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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Gräber, Kunst und Sterne

Von Suse Rabel-Harbering

Ob Museen oder Schlösser, ob Kathedralen oder stillgelegte Kohlebergwerke – in Nordfrankreich gibt es viel zu bewundern und die Wege der Erinnerung führen zu außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten, die man auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad erkunden kann

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Werner Gladines, Klatschmohn

Bei der Ankunft in Lens sorgt der Bahnhof für die erste Überraschung. Das lang gezogene Gebäude im Art-Deco-Stil mit seinem Uhrturm an der Spitze gleicht von außen betrachtet einer Lokomotive. Keine hypermoderne Hochgeschwindigkeitslokomotive, sondern eine gute, alte Dampflok. Dennoch sei an dieser Stelle erwähnt, dass der TGV von Paris nach Lens ungefähr eine Stunde braucht.

Von hier aus führt ein anmutiger Fußweg (Gehzeit 20 Minuten) zum Louvre-Lens, die im Jahr 2012 eröffneten Dependance des Louvre in Paris. Für diejenigen, die es eilig haben, verkehren alle 25 Minuten Pendelbusse.

Wenngleich man den Eindruck gewinnen könnte, dem Bauherren sei bei der Gestaltung der Außenanlage das Geld ausgegangen, erkennt man doch ein subtiles Zusammenspiel zwischen der naturbelassenen Vegetation, die sich nach der Stilllegung der ehemaligen Zeche dort ausgebreitet hat, und der puristisch anmutenden jungen Bepflanzung, was insgesamt die Leichtigkeit des neuen Museums Louvre Lens unterstreicht. Es ist als schwebten transparente Schmetterlinge über das Terrain. Die flachen Gebäudeflügel bestehen hauptsächlich aus Aluminium und Glas. Sie fügen sich in ihrer minimalistischen Schlichtheit in die unprätentiöse Landschaft. Auch das Archiv im Untergeschoss und die Ateliers, in denen Gemälde restauriert werden, sind durch eine Glaswand getrennt und bieten somit dem Besucher die Möglichkeit, den Restaurateuren bei der Arbeit zuzusehen.

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Museum Louvre-Lens, Foto: Tourismusverband CRT- Nord-Pas de Calais, © Hisao Suzuki

Im Gegensatz zu anderen Museen besitzt der Louvre-Lens keine eigene Sammlung. Gezeigt werden Leihgaben aus dem Louvre in Paris. Dabei handelt es sich um Kunstwerke aus verschiedenen Kulturkreisen, die jedoch im selben geschichtlichen Zeitraum entstanden sind. Sie werden in der „Galerie du Temps“ auf einer einzigen Ausstellungsfläche in direkter Nachbarschaft präsentiert: Steintafeln mit eingravierten Menschen und Tieren, Steintafeln mit ersten Schriftzeichen, Skulpturen aus Bronze, Statuen aus Marmor, Mosaike und Ölgemälde. Vom vierten Jahrtausend vor Christus bis ins Neunzehnte Jahrhunderte erstreckt sich die Zeitspanne.

Schüler aller Altersstufen wuseln mit Fragebögen durch das Museum und versuchen eifrig, die ihnen gestellten Aufgaben zu lösen. Dabei sollen sie die Kunstwerke in die erfragte Epoche eintragen, dann wiederum gilt es entsprechende Kulturkreise miteinander zu vergleichen – gelebter Kunstunterricht, wie er spannender und anschaulicher nicht sein könnte. Die Jugendlichen sind bei der Sache.

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↑ Galerie du Temps, Louvre-Lens, Foto: Tourismusverband CRT- Nord-Pas de Calais
↓ Galerie du Temps, Louvre-Lens, Foto: Tourismusverband CRT- Nord-Pas de Calais, © Philippe Chancel

Galerie du Temps (c) Philippe Chancel-600

Lens liegt im Zentrum des Kohlebeckens von Nord-Pas de Calais, das 2012 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben wurde. Besonders der nördliche Teil der Stadt ist geprägt von den Überresten des einstigen Kohlebergbaus. Fördertürme und Gleisanlagen für den Abtransport der Kohle, Teile der ehemaligen Arbeitersiedlungen aus rotem Backstein und Wohnhäuser für höhere Angestellte im Chaletstil mit Holzveranden sind restauriert und dokumentieren somit den Charakter der ehemaligen Bergbaustadt. Weitere Zeichen dieser industriellen Epoche sind die beiden zu Pyramiden aufgeschichteten Abraumhalden von Loos-en-Gohelle. Eine davon ist begehbar, das heißt, man kann in einer guten Stunde deren Gipfel erklimmen und die eigenwillige Flora und Fauna bewundern. Die andere steht unter Naturschutz. Die Förderung der Kohle wurde in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eingestellt, was zu einem wirtschaftlichen Niedergang des ohnehin strukturschwachen Gebietes führte und bis heute anhält.

Ebenfalls eine Auszeichnung, nämlich zwei Sterne im Guide Michelin, erwarb Marc Meurin mit seinen Kochkünsten auf Schloss Beaulieu in Busnes in der Nähe von Lille. Es ist das einzige mit Sternen gekrönte Restaurant nördlich von Paris. Seit Frühjahr verwöhnt er nun mit herrlichen Speisen Besucher und Gäste in einem Glaspavillon im Garten des Louvre-Lens.

Die Stadt entpuppt sich mit seinem neuen Museum und mit seiner industriellen Vergangenheit als ein Schauplatz aufblühender und untergehender Kulturen. Von Untergang und Zerstörung zeugen viele Denkmäler und Erinnerungsstätten, die man in der näheren Umgebung findet, denn hier wurde im vergangenen Jahrhundert so manche Schlacht geschlagen. Ein internationales Aufgebot von Truppen und Heeren kämpfte bereits während des Ersten Weltkriegs, der sich heuer zum hundertsten Mal jährt.

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↑ Vimy, Mémorial National du Canada, Foto: Suse Rabel-Harbering
↓ Klatschmohn am Mémorial National du Canada, Foto: Suse Rabel-Harbering

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Restaurierter Graben, Vimy, Foto: Suse Rabel-Harbering

Einer der Wege der Erinnerung führt uns nach Vimy, die große kanadische Gedenkstätte. Dort begleitet uns eine Studentin zu restaurierten Kratern und Gräben und erläutert den siegreichen Angriff der kanadischen Truppen im Frühjahr 1917 gegen die deutschen Stellungen, bei dem es ersteren gelang, den Bergkamm von Vimy einzunehmen. Nun sind die Namen der Opfer in einen zum Himmel emporstrebenden Marmorblock eingraviert, dessen Sockel roter Klatschmohn schmückt. Er gilt als Friedenssymbol für Kriegsopfer aus dem Commonwealth. Auf den Wiesen weiden Schafe, Wolken so weiß wie die Marmorstatue ziehen vorüber und und ganz in der Ferne tauchen die Pyramiden von Loos-en-Gohelle auf.

Bei St. Vaast liegt der größte deutsche Soldatenfriedhof „La Maison Blanche“. Angesichts der Monstrosität des Ersten Weltkrieges sind wir beeindruckt von der Schlichtheit der Anlage. Dem Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge, der entsprechend des Versailler Friedensvertrages mit der Einrichtung und Pflege betraut wurde, ging es um die Einbindung des Friedhofs in die Umgebung und auch darum, dass er als Mahnmal gegen den Krieg wahrgenommen würde.

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Deutscher Friedhof, Neuville St. Vaast, Foto: Tourismusverband CRT-Nord-Pas de Calais

Nicht das individuelle Grab wird hervorgehoben, allein das metallene Kreuz oder die Stele aus Naturstein mit dem Davidstern, beide versehen mit Namen, militärischem Rang sowie Geburts- und Todestag, verweisen auf die Verstorbenen. Ohne Blumen, Hecken oder Sträucher kommt der Friedhof aus, der alte Baumbestand ist Schmuck genug. Es ist ein melancholischer Ort und die Schatten der scheinbar unendlichen Kreuze beginnen im Lichte der Septembersonne zu tanzen. Nur wenige Besucher verirren sich hier her.

Unsere melancholische Stimmung ist durch den eineinhalbstündigen Fußmarsch über Ablain Saint-Nazaire nach Notre-Dame de Lorette, eine der größten Erinnerungsstätten Frankreichs an den Ersten Weltkrieg, verflogen. Hier oben weht die Trikolore. Veteranen, die Friedhof samt Beinhäuser bewachen, geben bereitwillig in teils gutem Deutsch Auskunft über die Anzahl der hier begrabenen Soldaten, die für Frankreich gestorben sind. „Mort pour la France“ steht auf jedem Kreuz und jeder Stele unter dem Namen des Verstorbenen. Während wir durch die schnurgeraden Gräberreihen spazieren, drängen die Veteranen zum Aufbruch. Es ist Feierabend.

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Mémorial International, Ablain Saint-Nazaire, Foto: Tourismusverband CRT-Nord-Pas de Calais (Philippe Prost Architectes)

Doch lassen wir uns den Ausblick über den südwestlichen Abhang des Plateaux nicht nehmen. Wenngleich er zum Teil noch von Bauzäunen verdeckt wird, erkennen wir ein weiteres Denkmal. Es ist das „Mémorial International“, das im November eingeweiht wurde. Es besteht aus einem riesigen Ring aus Metall mit einem Durchmesser von 345 Metern. 580.000 Namen von Soldaten, die während des Ersten Weltkrieges in Nord-Pas de Calais starben, werden eingraviert, und zwar ohne militärischen Rang und ohne nationale Zugehörigkeit, einfach in alphabetischer Reihenfolge. 100 Jahre hat es gedauert, bis sich der Kreis schließt zu einem Mahnmal, das Gedenken ohne Selektion und nationale Zugehörigkeit erlaubt. Ein gutes Zeichen für den Frieden und der von Fragilität bedrohten Einheit in Europa?

 

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