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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Liebieghaus präsentiert „Die grosse Illusion – Veristische Skulpturen und ihre Techniken“ (Folge 1)

Die Kunst des Täuschens

von Hans-Bernd Heier

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Krieger A aus Riace, Griechisch, um 450 v. Chr., Bronze, Silber, Kupfer, Schwefel; Rekonstruktion nach dem Original in Reggio, Museo Nazionale Archeologico; Foto: FeuilletonFrankfurt

„Malerei ist Farbe, Skulptur ist Form“. Diese griffige „Definition gründet auf der Kunsttheorie der italienischen Renaissance und ihrer rigorosen Umsetzung im 18./19. Jahrhundert durch den Klassizismus“, erläutert Kurator Stefan Roller, Leiter der Mittelaltersammlung der Liebieghaus Skulpturensammlung. Heftig wurde damals in intellektuellen Kreisen diskutiert, ob die Malerei oder die Skulptur die führende Bildkunst sei. Folge dieses Rang- und Wettstreits der Künste („Paragone“) war laut Roller „eine polarisierende Abgrenzung beider Medien“. Im Rahmen dieser Rangstreitigkeit wurden Bronze und weißer Marmor als ideale Werkstoffe proklamiert.

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↑↓ John de Andrea (*1958), „Ariel II“, Denver, 2011, Bronze, gefasst, Höhe 172,7 cm, Breite 55,9 cm, Tiefe 43,2 cm; Courtesy Louis K. Meisel Gallery, New York; (Hinweis des Museums im Wandtext: „Die Skulptur besteht aus Bronze!“); Fotos: FeuilletonFrankfurt

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Folge der italienischen Kunstdoktrin des 16. Jahrhunderts und deren radikale Umsetzung im Klassizismus war, dass der Skulptur etwas Entscheidendes genommen wurde: ihre farbige Gestalt, obwohl Farbe seit Jahrtausenden untrennbar mit ihr verbunden war. Die Mehrzahl der Kunstwissenschaftler zu Zeiten der Renaissance und des Klassizismus vertraten außerdem die Auffassung, dass wahre Kunst die Natur nicht einfach kopieren dürfe, sondern idealisieren müsse. Damit bezogen sie eine klare Gegenposition zu der Figurenauffassung, die eine möglichst genaue Wiedergabe der Natur verfolgt. Dies war aber das Bestreben von Bildhauern der verschiedensten Stilepochen: möglichst realistische skulpturale Wiedergaben des Menschen zu schaffen – ganz unabhängig davon, ob diese Kunstrichtung nun als Realismus, Naturalismus oder Verismus bezeichnet wird. Diese Bestrebungen schlossen auch seit jeher eine farbige Fassung der Figuren ein, wie in der grandiosen Schau „Bunte Götter“ vor gut fünf Jahren beeindruckend im Liebieghaus zu sehen war.

In einer spektakulären Sonderausstellung widmet sich jetzt das Liebieghaus der faszinierenden Tradition der realistischen Skulptur. Unter dem Titel „Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken“ bietet die Skulpturensammlung bis zum 1. März 2015 einen fesselnden Einblick in die über 4.000 Jahre alten Bestrebungen von Bildhauern, lebensnahe Menschenfiguren zu schaffen – von Zeiten der Antike an bis zum Hyperrealismus. „Die zeitlose Faszination für besonders realitätsnahe Skulpturen, aber auch das ebenso uralte Bedürfnis, das menschliche Aussehen möglichst lebensecht nachzubilden, zeigt ‚Die große Illusion‘ auf überraschende und teilweise drastische Weise“, erklärt Max Hollein, Direktor der Liebieghaus Skulpturensammlung.

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Michel Erhart (um 1440/45–nach 1522), Apostelbüsten, linke Predellengruppe des Hochaltars in Blaubeuren, ehemalige Benediktinerklosterkirche, 1493/1494, Laubholz, originale Fassung, Höhe ca. 60 cm, Breite ca. 100cm, Tiefe 36 cm; Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung

In der großartigen Schau sind 52 Werke aus unterschiedlichen Jahrhunderten versammelt, die einen Überblick über das stete Bestreben von Künstlern vermitteln, eine perfekte Illusion und ein möglichst realitätsnahes Erscheinungsbild der menschlichen Gestalt zu erzeugen. Zu erleben sind außerordentlich wirklichkeitsgetreue Bildwerke von beeindruckender, irritierender und bisweilen schockierender Wirkung.

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Torcuato Ruiz del Peral (1708-1773), Johannesschüssel, Granada nach 1750, Kopf: Terrakotta, Schüssel: Nadelholz; Höhe 42,5 cm, Breite 46 cm, Tiefe 46 cm; Valladolid, Museo Nacional de Escultura; Foto: FeuilletonFrankfurt

Als besonders schwierig erwies es sich, die Exponate zusammenzutragen – nicht nur wegen der Fragilität einiger Arbeiten, sondern auch, weil einige Leihgeber Kirchen sind, in denen diese Figuren stehen. Als Leihgeber konnten unter anderem das Musée du Louvre in Paris, Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, Museo del Prado in Madrid, Kunsthistorische Museum Wien, das Ägyptische Museum Berlin sowie das Ursulinenkloster St. Joseph, Landshut und die ehemalige Benediktinerklosterkirche Blaubeuren gewonnen werden.

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Pedro de Mena (ca. 1628-1688), Ecce Homo, Malaga, 1679, Zeder (?), originale Fassung, Glasaugen, Nase erneuert, Dornenkrone aus Zweigen, Valladolid Museo Nacional de Escultura; Foto: FeuilletonFrankfurt

Für die Erstellung realistischer Skulpturen ist eine ungeheure technische Fähigkeit erforderlich. Die Präsentation beleuchtet deshalb auch die verschiedensten Techniken zur Erzeugung illusionistischer Effekte. Mit naturwissenschaftlichen Materialanalysen und praktischen Versuchen wurde eigens für die Sonderausstellung die ursprüngliche Farbfassung einer Büste der Heiligen Barbara (in der Sammlung Liebieghaus) des Bildschnitzers Michel Erhart sowohl in technischer als auch optischer Hinsicht minutiös rekonstruiert. Nicht nur die erstaunlich echt anmutende Imitation von Haut konnte dabei nachvollzogen werden; wiederhergestellt wurden auch die verschiedenen Applikationen und die starke Farbigkeit. Original und Rekonstruktion sind in der Präsentation gemeinsam zu sehen.

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↑ Michel Erhart und Werkstatt, Heilige Barbara, um 1490, Lindenholz, originale Fassung, partiell übergangen, Höhe 45 cm, Breite 31,5 cm, Tiefe 20 cm; Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main; Foto: FeuilletonFrankfurt

↓ Heilige Barbara, Rekonstruktion nach dem Original von Michel Erhart und Werkstatt, 2013/2014, Lindenholz, Schnitzerei: Thomas Hildenbrand, Fassung: Harald Theiss und Petra Bausch (Vergoldung); Höhe 50 cm, Breite: 31,5 cm, Tiefe 20 cm; Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main; Foto: FeuilletonFrankfurt

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Lebensnahe Gestaltung hieß und heißt nicht nur aufwendige Bemalung, sondern auch die Verwendung von beispielsweise Echthaar, Glasaugen, Kleidung und Schmuck. Darüber berichten wir in einem weiteren Artikel.

Die Bandbreite der im Liebieghaus präsentierten Werke reicht von der ägyptischen, griechischen und römischen Antike über mittelalterliche Skulpturen – so von Michel Erhart (um 1440/45-nach 1522) – und Beispiele aus der Renaissance – etwa von Guido Mazzoni (um 1445-1518) – , dem Barock – wie von Pedro de Mena (um 1628-1688) – bis hin zu Arbeiten aus dem 18. Jahrhundert – unter anderem von Luigi Dardani (1723-1787), ferner mit Arbeiten von Jean-Léon Gérôme (1824-1904) und Charles-Henri-Joseph Cordier (1827-1905) aus dem 19. Jahrhundert. Hyperrealistische Skulpturen von zeitgenössischen Künstlern wie Duane Hanson (1925-1996), John De Andrea (*1941) oder Ron Mueck (*1958) spannen den großen Bogen bis in die Gegenwart.

Die Gegenüberstellung der vielfältigen Exponate aus den verschiedensten Epochen schafft überraschende Verbindungen und vergegenwärtigt die oftmals seit Jahrtausenden überlieferten Traditionen technischer Methoden, deren sich die Künstler zum Teil bis heute unverändert bedienen.

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Antoinette de Fontette kniend mit einem Herz in den Händen, Burgund nach 1571, weißer Kalkstein, Fassung des 19. Jahrhunderts über der originalen Polychromie, Höhe 132 cm, Breite 106 cm, Tiefe 60 cm; Dijon, Musée des Beaux Arts; Foto: FeuilletonFrankfurt

Pressekonferenz

Pressekonferenz mit Helmut Müller, Geschäftsführer des Kulturfonds Frankfurt RheinMain, Liebieghaus-Direktor Max Hollein und Stefan Roller, Leiter der Mittelaltersammlung und Kurator der Ausstellung

Die Ausstellung wird durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain gefördert – wie Max Hollein betonte, sogar erst ermöglicht, und zusätzlich von der Hessischen Kulturstiftung unterstützt.

„Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken“, Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, bis 1. März 2015

Fotos: FeuilletonFrankfurt (10) und Liebieghaus Skulpturensammlung (1)

→  Liebieghaus präsentiert “Die grosse Illusion – Veristische Skulpturen und ihre Techniken” (Folge 2)

 

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