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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Hänsel und Gretel“ – Märchenspiel von Engelbert Humperdinck an der Oper Frankfurt

Fantasievolle Kinderoper –
tiefgründiges Erwachsenenstück

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus /Oper Frankfurt und Renate Feyerbacher

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im Vordergrund Katharina Magiera (Hänsel)  und Louise Alder (Gretel), dahinter Elizabeth Reiter (Sandmännchen)  sowie im Fenster stehend Heidi Melton (Mutter) und Alejandro Marco-Buhrmester (Vater), Foto © Monika Rittershaus

Das Vorspiel, „eine Art symphonischer Prolog“, das viele Leitmotive des Märchenspiels, das am 12. Oktober 2014 Premiere hatte, anklingen lässt, wird auf der Bühne visualisiert durch eine Guckkasten-Puppenbühne, auf der Kleinst-Marionetten das Märchengeschehen zusammenraffen. Grosse Marionetten sind auch später immer wieder dabei. Die Hexe – männlich besetzt, was Humperdinck nicht wollte – posiert schon mal in Lackleder gekleidet. Vor dem Puppentheater sitzen Kinder, die nachher im geräumigen, spitzgiebeligen Raum in den Betten liegen – Waisenhausatmosphäre.

Hänsel und Gretel sind ausgelassen, toben, tanzen, singen, necken sich, haben keine Lust, die Arbeit zu erledigen, die sie tun sollen. Sie haben Hunger. Hänsel: „Seit Wochen nichts als trocken Brot; ist das ein Elend! Potz schwere Not!“ Dann ist die Mutter, die Gertrud, da und poltert sogleich und schimpft, der Topf mit Milch geht dabei entzwei, es gibt keinen Reisbrei. „Herrgott wirf Geld herab!“ Eine beängstigende Kälte strahlt die Mutter aus, die wie eine Aufseherin im Bettensaal wirkt. Sie schickt die Kinder in den Wald, um Beeren zu sammeln. Sie selbst setzt sich hin und nimmt einen Schluck aus der Flasche.

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Heidi Melton (Mutter) und Alejandro Marco-Buhrmester (Vater) , Foto © Monika Rittershaus

Der Vater singt auch vom Hunger: „Hunger ist der beste Koch! Ja, ihr Reichen könnt euch laben, wir die nichts zu essen haben, nagen ach, die ganze Woch, sieben Tag an einem Knoch!“ Bevor er von seinem guten Geschäft erzählen kann, schilt ihn seine Frau und vermutet Wirtshaus-Zeitvertreib. Doch ihr Mann hat massenweise seine Besen und Bürsten verkauft und präsentiert seiner Frau nun, was er alles mitbringt, unter anderem vierzehn Eier. Die Zahl begegnet bei den vierzehn Engeln erneut. Als der Vater erfährt, dass die Mutter die Kinder in den Wald schickte, macht er ihr Angst in der Arie „Der Besen, der Besen, was macht man damit? Es reiten darauf die Hexen … Doch übelgesinnt ergreift sie geschwind das arme Kuchen knuspernde Kind in den Ofen, hitzhell, schiebt’s die Hexe blitzschnell.“ Heraus aus dem Ofen kommen Lebkuchenkinder. Eine grausige Vorstellung.

Den sozialen Aspekt vertieft der englische Regisseur Keith Warner, der in Frankfurt regelmässig inszeniert (zuletzt „Falstaff“): „Armut ist furchtbar … Deshalb zielte ich auf eine Umgebung ab, in der die Armut aus sich selbst heraus spricht … Hunger ist auch Hunger nach Leben“ (zitiert nach Programmheft).

Die Realität des 1. Bildes geht über in märchenhafte Magie, in Fantasie und in Vorstellungskraft, die auf den Sichtweisen von Siegmund Freud und Bruno Bettelheim beruhen.

Wie bekannt, verirrt sich das Geschwisterpaar im Wald und das Sandmännchen singt sie in den Schlaf. Nicht auf dem Waldboden liegen die beiden, sondern in getrennten Betten, schlüpfen mit einem Märchenbuch unter die Bettdecke, während Traumfiguren hinter einer als Schlüsselloch stilisierten Öffnung vorbeiziehen. Mit dabei sind Rotkäppchen, ein Nussknacker, die Puppe Olympia („Hoffmanns Erzählungen“), seltsame Tiere und drei Kinder-Walküren. Ein Tribut an Richard Wagner, dessen Assistent Engelbert Humperdinck (1854-1921) zwei Jahre lang war.

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Louise Alder (Gretel), Katharina Magiera (Hänsel) sowie auf der oberen Etage stehend Peter Marsh (Die Knusperhexe), Foto © Monika Rittershaus

Nicht vergessen haben Hänsel und Gretel den Abendsegen zu beten „Abends will ich schlafen gehn, vierzehn Engel um mich stehn …“ Von einer Himmelstreppe hinab steigen vierzehn Gestalten alias historische Persönlichkeiten. Neben den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm, Freud und Bettelheim sind es auch solche, die sich direkt für das Wohl der Kinder einsetzten: der polnische Arzt Janus Korczak (1878-1942), der die Waisenkinder auf der Deportation nach Treblinka begleitete, und die Schriftsteller Charles Dickens und Astrid Lindgren. Eine Szene mit starkem Symbolcharakter, aber sehr bildungsbelastet.

Dennoch fehlt der Angst einflössende Wald, dem ein prickelnder Märchen-Zauber innewohnt. Allzu beschützt sind die Kinder in ihren bequemen Betten.

Dann schiebt sich im 3. Bild in den Giebel-Raum das Hexenhaus, das aussieht wie ein einfaches Reihenhaus, auf dessen Dach einige Lebkuchen liegen. Die Hexe zeigt sich durchs Fenster. Im Innern ein riesiger Ofen, eine Kühltruhe, die als Verschlag für den Hänsel dient. Die Knusperhexe mit Glatze und Stöckelschuhen, ein Travestiegeschöpf, ist eine irreale Gestalt. Gedanken an Kindesmissbrauch blitzen auf. Ständig wechselt sie ihr Outfit, eilt hin und her, flitzt Trepp auf, Trepp ab. Dargestellt und gesungen wird die Knusperhexe von Tenor Peter Marsh, der diese Rolle schauspielerisch bravourös und gesanglich famos meistert, er muss zwischen Missklang und Kunstgesang pendeln. Frenetischer Beifall.

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Peter Marsh und Keith Warner; Foto: Renate Feyerbacher

Natürlich stösst Gretel die Knusperhexe in den Ofen, aber zum Finale bevölkert sich die Bühne mit vielen Kindern, die alle ein Buch erhalten – Buchmesse-Bezug. Es sind die Lebkuchenkinder, die erlöst werden. Sehr schön ist der Gesang des Kinderchors der Oper Frankfurt, geleitet von Markus Ehmann. Und auch die Knusperhexe wird wieder lebendig und erinnert auf einem Spruchband daran, dass es sich nur um ein Märchen handelt.

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Peter Marsh (Die Knusperhexe), Foto © Monika Rittershaus

Wie Keith Warner am Ende die Erzählung kräftig durcheinander wirbelt, das ist grossartig. Er entschärft diese doch brutale Handlung. Die vielen märchenhaften Einfälle wechseln sich ab mit tiefgründigen Bildern und machen das Märchenspiel „Hänsel und Gretel“ zu einer fantasievollen Kinderoper und einem nachdenklichen Erwachsenenstück. (Einige sehr kleine Kinder waren sogar in der Premiere.)

Dazu trägt auch das abwechslungsreiche, fantasievolle Bühnenbild des Engländers Jason Southgate bei, der auch ein Puppendesigner und -hersteller ist. Er – wie die Kostümschöpferin Julia Müer, einfallsreiche Kostüme, und der englische Lichtdesigner John Bishop, wunderbares Lichtspektakel – arbeiten mit Keith Warner öfter zusammen. Diese Vertrautheit ist der Inszenierung anzumerken.

Generalmusikdirektor Sebastian Weigle und den Musikern des Frankfurter Opern-und Museumorchesters gelingt eine starke Interpretation. Die sozialen Aspekte, die Humperdincks Musik mit fein dosiertem Humor vertieft, die wagnerischen Anspielungen werden deutlich. Einfühlsam begleitet das Orchester die Volksmelodien, die Humperdinck in orchestral grosse Momente einbrachte – „Brüderchen, komm tanz mit mir“, „Ein Männlein steht im Walde“ und weitere Lieder. Musikalisch ein Erlebnis.

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Alejandro Marco-Buhrmester (Vater), Katharina Magiera (Hänsel; mit dem Rücken zum Betrachter) und Heidi Melton (Mutter; in pinkem Kostüm) sowie im Hintergrund den Kinderchor der Oper Frankfurt, Foto © Monika Rittershaus

Auch gesanglich überzeugte der Abend: Alejandro Marco-Buhrmester gab seine profilierte Baritonstimme Peter, dem Besenbinder, der zu den Kindern liebevoll ist im Gegensatz zur herrischen Mutter, vorzüglich gesungen von der Amerikanerin Heidi Melton. Eine Freude ist der Hänsel, den Altistin Katharina Magiera, die in Frankfurt im Opernstudio begann und nun fest engagiert ist, lebendig und ausdruckstark singt und spielt. Es ist ihr Rollendebüt – wie auch für die Britin Louise Alder, die die Gretel singt. Ihr lyrischer Sopran bot schöne Momente, überzeugte aber nicht durchgehend.

Ein einzelner expressiver Buh-Ruf nach dem 1. Bild, der wohl der Inszenierung galt, liess sich später nicht wieder hören. Viel Beifall für alle Künstler.

Weitere Aufführungen heute, 17., sowie am 19. und 25. Oktober, am 1., 14., 21. und 22. November sowie mehrfach im Dezember 2014 (auch „Oper für Kinder“)

 

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