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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Fantastische Welten“ im Städel: „Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500“ (2)

Die „jungen Wilden“ um 1500 mit der Lizenz zum Experimentieren (Folge 2)

Von Hans-Bernd Heier

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts eröffnen sich den bildenden Künstlern ungeahnte Freiheitsräume. Sie haben für drei Jahrzehnte quasi eine „Lizenz zum Experimentieren“. Anhand von 120 hochkarätigen Exponaten beleuchtet die Präsentation „Fantastische Welten“ diese expressiven Neuerungen. Damit knüpft das Städel an die großartigen Dürer-Ausstellungen und die Cranach-Schau an.

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Ausstellungsansicht, Foto: FeuilletonFrankfurt

Die klar strukturierte Präsentation, die bis zum 8. Februar 2015 gezeigt wird, ist thematisch in sechs Abschnitte gegliedert. Gleich zu Beginn in einem Kabinett widmet sie sich dem Thema „Weltenlast, Naturgewalten: Bilder des hl. Christophorus“. Der „Christusträger“ zählte im Spätmittelalter zu den meistverehrten und am häufigsten dargestellten Heiligen. Bilder des Märtyrers, der den Christusknaben auf den Schultern über einen Fluss trägt, schmückten nicht nur Kirchenwände oder Altarretabel, sondern wurden auch massenhaft als Druckgrafiken für den Hausgebrauch verbreitet. Albrecht Altdorfer, Wolf Huber und Georg Lemberger stellen den Schutzpatron der Schiffer, Fuhrleute und Reisenden in einer bis dahin unbekannten Weise dar: In bizarr überzeichneter Form bringen sie in ihrer Kunst die enorme Last zum Ausdruck, die der Riese mit dem Christuskind auf seinen Schultern trägt. Ausdrucksstark zeigen sie, wie sich der Riese, gestützt auf seinen baumstammgroßen Stecken, unter der immer schwerer werdenden Last beugt und fast in den Fluten des Flusses versinkt.

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↑ Meister des Zwettler Hochaltarretabels und Werkstatt, Apostelszene des Mittelschreins des ehemaligen Hochaltarretabels der Zisterzienserkirche Zwettl, 1516 – 1525, Lindenholz, lasiert, partiell gefasst; Adamov u Brna/Adamsthal bei Brünn, St. Barbara; Foto: FeuilletonFrankfurt

↓ Meister der Beweinung von Bettlern (Zebrák) tätig in Budweis (?) zu Anfang des 16. Jahrhunderts, Gnadenstuhl, 1500/1510, Lindenholz mit originaler Fassung, Hluboká nad Vltavou/Frauenberg (Moldau), Alšova jihoceská galerie v Hluboká nad Vltavou/Südböhmische Aleš-Galerie; Foto: FeuilletonFrankfurt

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Im ersten Saal des Ausstellungshauses werden unter dem Titel „Bilder des Menschen“ zentrale Arbeiten der führenden Künstler des Donauraumes vorgestellt.

Die Werke verdeutlichen, worin sich diese Künstler in der Darstellung des Menschen von der älteren Künstlergeneration unterscheiden. Auch werden gemeinsame Stilmittel in der Umsetzung dieses Bildmotivs herausgearbeitet. Zudem werden Werke von Albrecht Dürer als Protagonist und Begründer eines mathematisch-naturwissenschaftlich konstruierten Menschenbildes den Arbeiten von den Zeitgenossen Altdorfer, Huber, Meister IP und Leinberger gegenübergestellt. Im Gegensatz zu Dürers genau proportionierten Körpern erscheinen die Figuren der anderen Künstler extrem dynamisiert, die menschliche Anatomie ist oftmals nicht naturgetreu gestaltet. Ihre Kunst wird durch den Einsatz expressiver Farbigkeit und Formgebung bestimmt.

Kreuzigung Christi mit Gottvater und der Taube des Hl. Geistes.

Hans Mielich „Christus am Kreuz mit Gottvater und dem hl. Geist sowie sechs Assistenzfiguren“, 1539, Zeichnung, 208 x 154 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main; Foto: Städel Museum – U. Edelmann – ARTOTHEK

Die kurz nach 1500 aufkommende Experimentierfreude, altbekannte Bildthemen völlig neuartig darzustellen, verdeutlicht besonders eindrücklich die Sektion „Schräge Ansichten bei Kreuzigungen und anderen Passionsszenen“. Hier waren es vor allem deutsche Künstler, die mit etablierten Darstellungskonventionen brachen. Statt das Kreuz Christi auf die herkömmliche Weise mittig und frontal ins Bild zu setzen, wurden neue Möglichkeiten ausprobiert: Kreuzigung und Kreuzabnahme wurden von vorne, von hinten oder von der Seite gezeigt. Dadurch steigerten die Künstler die Dramatik des Bildgeschehens und verstärkten die erschütternde Drastik.

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Albrecht Altdorfer „Landschaft mit Burg“, um 1520 – 1530, Pergament, auf Buche aufgeklebt, 30,5 x 22,5 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München; Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München

Albrecht Altdorfer schuf das erste reine Landschaftsgemälde. Landschaft dient nicht mehr nur als Staffage, sondern wird erstmals zum eigentlichen Bildgegenstand und Thema selbst. Obgleich Altdorfers Landschaftsgemälde keine topografisch identifizierbaren Orte zeigen, stellt die Neugewichtung der Landschaft in seinen Werken eine ganz wesentliche Neuerung dar. Denn er nutzt sie gezielt, um Stimmungen zu vermitteln, und macht die Landschaft so zum faszinierenden Ausdrucksträger. Bedrohliche Gewitterhimmel oder lyrische Sonnenuntergänge unterstreichen Ausdruck und Stimmung der meist menschenleeren Szenerie. Die Vegetation entwickelt in vielen Kunstwerken ein geheimnisvolles Eigenleben. So zeigen beispielsweise Albrecht Altdorfer oder sein jüngerer Bruder Erhard mit ihren Federzeichnungen Weiden und Fichten, die nicht wie statische Bäume, sondern wie unheimlich belebte Wesen wirken. Auch bei anderen Künstlern um 1500 figuriert das Sujet Landschaft nicht mehr nur als bloße Kulisse der eigentlichen Darstellung, wie das Ausstellungskapitel „Landschaft als Ausdrucksträger“ an Hand von markanten Beispielen verdeutlicht.

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↑ Erhard Altdorfer „Die große Fichte“, um 1525/30, Feder in Schwarz, weiß gehöht, auf graugrün grundiertem Papier, 30,6 x 19,5 cm, The National Gallery of Denmark, Dänemark; Foto: SMK Photo

↓ Meister von Meßkirch (tätig in Süddeutschland in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts) „Kreuzigung Christi“, ca. 1530, Leinwand auf Tannenholz aufgezogen, 98 x 73 cm, Sammlung Würth, Schwäbisch Hall; Foto: Sammlung Würth

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Die folgende Sektion, „Mittel des Expressiven“, widmet sich eingehend den verschiedenen Ausdrucksformen in der Kunst jener Zeit. Dynamische Verzerrungen, Ornamentalisierungen, Lichtreflexe und grelle Farben finden Eingang in die Werke der neuen Künstlergeneration und verleihen diesen eine neue, geradezu modern wirkende Lebendigkeit. Durch diese „Mittel des Expressiven“ werden nicht nur Körper und Gewänder in ihrer Form übersteigert, sondern auch die gesamte Umgebung wird davon erfasst. Eine extreme Steigerung der Bildwirkung erreicht beispielsweise Altdorfer in seinem Gemälde Geburt Christi (um 1511) durch den Einsatz der Farbe und die Gestaltung des Lichts, das auch in anderen Werken eine besondere Rolle spielt.

Schließlich thematisiert die exzellente Schau noch das Verhältnis von Künstlern und Auftraggebern. Dabei wird die Rolle der Auftraggeber von Kunstwerken des neuen Stil beleuchtet. Neue Herrscher, die den Thron im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation oder in Ungarn bestiegen hatten, setzten die Kunst verstärkt auch zu propagandistischen Zwecken ein. Aber auch selbstbewusste Bürger, die zu Wohlstand gekommen waren, ließen sich porträtieren – sei es in Tafelbildern, Zeichnungen oder in Porträtminiaturen in illustrierten Gebetbüchern.

Die neue Städel-Präsentation bietet einen umfassenden und frischen Blick auf das einzigartige Phänomen des Expressiven in der Kunst um 1500.

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Meister IP (ca. 1490 – tätig bis nach 1530), Johannesretabel, Mitteltafel mit der Taufe Christi, linker Flügel mit der Verkündigung und der Anbetung der Könige, rechter Flügel mit der Heimsuchung und der Enthauptung Johannes des Täufers, Predella mit der Geburt Christi, 1520-er Jahre, Reliefs: Birnbaumholz, holzsichtig gefasst mit Lasuren und Beizen, Schrein: Fichtenholz, farblich den Reliefs angepasst; Prag, Kostel Panny Marie pred Týnem/Pfarrkirche Unserer Lieben Frau auf dem Teyn; Foto: FeuilletonFrankfurt

Zur Ausstellung haben die Kuratoren Stefan Roller und Professor Jochen Sander einen umfangreichen Katalog herausgegebenen (288 Seiten, 34,90 Euro, Museumsausgabe). Gefördert wird die Sonderausstellung durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und die Sparkassen-Finanzgruppe. Zusätzliche Unterstützung erfährt sie durch die Art Mentor Foundation Lucerne.

“Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500″, Städel Museum, bis 8. Februar 2015

Bildnachweis: Städel Museum (4), FeuilletonFrankfurt (4)

→  “Fantastische Welten” im Städel: “Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500″ (1)

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