„Fantastische Welten“ im Städel: „Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500“ (1)
Die „jungen Wilden“ um 1500 mit der Lizenz zum Experimentieren
Von Hans-Bernd Heier
Die herannahende Reformation hatte den Künstlern um 1500 insbesondere bei religiösen Darstellungen völlig neue Gestaltungsfreiräume eröffnet, die sich jedoch schon eine Generation später wieder schließen sollten. Die Künstler hatten für drei Jahrzehnte eine „Lizenz zum Experimentieren“, so Ko-Kurator Professor Jochen Sander, stellvertretender Direktor des Städel. Nach der Reformation verzichtete die protestantische Seite auf bestimmte Bilder gänzlich, während die katholische Kirche wieder verstärkt auf ikonografischer Gestaltung bestand.
Albrecht Altdorfer, „Die Anbetung der Könige“, 1530/35, Lindenholz, 110 x 77,5 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main; Foto: Städel Museum – U. Edelmann – ARTOTHEK
Das Städel Museum beleuchtet diese Phase der wesentlichen Neuerungen in der Kunst im Europa des frühen 16. Jahrhunderts in der hervorragenden Schau „Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500“. Bei dieser Präsentation handelt es sich um ein gemeinsames Projekt von Städel, Liebieghaus Skulpturensammlung und des Kunsthistorischen Museums Wien, wo die Werke anschließend zu sehen sind. Auch das „Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“ an der Universität Leipzig war in die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung einbezogen.
Niederbayerischer (?) Bildschnitzer, „Heiliger Abt“, zwischen 1520 und 1530, Lindenholz, ohne Fassung, 132 x 47 x 39 cm; Liebieghaus Skulpturensammlung; Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK
Die Arbeiten der Künstler jener Zeit kommen sehr ausdrucksstark und unkonventionell daher, ja wirken überraschend modern. Anhand von 120 Exponaten wird anschaulich, wie die Künstlergeneration zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Gattungen Landschafts- und Historienbild sowie Porträt neu formuliert. Fernab von einer naturgetreuen Wiedergabe entsteht ein neuartiges, expressives Zusammenspiel von Farben, Licht und Formen – und das in allen Gattungen: Malerei, Skulptur, Druckgrafik, Zeichnung und Buchmalerei. „Erstmalig wird in dieser Ausstellung auch die Rolle der Skulptur als gleichberechtigter Motor der künstlerischen Entwicklung des Expressiven in der Kunst aufgezeigt“, schreibt Direktor Max Hollein im Vorwort des profunden Katalogs. Aufgrund der neuen, expressiv aufgeladenen künstlerischen Bild- und Stilsprache bezeichnet Sponsor Georg Fahrenschon, Präsident der Sparkassen-Finanzgruppe, die Künstler als „junge Wilde“, deren Kunst ihren „Ausgangspunkt beim Nürnberger Universalgenie Albrecht Dürer fand“.
Wolf Huber, „Große Landschaft mit Golgatha“, um 1530, Feder in Braun, Wasser- und Deckfarben, 32,7 x 44,5 cm, Graphische Sammlung der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg; Foto: Graphische Sammlung der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg
Mit „Fantastischen Welten“ setzt das Städel den Ausstellungsreigen zur Kunst der Frühen Neuzeit fort. Die Schau, die mit markanten Spitzenwerken glänzt, knüpft an die großartigen Präsentationen der Werke Albrecht Dürers und Lucas Cranachs d. Ä. an, die auf größtes Publikumsinteresse stießen.
Meister IP (tätig bis nach 1520), Epitaph-Retabel, nach 1526, Lindenholz, heute ungefasst, mit Resten des Kreidegrunds einer späteren Fassung, Mitteltafel: Christus als Erlöser vom Tod, 100 x 97 cm, Nationalgalerie Prag; Foto: Nationalgalerie Prag
Arbeiten von Albrecht Altdorfer (um 1480-1538), Wolf Huber (um 1485-1553), dem bis heute nicht mit Sicherheit identifizierten Passauer Bildschnitzer Meister IP (tätig bis nach 1520) und Hans Leinberger (dokumentiert in Landshut, 1510-1530) stehen im Mittelpunkt der Frankfurter Schau, die das Phänomen des „Expressiven“ aufspürt, das für die Künstler der sogenannten „Donauschule“ zentral ist. Die Werke Altdorfers, Hubers, Leinbergers und des anonymen Meisters IP werden hierfür gezielt mit Arbeiten von Zeitgenossen wie Lucas Cranach d. Ä. (1472-1553), Hans Leu (um 1490-1531) oder Albrecht Dürer (1471-1528) konfrontiert. „Dürer war in vielerlei Hinsicht Bezugspunkt, gleichzeitig auch produktive Reibungsfläche, für jene Künstler, deren Schaffen im Mittelpunkt der Schau steht und die seit rund 120 Jahren unter dem ebenso unklaren wie umstrittenen Begriff des ‚Donaustils‘ oder der ‚Donauschule‘ zusammengefasst werden“, so Hollein. Wolf Huber verwendete in einige Arbeiten gar Dürers Markenzeichen „AD“.
Georg Lemberger „Sündenfall und Erlösung“, 1535, Lindenholz, 66, x 80,3 cm, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg; Foto: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Da die beiden bekanntesten Protagonisten dieser innovativen Stilepoche, der Maler Albrecht Altdorfer und der Bildhauer Hans Leinberger, ebenso wie Wolf Huber oder der Meister IP in der Donauregion zwischen Regensburg und Wien tätig waren, hat die ältere Forschung für ihr Schaffen den Begriff der „Donauschule“ geprägt. „Von Anfang an nationalistisch aufgeladen, später von den Nationalsozialisten ideologisch missbraucht, ist dieser Begriff heute – wenn überhaupt – nur mit Vorbehalt zu verwenden“, erläutert Ko-Kurator Stefan Roller von der Liebieghaus Skulpturensammlung. Deswegen verzichteten die Ausstellungsmacher bewusst auf diesen Stilbegriff im Ausstellungstitel. Zumal es sich beim „Donaustil“ nicht um eine Schule im gewöhnlichen Sinne, sondern um einen Mal- und Bildhauerstil handelt, der im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts nicht nur bei Künstlern des Donauraums sehr verbreitet war.
Hans Leinberger, „Maria mit Kind“, ca. 1515/20, Bronze, Hohlguss, 45,5 x 21 x 16 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Berlin; Foto: bpk / Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Staatliche Medien zu Berlin / Antje Voigt
Die radikalen künstlerischen Neuerungen, die für die Werke dieser Künstlergeneration charakteristisch sind, finden sich in vergleichbarer Form auch im übrigen Europa – beispielsweise in Norddeutschland und den Niederlanden sowie in Nordostfrankreich, am Oberrhein und in der Schweiz, in Norditalien, Österreich, Böhmen und Polen. So zeigt die Städel-Schau neben den Arbeiten der tatsächlich im Donauraum tätigen Maler und Bildhauer auch ganz bewusst Gemälde, Plastiken und Grafiken von Künstlern, die keinen Bezug zu dieser Region haben, die aber dennoch eine gänzlich vergleichbare Bild- und Formensprache kennzeichnet. Für den Geschäftsführer des Kulturfonds Frankfurt RheinMain, Helmut Müller, „ist es das besondere Verdienst dieser Ausstellung, dass sie diese Phänomene aus einer europäischen Perspektive betrachtet“. Die Präsentation, die bis zum 8. Februar 2015 in Frankfurt gezeigt wird, führt den expressiven neuen Stil in einer medialen und thematischen Vielfalt vor Augen, wie dies zuvor noch nie gezeigt wurde.
Albrecht Altdorfer, „Kreuzigung Christi“, um 1518/20, Lindenholz, 75 x 57,5 cm, Museum of Fine Arts, Budapest; Foto: Museum of Fine Arts, Budapest
Zahlreiche Gemälde und Grafiken der Städelschen Sammlung sowie skulpturale Exponate der Liebieghaus Skulpturensammlung sind in „Fantastische Welten“ zu bewundern. Ergänzt werden die dort versammelten Exponate durch Schlüsselwerke des Kunsthistorischen Museums Wien, der Alten Pinakothek und des Bayerischen Nationalmuseums in München, der Prager Nationalgalerie, der Skulpturensammlung und der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, der Graphischen Sammlung der Universitätsbibliothek Erlangen, des Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid oder des Szépművészeti Múzeums in Budapest. Außerdem konnten zahlreiche Leihgaben aus kirchlichem Besitz für die Ausstellung gewonnen werden, wie etwa das Johannesretabel aus der Prager Teynkirche (1520er-Jahre) oder Gemälde aus dem Augustiner-Chorherrenstift St. Florian in Linz.
Wolf Huber „Gefangennahme Christi“, nach 1522, Lindenholz, 60,5 x 66,8 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen/ Alte Pinakothek, München; Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen/ Alte Pinakothek, München
Professor Jochen Sander, Stellvertretender Direktor des Städel Museums, und Stefan Roller, Wissenschaftlicher Betreuer „Mittelalter“ der Liebieghaus Skulpturensammlung, in der Pressekonferenz; Fotos: FeuilletonFrankfurt
„Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500“, Städel Museum, bis 8. Februar 2015
Bildnachweis: Städel Museum (8), FeuilletonFrankfurt (1)
→ “Fantastische Welten” im Städel: “Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500″ (2)