„Everything is Inside“: Subodh Gupta im MMK
Gesellschaft und Individuum, Armut und Reichtum, Essen und Trinken – und „heilige“ Kühe
Subodh Gupta vor seiner Installation „This is not a Fountain“, 2011-2013
Indien: über 1,2 Milliarden Einwohner. Ein Land krasser Gegensätze. Von Überschwemmungen wie Dürren heimgesucht. Bitterste Armut auf der einen Seite und auf der anderen die meisten Super-Milliardäre weltweit – letzteres noch vor den USA, Russland und China. Über 40 Prozent der Menschen „verdienen“ – welch Zynismus liegt in diesem Wort – weniger als einen Dollar am Tag. Über ein Viertel der Bevölkerung ist zu arm, um sich auch nur einigermassen ernähren zu können. Die Kindersterblichkeit ist hoch, die sogenannte Schuldknechtschaft an der Tagesordnung. Das Kastenwesen verweist weit über ein Zehntel der Bevölkerung in den Status der „Unberührbarkeit“. Trotz aller modernen Gesetzgebung schlimm bis auf den heutigen Tag: die Situation der Frau. Gruppen- und Massenvergewaltigungen in Indien machten gerade wieder in jüngerer Vergangenheit wiederholt Schlagzeilen und empörten die Weltöffentlichkeit. Dies alles sollten Sie sich in Erinnerung rufen, liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie diese Ausstellung besuchen – aber letzteres sollten Sie unbedingt tun.
This is not a Fountain, 2011-2013, Detail- und Gesamtansicht
In der zentralen Eingangshalle empfängt den Besucher eine Grossinstallation mit Aberhunderten von mehr oder weniger verbeulten und „vergammelten“ Töpfen, Tiegeln, Schüsseln, Tellern und Kannen, übersät von Löchern und Korrosion. Wir Älteren hatten noch das – aus heutiger Sicht – Glück, derartige Gegenstände im zerbombten Nachkriegsdeutschland zu handhaben – Kesselflicker zogen (wie Scherenschleifer, Schrotthändler und Lumpensammler) im Wochenturnus durch die Strassen und löteten die sich immer wieder aufs Neue auftuenden Risse und Löcher im schäbigen Zeug. Wasser rinnt vielfach, sinnbildlich den Korrosionsprozess beschleunigend, aber auch als unverzichtbares Lebenselixier aus ungelenk gebogenen, primitiven Hähnen auf den Blechberg im MMK. „This is not a Fountain“ betitelt Gupka diese Arbeit. Kunstwissenschaftler horchen natürlich bei „Fountain“ sofort auf – nannte doch einst Marcel Duchamp sein skandalumwobenes, auf dem Rücken liegendes Pissoir bereits „Fountain“. Readymade hin, Zitat her – das soll uns hier nicht weiter beschäftigen.
Dann aber das: nagelneue, aufs Feinste geputzte und polierte Töpfe und Essensbehältnisse aus Edelstahl, zu Türmen aufeinandergestapelt, sogenannte Tiffin Dabbas, manche umgeben von ebenso blanken langstieligen Löffeln. Sie ziehen auf einer Endlosschleife (Sushi-Bändern) in stetiger, ja penetranter Wiederkehr am Betrachter vorbei. An was anderes könnten diese Gebilde auf den ersten Blick erinnern als an grossstädtische glitzernde Skylines und Wolkenkratzerschluchten, an das also, was wir geneigt sind für Fortschritt und das Non plus ultra zu halten?
Faith Matters, 2010, Detail- und Gesamtansicht mit der zur Schau gestellten Antriebsmaschinerie
Massenprodukte sind sie allesamt: die einen – elenden, verbeulten – in ihrer von Gebrauch und Geschichtlichkeit geprägten Individualität, die anderen – neuen, hochglanzpolierten – in gesichtslosem Gleichmass einer modernen Massengesellschaft.
Über allem im Treppenaufgang ein riesiges Memento mori: auch der Totenschädel besteht aus neuem wie gebrauchtem Blech- und Stahlgeschirr. Hat jemand Angst, unter dem Ungeheuer die Stufen hinaufzusteigen?
Mind Shut Down, 2008
Was wäre Indien ohne seine – „heiligen“ – Kühe? Deren grosse Zeit ist im Indien von heute zwar vorbei, dennoch leben Presseberichten zufolge immer noch rund 40.000 frei umherlaufende Kühe allein in Neu-Delhi. Schon in den ältesten Hindu-Schriften werden Kühe als heilig erwähnt. Dennoch werden heute Hunderttausende – in den meisten Bundesstaaten illegal – geschlachtet, ihr Fleisch verzehrt oder exportiert, ihre Haut zu Leder gegerbt. Profitdenken verdrängt Religion. Dort, wo sie in Indien noch als „Mutter“ der Menschen und als heilig verehrt werden, wird beispielsweise ihr Dung als wichtiges Brennmaterial, gerade auch zur Essenszubereitung, wegen seiner insektiziden und desinfizierenden Wirkung als medizinisches und als Reinigungsmittel verwendet. Wiedersprüchlich wie der ganze, sich in einem gewaltigen Transformationsprozess befindende, riesige Subkontinent.
Humorvoll-ironisch Guptas Installation „Two Cows“: Zwei in Messingfarbe verfremdete Fahrräder sind mit Milchkannen umhängt. Für das Gemälde „Gauri 1“ verwendet Gupta neben gebräuchlichen Malmitteln auch schlicht Kuh-Kot.
↑ Two Cows, 2003-2008
↓ Subodh Gupta mit „Gauri 1“, 2000, u. a. mit echtem Kuh-Kot gemalt
Eine eigenwillige und doch leicht rezipierbare Arbeit ist „All in the Same Boat“, ein vorgefundener alter Kahn ist bis an den Rand mit wiederum altem Blechgeschirr gefüllt. Das Werk rekurriert auf die Flutkatastrophen in Südindien der Jahre 2012/2013. Die ständig kreisenden Ventilatoren, die das Boot – allerdings vergeblich – hochzuheben scheinen, verstehen sich als bissig-ironischer Kommentar zur Ineffizienz und Unfähigkeit indischer Bürokratie. Ebenso bissig-ironisch die Installation „Date by Date“: ein Verwaltungsbüro in Indien, teils mit originalem altmodischen Behördenmobiliar, uralten Schreibmaschinen und Ventilatoren bestückt, mit Bergen von Akten, zum Teil in Tüchern verpackt, auf Tischen und Pulten steht oft das in einem Stoffbeutel bewahrte Essgeschirr. Ein Ort des bürokratischen Stillstands.
↑ All in the Same Boat (2012 – 2013)
↓ Date by Date, 2008, Installationsansicht, MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, Foto: Axel Schneider © MMK
MMK-Direktorin Susanne Gaensheimer (rechts) und Anna Goetz, Kuratorische Assistentin im MMK, vor „All in the Same Boat“
Die Rauminstallation „Tracing Khichdi“ – „Khichdi“ ist ein einfaches indisches Reisgericht, das traditionell an Samstagen gekocht wird – wird von einer Wandtapete beherrscht mit Hunderten von mit Speisen gefüllten oder mehr oder weniger abgegessenen Tellern. Gupta hat sie in den zurückliegenden Jahren fotografiert oder fotorealistisch gemalt und zu besagter Tapete komponiert. „Kochen und Essen als Manifestation einer kulturellen Alltagspraxis, aber auch als Sinnbild für Essentialität und Existenz“ (MMK). Einmal monatlich findet in dem Raum eine Kochperformance statt, die nächsten an den Samstagen 6. Dezember 2014 und 17. Januar 2015.
Susanne Gaensheimer, Subodh Gupta und Anna Goetz in der Rauminstallation „Tracing Khichdi“ aus dem Jahr 2014
Zum Schluss ein Blick auf eine essentielle, performativ-skulpturale Arbeit des Künstlers „Pure (I)“: Die Besucher können – ohne Schuhe – einen speziell bearbeiteten Lehmboden betreten, in den eine Reihe von Vertiefungen eingegraben sind. In ihnen befinden sich Gebrauchsgegenstände von besonderer Bedeutung, die Dorfbewohner dem Künstler aus ihrem persönlichen Hausstand „anvertraut“ hatten. Es handelt sich um die Reinszenierung einer frühen Arbeit, in der Gupta begann, sich mit Alltagsgegenständen als „Repräsentanten kulturspezifischer Phänomene“ zu beschäftigen.
Subodh Gupta, Pure (I), 2014, Installationsansicht MMK Museum für Moderne Kunst, Foto: Axel Schneider © MMK
Subodh Gupta, 1964 in Khagaul/Indien geboren, lebt und arbeitet in Neu-Delhi. Er studierte am College of Art in Patna Malerei, bevorzugt jedoch die künstlerischen Medien Skulptur, Fotografie, Video und Performance und vor allem Installation. In seinen Arbeiten thematisiert er die von religiösen und spirituellen Traditionen geprägten gesellschaftlichen und ökonomischen Umstände und Lebensgewohnheiten seines Heimatlandes in der ständigen Auseinandersetzung mit dessen Modernisierungsbestrebungen und seinen dynamischen wirtschaftlichen Entwicklungen in einer „globalisierten“ Welt.
„Subodh Gupta ist einer der signifikantesten Künstler in Indien“, sagt MMK Direktorin Susanne Gaensheimer. „Er zeichnet ein vielschichtiges Bild dieses Landes, indem er das dortige Leben mit Bezügen zur indischen Vergangenheit und zur internationalen Moderne einfängt. Er zeigt uns eine Alltagsrealität, die auf der einen Seite durch Prozesse der Globalisierung und Modernisierung und auf der anderen Seite von Tradition und Religion geprägt ist. Im Zentrum seiner Arbeit stehen Fragestellungen, die das Lokale in einen globalen Kontext setzen und universale Werte und Symbole in den Blick nehmen“.
Gupta zählt im internationalen Kunstbetrieb zu den derzeit gefragtesten Künstlern weltweit. Das MMK 1 in seinem Stammhaus an der Domstrasse zeigt jetzt mit „Everything is Inside“ die bislang umfassendste Ausstellung seines Werkes in Europa.
Subodh Gupta. Everything is Inside; MMK 1, bis 1. Februar 2015
Fotos: FeuilletonFrankfurt (11) und MMK Frankfurt (2)