„Sirenen – Bilder des Begehrens und des Vernichtens“ von Rolf Riehm an der Oper Frankfurt
Kirke, Odysseus, Telegonos – ein unheilvolles Dreiecksverhältnis.
„Du lebst oder Du kommst um“
Von Renate Feyerbacher
Fotos: Oper Frankfurt /Wolfgang Runkel und Renate Feyerbacher
In der Mitte auf der Treppe stehend Lawrence Zazzo (Odysseus [Sänger]) und das Solistenensemble (Sirenen); Foto © Wolfgang Runkel
Eine Oper? Ein Gesamtkunstwerk mit aussergewöhnlicher Musik, Sängerinnen und einem Sänger, mit Sprechrollen, mit tänzerischen Elementen, mit Video-Einspielungen und überzeugendem Bühnenbild-, Licht- und Kostümensemble.
Das Auftragswerk der Oper Frankfurt wurde am 14. September 2014 uraufgeführt.
Geschehen – Libretto
Seit Jahrhunderten beschäftigt er uns: Odysseus. Die „Odyssee“, das zweitälteste Werk der abendländischen Literatur, entstand um 8 v.Chr. und wird nach der Überlieferung Homer zugeschrieben, soll aber in Wirklichkeit ein Generationenwerk verschiedener Dichter sein (Gero von Wilpert et al. „Lexikon der Weltliteratur“). Homer lässt seinen Helden nach dem trojanischen Krieg nach Ithaka, auf seine Insel, zurückkehren, wo seine Frau Penelope und sein Sohn Telemachos leben. Bei seiner zehnjährigen Irrfahrt kommt Odysseus auch auf die Insel der Zauberin Kirke (Circe), der Tochter des Sonnengottes Helios. Sie verwandelt seine Begleiter in Schweine, bis auf einen, macht die Verwandlung später aber wieder rückgängig. Kirke lässt Odysseus ziehen.
Eine andere Erzählung gibt es von Telegonos, dem Sohn von Odysseus und Kirke. Homer erwähnt ihn nicht, wohl aber Hesiod (Hauptwerk: „Theogonie“, 7.v.Chr). Der Text, auf den sich der Komponist Rolf Riehm aber bezieht, stützt sich auf Homers „Odyssee“ und unter anderem auf Texte von Karoline von Günderode (1780-1806), jene unglücklich liebende romantische Lyrikerin, die sich am Rheinufer in Winkel erdolchte, und auf Texte von Isabelle Eberhardt (1877-1904), schweizerisch-französische Reiseschriftstellerin, in neuer Zeit hofiert von der Frauenbewegung, die in der Sahara bei einem Unwetter in Wadi-Wassermassen ertrank.
Tanja Ariane Baumgartner (Kirke), Michael Mendl (Odysseus [Schauspieler]) und Dominic Betz (Telegonos); Foto © Wolfgang Runkel
Auf Weisung der Götter lässt Kirke Odysseus, den Geliebten, nach einem Jahr ziehen. Sie gibt ihm Ratschläge, wie er an den mythologischen Sirenen, Mischwesen aus Vogelkörper und Mädchenkopf, vorbeischiffen kann, ohne von ihnen in den Tod gelockt zu werden. Kirkes Hoffnung, Odysseus, der mit ihr Telegonos zeugte, werde wieder zurückkehren, erfüllt sich jedoch nicht. Ihren erwachsenen Sohn sendet sie daher aus, um Odysseus zu suchen. Telegonos landet auf Ithaka, begegnet dem Vater, ohne ihn zu erkennen, und durchbohrt ihn mit dem Speer, den dieser bei Kirke zurückliess. Die Verletzung wird zum Tod führen. Telegonos begleitet nun seinen Vater bis zum Totenreich. Odysseus bäumt sich auf, will nicht sterben, bevor er nicht die Wahrheit über die Welt, die Weisheit der Sirenen gehört hat. Was erfährt er: dass sein eigener Tod die einzige Wahrheit ist. Der Körper vergeht, aber Odysseus Seele kehrt zurück in das „Land, wo die Lebenden zu den Toten reden“. Ein Satz aus Karoline von Günderodes Gedicht „Die Bande der Liebe“. Kirke erwartet ihn in Vorfreude, aber sie scheint ihm nichts mehr zu bedeuten.
„Ich bin ein zeitgenössischer Barde, der eine Geschichte nochmals erzählen will. Aber ganz anders. Es geht mir nicht um einen bestimmten Stoff, nicht um die eine oder andere Version einer antiken Sage, sondern um Verhaltensmuster für das Heute“ (Rolf Riehm im Januar 2014, Programmheft).
Rauchend steht der alte Odysseus (Schauspieler) zunächst am Bühnenrand, er schlendert dahin und wird von Telegonos mit dem Speer durchbohrt. So beginnt das Drama vor noch geschlossenem Vorhang. Ein starkes Bild, das nachwirkt.
Eingeteilt ist das Musik-Werk in drei Teile und acht Szenen. Der erste Teil spielt auf Kirkes Insel Aiaia. Etwa eine Viertelstunde lang ist Kirkes Lamento zu hören: Trauer, Wut, Rachegedanken. Danach ist ihre Protagonistenrolle zwar beendet, aber sie bestimmt das Geschehen. Die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner, seit fünf Jahren im Ensemble der Frankfurter Oper, gestaltet diese schwierige Gesangspartie atemberaubend.
Vorne v.l.n.r.: Lawrence Zazzo (Odysseus [Sänger]), Michael Mendl (Odysseus [Schauspieler]) und Dominic Betz (Telegonos) sowie auf der Treppe das Solistenensemble (Sirenen); Foto © Wolfgang Runkel
Die Gesänge der Sirenen sind schon zu vernehmen. Odysseus flieht von der einen Frau zu den andern, den Sirenen.
Der zweite Teil beginnt mit dem „Siren Song“. Weiss Odysseus, „dass sich die Sirenen umbringen müssen, wenn sie ihn nicht kriegen? Jedenfalls weiß ich es und setze den Tod der Sirenen in meine Dramaturgie ein“ (Rolf Riehm, Programmheft).
Die Sirenen können Odysseus nicht einfangen, er wird ihnen zum Verhängnis, sie verfallen (dritter Teil). Auf der Bühne verwandeln sich die attraktiven Blondinen in alte Frauen.
Kirke, Odysseus und Telegonos beherrschen das Schlussbild.
Komponist, Musik und Realisation
Rolf Riehm, 1937 in Saarbrücken geboren, studierte zunächst Schulmusik in Frankfurt am Main, wo er seit früher Kindheit mit wenigen Unterbrechungen lebt, war Solo-Oboist, studierte dann Komposition bei Wolfgang Fortner, war Dozent in Köln und unterrichtete 26 Jahre, von 1974 bis 2000, als Professor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Er gehörte dem legendären „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“ an, das von 1976 bis 1981 in Frankfurt existierte. Er war Villa Massimo-Stipendiat, erhielt den saarländischen Kulturpreis und den Hindemith-Preis der Stadt Hanau, ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Der Sirenen-Odysseus-Stoff beschäftigt ihn schon seit über 20 Jahren. Mehrere Kompositionen sind ihm gewidmet.
Seine Musik ist fern von Systematik, sie ist eigenwillig, unkonventionell, gelegentlich schrill, radikal und wenig ästhetisch. Neben den Musikern des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters wird auf der Bühne ein Akkordeon, eine Singende Säge, ein Klavier, eine Violine, eine Pauke gespielt und eine Gießkanne sowie vier Holzbohlen, die keinen muffigen oder dumpfen, sondern einen durchdringenden Klang haben sollen, behämmert. Diese Schläge gehen ins Mark. Klavier und Akkordeon durchlaufen eine apokalyptische Klangaktion. Das alles ist schon sehr spannend, auch wenn sich manche Ohren schwer tun, es zu verkraften.
Ein Herr erzählte später, er habe am Ende „Vivat Verdi“ rufen wollen, es dann aber gelassen.
Der vielgefragte englische Dirigent Martyn Brabbins, der weltweit agiert, an der Frankfurter Oper „Murder in the Cathedral“ dirigierte, ist ein souveräner Orchesterleiter.
Vorne v.l.n.r.: Michael Mendl (Odysseus [Schauspieler]) und Lawrence Zazzo (Odysseus [Sänger]) sowie im Hintergrund das Solistenensemble (Sirenen); Foto © Wolfgang Runkel
Regisseur Tobias Heyder, seit 2009 Regieassistent an der Oper Frankfurt, gelingt eine spannungs- und ideenreiche Inszenierung. Die acht Sirenen in weissen Gewändern mit blonden Langhaarperücken (Kostüme Petra Polkowski), eine neunte als Artistin in blutrotem Kleid, das Odysseus herunterreisst, die sich dann mit gekonnter Tuch-Akrobatik in die Luft schwingt und im Bühnenboden verschwindet, sind in ständiger Aktion. Die Treppe, die Bühnenbildner Tilo Steffens für die Sirenen baute, ist ihr verführerischer Ort.
Die Figur des Odysseus lässt der Komponist zwischen Sprechen und Singen changieren.
Michael Mendl spielt den alten, tödlich verletzten Odysseus. Mendl zählt zu den markantesten Schauspielern Deutschlands. In etwa 200 Film- und Fernsehfilmen (u.a. ARD-Zweiteiler über Willy Brandt „Im Schatten der Macht“) hat er gespielt sowie grosse Bühnenrollen geprägt.
Michael Mendl am 14. September 2014; Foto: Renate Feyerbacher
Bis zur Verausgabung spielt er den sterbenden Odysseus, der sich gegen den Tod aufbäumt, um noch die Wahrheit zu erkennen, der sucht, tobt, leidet. Grandios.
Sein Alter Ego ist Lawrence Zazzo. Der amerikanische Countertenor, der seit 2006 immer mal wieder an die Oper Frankfurt kommt, meistert diese schwierige Partie einfühlsam. Der junge, freischaffende Schauspieler Dominic Betz verkörpert Telegonos, den Sohn, leidenschaftlich.
Ein „Opern“-Abend, der gewisse zwiespältige Gefühle zurücklässt, der aussergewöhnliche musikalische Momente beschert, dessen Text zwar durch Übertitelung unterstützt wird, dennoch schwer aufzunehmen ist. „Zu moralisch“ konstatierte eine Künstlerin im Nachgespräch. Das Gros des Publikums war begeistert, zumindest zufrieden, ein kleiner Teil formierte sich zum Buh-Konzert.
95 Minuten dauert das Werk, das am 18., 21. und 26. September sowie am 2. und 4. Oktober 2014, jeweils um 19.30 Uhr erneut aufgeführt wird.
Am 26. September 2014 werden nach der Vorstellung der Komponist Rolf Riehm, Schauspieler Michael Mendl und Sänger Lawrence Zazzo mit Intendant Bernd Loebe in „Oper lieben“ über das Werk diskutieren.