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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Liebieghaus präsentiert “Die grosse Illusion – Veristische Skulpturen und ihre Techniken” (Folge 2)

Lebensnahe Menschenbildnisse mit Glasaugen, echten Haaren und Kleidern

Von Hans-Bernd Heier

In einer spektakulären Sonderausstellung widmet sich das Liebieghaus der faszinierenden Tradition der realistischen Skulptur. Unter dem Titel „Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken“ bietet die Skulpturensammlung bis zum 1. März 2015 einen fesselnden Einblick in die über 4000 Jahre alten Bestrebungen von Bildhauern, lebensnahe Menschenfiguren zu schaffen – von der Antike an bis zum Hyperrealismus. Mit Echthaar, Glasaugen und aufwendigen Bemalungen fesseln und irritieren die naturgetreuen, bisweilen schonungslosen und sozialkritischen künstlerischen Darstellungen.

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Jesuskind aus dem Ursulinenkloster St. Joseph in Landshut, Süddeutschland, 16./18. Jh., Gliederfigur aus Holz, originale Fassung, Glasaugen, Wollhaar, Textilien u.a, Ursulinenkloster St. Joseph, Landshut; Foto: Thomas Dashuber, © Diözesanmuseum Freising

Die hyperrealistischen, täuschend echt wirkenden Figuren von zeitgenössischen Künstlern wie Duane Hanson, John De Andrea oder Sam Jinks beeindrucken aufgrund ihrer verblüffend lebensechten Erscheinung. Irritierend illusionistische Effekte von Skulpturen sind allerdings kein neues, sondern ein bereits rund 4500 Jahre altes Phänomen. Doch welche technischen Mittel verwendeten die meist unbekannten Künstler und Handwerker, um möglichst wirklichkeitsnahe Figuren zu schaffen? Schon in der Antike wurden Perücken aus natürlichem Haar, Kleidung aus echten Textilien und Schmuck für die Skulpturen verwendet. Bis heute werden – unabhängig vom Ausgangsmaterial der Skulptur wie Holz, Stein, Metall, Wachs oder Kunstharz – ganz ähnliche Methoden genutzt.

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Sam Jinks, Untitled (Pietà), 2014, Silikon, Kunsthaar, Echthaar, Textil; Höhe 150 cm, Breite 62 cm, Tiefe 65 cm; Sammlung Sam Jinks; Courtesy Sam Jinks und Sullivan, Australien; Foto: FeuilletonFrankfurt

Mit unserer bewussten Fokussierung auf die technischen Aspekte und die handwerklichen Methoden der Bildhauer zur Erzeugung veristischer Werke eröffnet die Präsentation einen neuen und höchst spannenden Blick auf ein bislang nur wenig erforschtes Kapitel in der Kunstgeschichte der Skulptur“, sagt Stefan Roller, Kurator der Ausstellung und Leiter der Mittelaltersammlung des Liebieghauses. Er hofft, dass die Erkenntnisse dieser Schau auch in den kunstgeschichtlichen Unterricht einfließen werden.

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Meister IPS, Alpengebiet, Christus an der Geißelsäule (Detail), Linde, Fassung 18. Jh., Glasaugen; Landesmuseum Württemberg, Stuttgart; Foto: FeuilletonFrankfurt

Ausgangspunkt jeder realitätsnahen Skulptur ist ihre möglichst naturgetreue plastische Formgebung. Sie allein weckt aber keinen überzeugenden wirklichkeitsnahen Eindruck – dazu bedarf es mehr: Zu den ersten veristischen Techniken zählt eine Imitation und Illusion von menschlicher Haut zu schaffen – ob nun auf Holz, Stein, Marmor oder Bronze. Tatsächlich war die Mehrheit der Bildwerke seit jeher bemalt. Besonders im Mittelalter steht die oftmals sehr aufwendige Bemalung der Skulpturen im Fokus. Die heute noch erhaltenen Figuren und Reliefs spiegeln dies allerdings infolge der verblassten Farbkraft kaum mehr wider, da originale Fassungen und Oberflächen weitgehend verloren gingen oder verändert wurden.

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Weibliche Büste, Neapel, 1750/1800, Holz, originale Fassung, Glasaugen, Objektmaß: Höhe 13 cm, Breite: 7,5 cm, Tiefe: 7 cm; Liebieghaus Skulpturensammlung; Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung

Farbige Gestaltung hieß aber nicht nur Bemalung, Vergoldung und Versilberung. Auch mit polychromen Materialien wie farbigen Steinen, buntem Glas oder Halbedelsteinen wurde gearbeitet. Dabei spielten die aus den verschiedensten Werkstoffen hergestellten Augen, die den Gesichtern eingefügt wurden, von jeher eine ganz wichtige Rolle.

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Cristóbal Ramos (1725–1799), Mater Dolorosa, 2. Hälfte 18. Jh., Holz, Leinen, originale Fassung, Glasaugen, Echthaar, Höhe: 85 cm, Breite: 77 cm, Tiefe: 54 cm; Museo Nacional de Escultura, Valladolid; Foto: J. Muñoz y P. Pastor

Die psychologische Wirkung scheinbar echter Augen ist wohl bereits im Altertum bekannt. Schon um 3000 v. Chr. war das Einfügen von Augen in Mesopotamien ein probates Mittel, um Gesichtern einen intensiven Blick und auch eine gewisse Lebendigkeit zu verleihen. Solche Augen stellen nämlich eine direkte Verbindung zwischen Skulptur und Schauenden her, fesseln und irritieren diesen zugleich. Für die Wirkung von Kultbildern, bei denen es um Emotionalisierung der Betrachter geht, war dies stets von Belang, suggerierten sie doch auf diese Weise die reale Anwesenheit der Dargestellten.

Für die Darstellung der Augen griffen die Skulpteure im Laufe der Jahrhunderte auf sehr unterschiedliche Materialien zurück. Die Augen der sumerischen Skulpturen (um 3000 v. Chr.) bestanden aus Muscheln, dunklem Kalkstein und Bitumen, später auch aus Lapislazuli. Die Ägypter des dritten Jahrtausends verwendeten Bergkristalle, danach auch Glas. Die Griechen perfektionierten diese Techniken: In die aus Marmor, Knochen, Elfenbein oder Alabaster hergestellten Augäpfel wurden Iris und Pupille aus Glas oder Halbedelsteinen eingelassen, bevor man sie in vorbereitete Augenhöhlen einfügte. Zusätzlich wurden bisweilen Wimpern aus gestanztem Kupferblech hinzugefügt.

Im Mittelalter bestehen die eingesetzten Augen häufig aus Emaille, Glas oder anderen Materialien wie Lapislazuli oder Onyx. Erst seit dem 17. Jahrhundert, als der technische Fortschritt in der Glasverarbeitung die Herstellung sehr realistisch wirkender Glasaugen ermöglichte, fügten die Künstler den Büsten Glasaugen ein.

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Zwei Schächer und Soldat einer Kreuztragungsgruppe, Breslau um 1492 (?), Laubholz, farbig gefasst, Echthaar (Schächer); Höhe: 130,4 bzw. 127,6 cm, Breite: 34,4 /42,8 cm, Tiefe: 29,2/ 42,8 cm; Warschau, Muzeum Narodowe; Foto: FeuilletonFrankfurt

Neben der Verwendung eingesetzter Augen gehört auch die Ausstattung mit echten Haaren zu den effektvollsten und ältesten Methoden, die illusionistischen Kraft der veristischen Figur zu steigern. Der früheste Nachweis einer Figur mit echtem Haar stammt aus römischer Zeit. In einer Grabanlage des ersten oder zweiten Jahrhunderts in Cumae, nordwestlich von Neapel, wurde 1852 ein Wachskopf gefunden, der nicht nur gläserne Pupillen, sondern auch Reste von echtem Haar besaß.

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Filippo Scandellari, Büste der Anna Maria Calegari Zucchini, Bologna 1742; Wachs, gegossen und bossiert, gefärbt und bemalt, Echthaar, Glasaugen, Leinen, Seide, Kette: Schnur, Draht, geschliffene Steine, Höhe: ca. 50 cm; Zucchini’s Collection Bologna; Foto: Claudio Giusti

Weite Verbreitung fand Echthaar vor allem seit dem 15. Jahrhundert. Meist sind die originalen Haare verloren gegangen und die Figuren präsentieren ihren kahlen Schädel. Roller schätzt, dass bei rund 50 Prozent der Christusfiguren echte Haare appliziert wurden.

In der Wachsplastik des 18. Jahrhunderts, für die ohnehin ein starker Verismus charakteristisch ist, wurden natürliche Haare neben Glasaugen fast obligatorisch. Waren es im Mittelalter noch meist Perücken, wurden jetzt in der Regel mit einer warmen Nadel Haarbüschel oder Einzelhaare tief in das weiche Wachs eingedrückt. Wachs erwies sich überhaupt als idealer Werkstoff für perfekte Illusion, geriet aber wegen der aufkommenden Wachsfigurenkabinette etwas in Verruf.

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Thronende Madonna, süddeutsch, Ende 17. Jh.; Holz, originale, partiell überarbeitete Teilfassung; Glasaugen, Echthaar, Textil, Papier, Glassteine, Perlen, Bouillondraht, Glaskugeln, Silber, Kupfer feuervergoldet, Messing versilbert; Höhe: 82 cm, Breite: 42 cm (nur Holzfigur), Tiefe: 55 cm; Fischbachau, Münster St. Marien, Pfarrverband Oberes Leitzachtal, Kr. Miesbach; Foto: FeuilletonFrankfurt

Die Verwendung von Haarapplikationen in den verschiedenen Epochen lässt sich in der Ausstellung in mehreren Räumen eindrucksvoll nachvollziehen. Um die lebensechte Wirkung der Bildwerke noch zu steigern, wurden die Skulpturen zusätzlich in Stoffgewänder gehüllt und trugen oft auch noch Schmuck.

Die äußerst originelle Schau im Liebieghaus vermittelt einen Blick in eine uns fremd gewordene, ungewohnt bunte und abwechslungsreiche Bilderwelt, die über viele Jahrhunderte zum Alltag der Menschen gehörte, ihr Leben begleitete und beeinflusste. Dabei spannt sie den Bogen zwischen alter und neuer Kunst und verweist auf die immer wieder überraschenden Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

“Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken”, Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, bis 1. März 2015

Fotos: FeuilletonFrankfurt (4) und Liebieghaus Skulpturensammlung (4)

→  Liebieghaus präsentiert “Die grosse Illusion – Veristische Skulpturen und ihre Techniken” (Folge 1)

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