausgeführten Aquarell zu sehen.

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„Deichdurchbruch in Holland“, nach einem Gemälde von Jan Asselijn, Radierung, 1782

Porträts stellen einen weiteren Schwerpunkt der Jubiläumsschau dar. Eröffnet wird die Präsentation mit einem Selbstporträt des damals 60-jährigen Künstlers, einer 1796 entstandenen Radierung in zwei Fassungen: Die erste zeigt Boisseu mit dem Bildnis der Ehefrau in Händen. In der späteren Fassung hat er dieses Porträt seiner Frau durch eine ländliche Idylle mit zwei Kühen ersetzt. Besonders eindrucksvoll ist auch die Radierung „Die Seifenblasen“ (1799), die wohl seine beiden Söhne zeigt.

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Ausstellungsansicht

Genreszenen, sein drittes großes Sujet, zeigen den zeitgenössischen Alltag der Region und beleuchten vorrangig bürgerlich-private Bildthemen wie „Die Schulklasse“, „Der Almosen gebende Alte“ oder das Handwerk wie „Die großen Küfer“.

1801 publizierte der 65-jährige Boissieu ein Werkverzeichnis seiner Radierungen, von dem Johann Friedrich Städel ein handschriftlich vom Künstler ergänztes Exemplar erwarb, das auch in der Ausstellung zu sehen ist. Nach wenigen Jahren der frühen Zusammenarbeit mit verschiedenen Pariser Verlegern hatte der Künstler den Vertrieb seiner Druckgrafik selbst in die Hand genommen. Erst im Alter ließ er seine Werke wieder durch Verleger vertreten.

Städel und Boissieu, die beide die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts schätzten, sind durch eine weitere Gemeinsamkeit verbunden: Auch Boissieu besaß eine eigene Kunstsammlung. Als Künstler, Sammler und Kunstkenner wurde der Franzose 1803 sogar in die Kommission zur Einrichtung des Museums in Lyon berufen. So verbindet die beiden Zeitgenossen auch die maßgebliche Rolle, die sie bei den Museumsgründungen in Frankfurt und Lyon spielten.

Der dank seiner virtuosen Zeichnungen und Grafiken zu seiner Zeit hochgeschätzte und weithin bekannte Künstler ist heute nahezu in Vergessenheit geraten – selbst in seiner Heimatstadt Lyon, zu Unrecht wie die feine Schau in der Ausstellungshalle der Graphischen Sammlung des Städel belegt. Dort können Kunstfreunde einen der letzten ganz großen Druckgrafiker des 18. Jahrhunderts neu entdecken.

„Jean-Jacques de Boissieu. Ein Zeitgenosse Städels“, Städel Museum, bis 10. Mai 2015

Bildnachweis (soweit nicht anders bezeichnet): © Städel Museum ARTOTHEK

 → 200 Jahre Städel-Stiftung – Städel Museum Frankfurt am Main

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