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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die neue Konzertsaison 2014/2015 des hr-Sinfonieorchesters

Stabwechsel zu Andrés Orozco-Estrada

Von Renate Feyerbacher

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Andrés Orozco-Estrada

Eine neue Ära beginnt – und die mit Verve. Der neue Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters, Andrés Orozco-Estrada, lockt die Musiker ins Freie: Mit einem Open Air-Konzert am 27. August 2014 im Frankfurter Metzlerpark („Überall ist Grün, das gefällt mir“) stellt er sich dem Frankfurter Publikum vor. Solistin ist die junge spanische Geigerin Leticia Moreno, 2010 Preisträgerin (LOTTO-Förderpreis) beim Rheingau Musik Festival. Fünf Tage vorher, am 22. August, dirigiert Orozco-Estrada bereits das hr-Sinfonieorchester beim diesjährigen Festival in der Basilika Kloster Eberbach. Der ehemalige Chefdirigent und heutige Ehrendirigent des Orchesters, Paavo Järvi, hatte das Festival Ende Juni mit einem Mendelsohn-Programm anlässlich von Shakespeares 450. Geburtstag eröffnet. Orozco-Estrada widmet sich vor allem Richard Strauss, der vor 150 Jahren in München geboren wurde und vor 65 Jahren starb. Auch Mendelsohn und Shakespeare will er huldigen. Ihn interessiert, wie Komponisten mit literarischen Texten umgehen. Im nächsten Jahr wird er, der Tradition folgend, mit dem hr-Sinfonieorchester das Festival eröffnen, und er wird auch das Neujahrskonzert 2015 in Wiesbaden dirigieren. Das hatte Ex-Chef Järvi schon lange nicht mehr getan.

Der junge, 1977 im kolumbianischen Medellín geborene Dirigent ist ein Musiker „zum Anfassen“. Seine Herzlichkeit, seine natürliche Freude, seine Aufgeschlossenheit jedem gegenüber, der mit ihm sprechen will, seine lockere Gelassenheit sind ansteckend. Nichts von Abgehobenheit, nichts von Dünkel. Ein Südamerikaner. Seine autobiografischen Erzählungen von Kindheit und Jugend, die Anfang des Jahres im Programm „hr2 kultur“ gesendet wurden, in denen ihm die Erinnerung an seine Mutter immer wieder wichtig war, liessen aufhorchen.

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Übergabe des Dirigentenstabs durch Hörfunkdirektor Heinz-Dieter Sommer (rechts Ulrike Schmid, Pressereferentin des hr-Sinfonieorchesters)

Andrés Orozco-Estrada wurde in Medellín zunächst an der Geige ausgebildet. Mit 15 Jahren stand er erstmals am Pult eines Orchesters, mit 20 Jahren ging er zum Dirigier-Studium nach Wien. Vor zehn Jahren wurde er schlagartig international wahrgenommen und als „Wunder von Wien“ gefeiert, als er im legendären Wiener Musikverein beim renommierten österreichischen Tonkünstler-Orchester einsprang, bei dem er fünf Jahre später Chefdirigent wurde. Parallel war er auch Chefdirigent des Baskischen Nationalorchesters.

Heute arbeitet Orozco-Estrada mit allen namhaften Orchestern zusammen: Wiener und Münchner Philharmoniker, Gewandhausorchester Leipzig, Mahler Chamber Orchestra, London Symphony and City of Birmingham Orchestra, Santa Cecilia Rom, Orchestre National de France, Concertgebouw Orchestra, Royal Stockholm Philharmonic sowie die Orchester in Philadelphia, Pittsburgh, Cleveland. Am Staatstheater Stuttgart und beim Glyndebourne Festival („Don Govianni“ im Juni) widmet er sich der Oper. Mehr geht nicht. Er ist ausserdem Music Director des Houston Symphony Orchestra und ab 2015 1. Gastdirigent in London.

© Giorgia Bertazzi

Patricia Kopatchinskaja; Bild: HR/Bildrechteinhaber; Foto: Giorgia Bertazzi

Eine der bedeutendsten Geigerinnen unserer Zeit, Patricia Kopatchinskaja, ist in dieser Saison (2014/2015) „Artist in Residence“. Die junge, aus Moldawien stammende Künstlerin wird vier Konzerte geben: Ludwig van Beethovens Violinkonzert, das grösste seiner Art, mit Dirigent Philippe Herreweghe in der Alten Oper Frankfurt und bei den Kasseler Musiktagen; im Sendesaal des Hessischen Rundfunks beim Forum Neue Musik unter anderem György Ligetis schwieriges Violinkonzert; ferner ein Kammerkonzert und im Dezember Igor Strawinskys Violinkonzert mit dem neuen Orchester-Chef Orozco-Estrada in der Alten Oper.

Die Zusammenarbeit der Geigerin mit dem hr-Sinfonieorchester ist nicht neu: beider Doppel-CD mit Werken von Bartók, Eötvös und Ligeti, löste 2013 einen regelrechten Preisregen aus. Die Produktion, die im Hessischen Rundfunk entstand, erhielt den „Gramophone Classical Music Award“ und wurde unter 800 Neuerscheinungen des Jahres von der gleichnamigen britischen Fachzeitschrift als „Record Of The Year“ gewählt. Ausserdem wurde sie für den Grammy nominiert.

Es ist eine wahre Freude, die aktuelle Konzert-Broschüre des hr-Sinfonieorchesters durchzublättern: was für namhafte Dirigenten und Solisten werden in der nächsten Saison erwartet! Es lohnt sich, Mitglied der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Orchesters zu werden, denn dadurch gibt es die Chance zum frühen und ermässigten Kauf von Karten; und vor allem zu Probenbesuchen darf man kommen – Ausnahmen nur, wenn dies aus räumlichchen Gründen nicht möglich ist. Es ist ein Erlebnis, die Musiker zu hören und zu sehen, wie sie an den Aufführungen den „letzten Schliff“ erarbeiten.

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Eliahu Inbal

Ein Blick zurück auf ein Konzertereignis der zurückliegenden Saison im Juni 2014 ist mir ein Anliegen:

Auf dem Programm stand Gustav Mahlers „Totenfeier“ und Leonard Bernsteins 3. Sinfonie („Kaddisch – Ein Dialog mit Gott“) unter der Leitung von Eliahu Inbal. Es war eine Auftragsarbeit, die Bernstein (1918-1990), Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, 1955 vom Boston Symphony Orchestra erhielt, aber erst 1961 begann und zwei Jahre daran arbeitete. Er entwarf „ein persönliches Zeugnis bekennenden Judentums …, das die Glaubenskrise nach der Katastrophe des Holocaust und die allgemeine Krise der Menschheit – auch unter dem Aspekt der damals allgegenwärtigen atomaren Bedrohnung – thematisiert“ (Zitat Programmheft).

Mehrfach arbeitete er an dem Werk, dessen eigenen Text er als „zu geschwätzig“ empfand. Nichtsdestotrotz gab es 1977 in Mainz unter Bernsteins Dirigat eine Uraufführung. Kurz vor seinem Tod bat er 1989 seinen Freund, den 1929 in Polen geborenen Juristen, Dichter, Autor und Holocaust-Überlebenden Samuel Pisar, um ein neues Libretto. Er hatte Pisars Memoiren gelesen: „Sie haben das tragischste Kapitel unserer Geschichte körperlich und seelisch durchlitten“, hatte er zu ihm gesagt. Erst September 2011 – nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York – begann Pisar, an diesem Text zu arbeiten. Erstmals bettete Dirigent Christoph Eschenbach Pisars Libretto in Bernstein komplexe Partitur ein.

Zehn Jahre alt war Samuel Pisar, als Hitler und Stalin sein Geburtsland Polen unter sich aufteilten. Sechs Jahre Sklaverei in Auschwitz und anderen Todesorten haben Pisar nicht verbittert. Der 16jährige war der einzige Überlebende seiner Familie. Er ging nach Paris, nach Melbourne, promovierte in Harvard und an der Sorbonne, kam MItte der 1950er Jahre zu den Vereinten Nationen, wurde Berater von John F. Kennedy und 1961 amerikanischer Staatsbürger.

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↑ Samuel Pisar und Eliahu Inbal am 11. Juni 2014 bei der Probenarbeit mit dem hr-Sinfonieorchester
↓ Samuel Pisar mit seiner Gattin (im Hintergrund Eliahu Inbal)

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Folglich, oh großartiger und einziger Gott Abrahams,
Verneige ich mich, mit allem Respekt vor jeglicher Glaubensrichtung.
Und ohne etwas Böses zu wollen,
Vor dem ewigen Jerusalem,
Seinen Synagogen, Kirchen, Moscheen,
Seiner zeitlosen Klagemauer
Und seiner Gedenkstätte Yad Vashem,
Um für Dich mein inbrünstiges Hoffnungsgebet zu singen,
das Strömen von Blut entsprungen ist.
Trete wieder mit uns in Beziehung, Herr,
Führe uns zu Versöhnung, Solidarität, Toleranz und Frieden
Auf diesem kleinen, uneinigen, zerbrechlichen Planeten,
Unserem gemeinsamen Zuhause! – Amen! A – men!!! „

Text von Samuel Pisar aus dem Libretto zur 3. Sinfonie von Leonard Bernstein (zitiert nach Programmheft)

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Der neue Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters, Andrés Orozco-Estrada

Fotos: Renate Feyerbacher (6), Giorgia Bertazzi (1)

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