„La Sonnambula“ – Melodramma von Vincenzo Bellini an der Oper Frankfurt
Aminas Selbstverwirklichung
Von Renate Feyerbacher
Fotos: Barbara Aumüller/Oper Frankfurt und Renate Feyerbacher
mittig stehend Brenda Rae (Amina) und der Chor der Oper Frankfurt; Foto © Barbara Aumüller
Das Libretto nach Eugène Scribe und anderen Autoren, geschrieben von Felice Romani, einem der damals bedeutendsten Librettisten, ist trivial. Seine Sprache allerdings klar und verständlich. Die Geschichte von „La Sonnambula“ (Die Schlafwandlerin), die in der Schweiz spielt, hat einen realistischen Kern: Es gibt den Somnambulismus nicht nur bei Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren, sondern auch bei Erwachsenen. Schlafende wandeln umher ohne aufzuwachen und wissen später nichts von dem, was geschehen ist.
Im Melodramma des Sizilianers Vincenzo Bellini (1801-1835) verursacht der Schlafwandel des Waisenmädchens Amina, die kurz vor der Hochzeit mit Elvino steht, eine Verzwickung, die fast verhängnisvoll endet. Denn Amina wird schlafend im Zimmer des Grafen Rodolfo gefunden, der sie als Schlafwandlerin erkennt, sie aber nicht weckt, sie nicht anrührt und sie, da im Nachthemd, mit seinem Mantel zudeckt. Er entfernt sich. Lisa, Aminas Konkurrentin, hat das Geschehen mitbekommen und informiert das ganze Dorf, dessen Bewohner zuvor ein Hochlied auf Aminas Tugend gesungen hatten. Lisa kommt dieser Vorfall gerade recht, denn sie würde gerne Elvino heiraten. Sie selbst hatte zuvor mit Rodolfo intensiv geschmust und dabei ihr Halstuch zurückgelassen. Es kommt, was kommen musste. Elvino, der seiner geliebten Amina den Ring seiner Mutter als Zeichen der Treue gegeben hatte, sagt sich von ihr los und zerrt ihr den Ring vom Finger, obwohl Amina ihre Unschuld beteuert. Kurz hält der Liebesschmerz an, dann tröstet er sich über den Verlust mit Lisa hinweg, die er nun heiraten will. Graf Rodolfo, den die Dorfbewohner befragen, bestätigt Aminas Unschuld und Lisa wird das Halstuch zum Verhängnis.
Brenda Rae (Amina) und im Vordergrund der Chor der Oper Frankfurt; Foto © Barbara Aumüller
Trotz mässigem Libretto ist „La Sonnambula“, ein Meisterwerk des Belcanto. Bereits 1831 in Mailand uraufgeführt und vom Publikum mit Tränen der Rührung aufgenommen, steht es zum ersten Mal auf dem Spielplan der Oper Frankfurt.
Bellini, der sich wahrscheinlich in Sizilien eine Amöbeninfektion zugezogen hatte, starb in der Nähe von Paris, wo er ein Landhaus hatte. Ihm wurde im Invalidendom eine Totenfeier bereitet, die einem Staatsbegräbnis ähnelte. Zunächst wurde er auf dem berühmten Friedhof Père Lachaise beerdigt. Vierzig Jahre später wurden seine Gebeine in seine Heimatstadt Catania überführt, wo sie im Dom ruhen.
Bellini war der Belcanto-Komponist schlechthin. Nicht alle seine Werke waren bei der Uraufführung erfolgreich, oder sie fanden erst später die volle Akzeptanz. Dazu gehört „Norma“ (Mailänder Scala). Erst die grosse Sängerin Maria Malibran, die auch die Amina in „La Sonnambula“ sang, brachte in Neapel den Durchbruch für „Norma“, die dann die Opernbühnen weltweit eroberte. Die Norma-Interpretation der Maria Callas in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt zu den Höhepunkten des Belcanto.
Keinen Erfolg hingegen hatte Bellinis Oper „Beatrice di Tenda“, die zwei Jahre später in Venedig durchfiel. Es kam zum Zerwürfnis von Komponist und Librettist Romani. Wenige Monate vor seinem Tode indes wurde „Il Puritani“ (Die Puritaner), ein französisches Auftragswerk, in Paris begeistert aufgenommen. Wie die Totenfeier zeigt, war Bellini auch zu einem Liebling der Franzosen geworden.
Brenda Rae (Amina); Foto © Barbara Aumüller
Warum kommt „La sonnambula“ an?
Es ist in erster Linie der Gesang, der in seiner Dominanz das Publikum bannt. Die Musik hat begleitende Funktion. Sie ist geradezu einfach strukturiert und dennoch prätentiös und drückt die Stimmung der Figuren, ihr Leiden, ihre Angst, ihre Freude nuanciert aus. Die Bläser fallen besonders auf. Eine eigene musikalische Handschrift gelang dem Komponisten. Selbst Richard Wagner, kein Freund italienischer Opern, versicherte, dass er Bellini nicht hasse: „Nein, tausendmal! nein! Bellini ist eine meiner Vorlieben, denn seine Musik ist stark gefühlt und eng mit den Worten verschlungen“ (Programmheft).
Die junge koreanische Dirigentin Eun Sun Kim und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester kommen der Intention Bellinis feinfühlig nach. Mehr Brillianz des Orchesters, wie es eine Besucherin später reklamierte, wäre falsch gewesen. Der Gesangsstar des Abends, Brenda Rae als Amina, gelangte so zur vollen Entfaltung. Selbst beim Tutti gegen Ende war ihre Stimme zu hören.
Warum „La Sonnambula“ jetzt an der Oper Frankfurt?
Weil es eine Sängerin im Ensemble gibt, die diese Partie bewältigen kann: Brenda Rae. Die amerikanische Sopranistin, die seit sechs Jahren der Oper Frankfurt die Treue hält, begeisterte bereits als Olympia in „Hoffmanns Erzählungen“ und zuletzt als Zerbinetta in „Ariadne auf Naxos“. Sie ist an allen grossen deutschen Häusern (Berlin, Hamburg, München und im österreichischen Wien) gefragt, war bei den BBC Proms in London, beim Festival in Glyndebourne dabei und sang in der Carnegie Hall in New York. Welch ein Glück, dass Sie noch zum Ensemble gehört!
Brenda Rae; Foto: Renate Feyerbacher
Gleich von Anfang an meistert sie den stimmlichen Drahtseilakt bis in höchste Höhen ohne Anstrengung. Sie hält die Töne glockenklar. Ihre Triller scheinen endlos, ihre Pausen sind geschickt. Auch ihr Spiel ist psychologisch fulminant. Der frenetische Beifall des Publikums, der in Frankfurt fast immer üblich ist, erlebte bei Brenda Rae nochmals eine Steigerung: das Publikum tobte.
Ihr Zukünftiger, Elvino, gesungen von Stefan Pop, ist nicht ganz ein ebenbürtiger Partner. Der rumänische Sänger hat eine angenehme Mittellage, die geforderten Höhen erreicht er, strengen ihn aber an. Der Stimme fehlt der Belcanto-Schmelz. Auch ist seine Darstellung ein wenig hölzern.
Kihwan Sim singt den Rodolfo. Der mehrfach ausgezeichnete koreanische Bassist erreicht makellos die Tiefen der Partie. Er überzeugt in dieser Rolle, die zwiespältig ist: Rodolfo ist einerseits der intellektuelle, abgehobene Graf, andererseits hat er Züge eines Verführers.
Dirigentin Eun Sun Kim und Kiwahn Sim; Foto: Renate Feyerbacher
Lisa, Aminas Gegenspielerin, eröffnet das Geschehen mit dem Chor, der in Bellinis Melodramma eine wichtige Funktion übernimmt. Während der Chor mehrfach überschwänglich „Vivat Amina“ skandiert, steht Lisa missmutig und missgünstig beiseite und wehrt den sie liebenden Alessio (Vuyani Mlinde) ab. Catriona Smith, die sehr kurzfristig für die erkrankte Louise Alder einsprang, steigerte sich zunehmend. Eine bewundernswerte Leistung der weltweit agierenden Sängerin, die zum Stuttgarter Opernensemble gehört.
Wenig zu singen hat Frederika Brillembourg als Teresa, Aminas Ziehmutter. Die wenigen Takte, die Bellini für die Figur schrieb, obwohl sie ständig bühnenpräsent ist, lassen jedoch aufhorchen. Die Amerikanerin, die ihr Debüt an der Oper Frankfurt gibt, ist eine international vielgefragte Mezzosopranistin. Sie in einer grösseren Gesangspartie demnächst zu hören, das ist zu wünschen.
mittig sitzend Brenda Rae (Amina), dahinter stehend v.l.n.r. Stefan Pop (Elvino) und Fredrika Brillembourg (Teresa) sowie der Chor der Oper Frankfurt; Foto © Barbara Aumüller
Realität und Traum wechseln sich ab. Bühnenbildner Herbert Murauer hat dafür eine ideale Lösung gefunden: ein Podest, das sich bewegen lässt. Mal steht es schräg und ermöglicht den Zugang bis zur Bühnenrampe, mal fährt es hoch und wird zur zweiten Bühnenebene. Ansonsten eine leere Bühne, geschickt durch Olaf Winters Licht-Design verändert.
Vorzüglich der Chor. Die Dorfbewohner, in Daunenjacken gehüllt (Kostüme Stefan Hageneier), sind fast immer präsent – gelegentlich hinter einem bühnenfüllenden Gaze-Prospekt stehend. Tilman Michael, der neue Chordirektor, hat die Sängerinnen und Sänger zu Höchstleistung gebracht.
„La Sonnambula“ hat ein Happy End – sicher, aber Regisseurin Tina Lanik und ihr Regieteam interpretieren es illusionslos.
Wird Amina in der Ehe mit Elvino, der ihr nicht glaubte, der sie zurückwies, der sich mit Lisa verband, glücklich sein? Einen Tag nur habe die Liebe gehalten, resümiert Amina. Elvinos starke Mutterbindung, die der Ring symbolisiert, sein auf Äusserlichkeiten, auf Reichtum konzentriertes Gehabe, stimmen skeptisch. Amina als Besitzzuwachs? Er lässt den Notar (Simon Bode) aufzählen, was er an Besitz in die Ehe einbringen wird. Die befragte Amina hat dagegen nur ihr liebendes Herz einzubringen. Emotionale Hingabe wird von ihr gesellschaftlich erwartet. Sie funktioniert wie eine Puppe. Brenda Rae setzt das in ihrer Spielweise sehr deutlich um. Sie ist unterwürfig, wirkt oft verlegen, schüchtern. Das war vor dem verhängnisvollen Schlafwandeln.
im Vordergrund stehend v.l.n.r. Catriona Smith (Lisa), Fredrika Brillembourg (Teresa), Vuyani Mlinde (Alessio) und Kihwan Sim (Rodolfo) sowie im Hintergrund der Chor der Oper Frankfurt; Foto © Barbara Aumüller
„Was will ich wirklich?“ Diese Frage stellt sich ihr unweigerlich nach dem Debakel, als die Dorfbewohner in Rodolfos Zimmer um sie herum stehen und sich über ihre vermeintliche Untreue entsetzen. Aminas Emanzipation, ihre Selbstverwirklichung beginnt.
Elvino und Amina liegen sich am Ende nicht in den Armen, schauen sich noch nicht einmal an. Amina umarmt Rodolfo, der ihr den Anstoss zur Emazipation gibt. Die Schlussszene ist ernüchternd. Tina Lanik und ihrem szenischen Mitarbeiter Hans Walter Richter ist eine verhalten-emotionale Inszenierung, ohne Liebes-Plüsch im 1. Akt, gelungen. Tina Lanik, die wenige Wochen vor der Premiere vorzeitig Mutter wurde, hat ihre Tochter Amina genannt.
Weitere Vorstellungen am 11., 14., 20. und 26. Dezember sowie am 3., 8., 11. und 17. Januar 2015, jeweils um 19.30 Uhr.
→ Kulturpreis der Ingrid zu Solms-Stiftung an die Dirigentin
Eun Sun Kim