„Der Goldene Drache“: Musiktheater von Péter Eötvös an der Oper Frankfurt
Ein komödiantisch-realistischer Wahnwitz – Groteske und Passion
Von Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt und Renate Feyerbacher
Simon Bode (Der junge Mann; auf dem Stuhl stehend), Kateryna Kasper (Die junge Frau; mit dem Rücken zum Betrachter), Hans-Jürgen Lazar (Der Mann über sechzig) und Holger Falk (Der Mann); Foto © Monika Rittershaus
Am 29. Juni 2014 wurde Péter Eötvös neuntes Bühnenwerk „Der Goldene Drache“ im Bockenheimer Depot der Oper Frankfurt uraufgeführt.
Der ungarische Komponist Péter Eötvös, der im Januar 70 Jahre wurde, ist in Frankfurt kein Unbekannter
. Vor sieben Jahren erhielt er im Römer den Frankfurter Musikpreis, 2009 wurde seine Oper „Angels in America“, die er selbst „Mein Musical“ nannte, erstaufgeführt. Sie setzt sich mit dem Thema Aids auseinander.
Bereits mit 14 Jahren nahm ihn Zoltán Kodaly (1882-1967) in seine Budapester Kompositionsklasse auf. Anschliessend erhielt er ein Stipendium an der Hochschule für Musik in Köln, wo er lange blieb, mit dem Stockhausen-Ensemble arbeitete und Mitarbeiter im WDR war. Dann leitete er das Ensemble intercontemporain in Paris, lehrte an der Musikhochschule Karlsruhe, kam als Professor wieder nach Köln an die Musikhochschule und kehrte schliesslich nach Karlsruhe zurück. Er dirigierte weltweit alle bedeutenden Orchester. Und er komponierte unermüdlich.
Ausserdem gründete er das Internationale Péter Eötvös – Institut für junge Dirigenten und Komponisten.
Péter Eötvös am 25. Juni 2014 bei der Probenpause im Bockenheimer Depot; Foto: Renate Feyerbacher
Das neue Werk ist eine Auftragskomposition von Ensemble Modern und Oper Frankfurt. Das Libretto basiert auf dem gleichnamigen Stück von Roland Schimmelpfennig, dem 1967 geborenen, derzeit meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Péter Eötvös, einer der erfolgreichsten Opernkomponisten unserer Zeit, sah das Stück des Dramatikers zuerst auf ungarisch in Budapest und später in Wien und war begeistert. Er liess sich von der Theaterbühne inspirieren. Die meisten von Eötvös‘ Bühnen-Werken basieren auf literarischen Vorlagen.
Schimmelpfennigs Theaterstück, das 2009 uraufgeführt wurde, 2010 den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt und bei der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zum Stück des Jahres erkoren wurde, war für ein Opernprojekt viel zu lang. Die 48 Szenen wurden auf 21 reduziert. Autor und Regisseurin Elisabeth Stöppler wirkten von Anfang an mit. Und da das Ensemble Modern mit dieser Oper auf Tour gehen möchte, wurde die Besetzung sehr klein gehalten: fünf Darsteller – zwei Sängerinnen, drei Sänger – singen und spielen 18 Rollen, nur 16 Musiker entfalten die grotesken, dramatischen, schrillen Töne, die sich opernhaft zu einer Apotheose steigern. Von Reiseoper, von einem Theaterstück mit Musik spricht der Komponist. Alles spielt sich in einem Haus ab.
Zunächst kommen die Musiker mit Töpfen, Sieben, Pfannen auf die Bühne und entlocken ihnen klappernde Töne. Dann steigen sie hinab und die fünf Protagonisten erobern die Szene.
Hedwig Fassbender (Die Frau über sechzig) und Simon Bode (Der junge Mann); Foto © Monika Rittershaus
Konzentration ist notwendig, um einmal die vielen Dinge, die auf der Bühne existieren, wahrzunehmen, unter anderem die winkenden chinesischen Katzen, ein Kitschprodukt. Zum Abschluss der Bühne erhebt sich eine grosse Drachenskulptur, die sich farblich und leuchtend verändert und sich am Ende zusammenfaltet. Genial Hermann Feuchters Bühnenbild.
Hedwig Fassbender (Die Frau über sechzig), Simon Bode (Der junge Mann), Holger Falk (Der Mann) und Hans-Jürgen Lazar (Der Mann über sechzig); Foto © Monika Rittershaus
Die verschiedenen Spielszenen: die winzige Küche des Thai-Chinesischen Schnellrestaurants mit Namen „Der Goldene Drache“, in der fünf Asiaten arbeiten, unter ihnen der Kleine, der seine Schwester in Deutschland sucht, der unerträgliche Zahnschmerzen hat.
Ein goldener Drache ziert den Teppich, der das Lokal schmückt.
Weitere Szenen: Die Enkelin, die schwanger ist, trifft den Großvater, der wieder jung sein will. Später ist sie verliebt mit ihrem Freund zusammen. Zunächst ist das Paar noch glücklich, aber die Beziehung scheitert, weil er das Kind nicht will und weil Geld fehlt. Zwei Stewardessen besuchen zweimal das Schnellrestaurant. Der Lebensmittelhändler Hans, der die Grille vortanzen lässt und daraufhin eine Geschäftsidee entwickelt, hat seinen Laden ebenfalls im Haus. Alle Veränderungen, alle Verkleidungen vollziehen sich sehr schnell. Der Kleine, der keine Krankenversicherung hat, sich wahrscheinlich illegal aufhält – „sans papiers“ – , sich folglich keinen Zahnarzt leisten kann, wird vom Küchenteam behandelt: mit Schnaps betäubt und vom Zahn mittels Rohrzange befreit. Der Zahn fliegt durch die Luft und landet schliesslich in der Suppe von Inga, der blonden Stewardess, die ihn sogar in den Mund nimmt – ein symbolischer Akt. Sie kümmert sich um den Kleinen, macht sich Gedanken um die Situation der „Sans Papiers“ in unserem Land, ist betroffen, während die andere, die schwarzhaarige Stewardess, flieht. Eötvös nennt den Zahn ein „Symbol für Menschlichkeit“.
Hans-Jürgen Lazar (Der Mann über sechzig), Simon Bode (Der junge Mann), Kateryna Kasper (Die junge Frau; ohne Maske), Holger Falk (Der Mann) und Hedwig Fassbender (Die Frau über sechzig); Foto © Monika Rittershaus
Manche Szene ist makaber: Anfangs hat die Oper groteske Züge, aber dann schlägt die Stimmung um, die Figuren werden nachdenklicher, schwermütiger, denn der Junge verblutet. Inge, die den Chinesen auf der Brücke begegnet, wirft den Zahn in den Fluss. Dem Kleinen gelingt es heimzukehren, er kommt bei sich an.
Kateryna Kasper (Die junge Frau) und das Ensemble Modern; Foto © Monika Rittershaus
Noch ein anderer Handlungsstrang ist wichtig: die Fabel „La Cigale et la Fourmi“ (Die Grille und die Ameise) von Jean de la Fontaine (1621-1695). Sie erzählt von der Grille, die im Sommer Musik macht und tanzt und im Winter versucht, bei der Ameise im Bau unterzukommen. Die Ameise lehnt zunächst ab, weil die Grille nicht wie sie gearbeitet hat. Dann lässt sie die Grille tanzen und gibt ihr zu essen. In der Oper gehen die Forderungen an die Grille weiter, die Grille muss sich prostituieren. Eötvös bezeichnet die Grille als Schwester des Kleinen.
Das Irreale findet auf der gleichen Ebene statt wie das Reale.
Holger Falk (Der Mann) und Hans-Jürgen Lazar (Der Mann über sechzig); Foto © Monika Rittershaus
Sehr klar sind die Worte der Sängerinnen und Sänger zu verstehen, Eötvös wollte keine Übertitelung. Es gibt keine Elektronik, aber Verstärker, um Geflüstertes zu verstehen. Die Musik übernimmt die Sprachrhythmen. Die Instrumente haben Solostatus. Manchmal hört sich die Geige nicht nach Geige an, sondern wie ein ruppiges Zupfinstrument. Wenn die Grille schrubben muss, wird sie grandios in diesem Rhythmus begleitet. Die Musik bietet aufregende Momente. Die Solisten des Ensemble Modern unter Leitung von Hartmut Keil sind einsame Spitze. Jetzt bei der Uraufführung dirigierte der Komponist selbst.
Hartmut Keil ist ein glänzender Orchesterleiter. Bei der Probenarbeit hat Eötvös sich ganz selten, sehr ruhig mit ihm verständigt. Die Klangregie von Norbert Ommer tat ihr ürbiges.
Regisseurin Elisabeth Stöppler nennt das Werk „eine perfekt zu singende Sprache“. Aus der Kammeroper, die Péter Eötvös ursprünglich komponieren wollte, wurde ein „Sprachtheater mit Musik“.
Regisseurin Elisabeth Stöppler im Bühnenbild; Foto: Renate Feyerbacher
„Für mich war immer entscheidend, dass in diesem Stück alle Extreme kollidieren und innerhalb weniger Minuten größtmögliche Kontraste aufeinanderprallen. Mythos trifft auf den Alltag unserer Realität“, so äußert sich die Regisseurin im Gespräch mit dem Komponisten, den Mitarbeitern ihres Teams und dem Dramaturgen (zitiert nach Programmheft). Diese Extreme weiss sie in ihrer Regie überzeugend umzusetzen. Sie hat witzige, traurige, dramatische, aggressive und erlösende Ideen im aufregenden Bühnenbild von Hermann Feuchter, im Lichtdesign von Jan Hartmann und den Kostümen von Nicole Pleuler umgesetzt.
Die fünf Protagonisten ebenfalls einsame Spitze. Es ist sicher keine leichte Sache, diese Töne zu singen.
Hedwig Fassbender bei der Probe am 25. Juni 2014 mit Mikrofon auf der Stirn; Foto: Renate Feyerbacher
Hedwig Fassbender, international und viel gefragte Interpretin, 2005 zur „Sängerin des Jahres“ nominiert und seit 1999 Professorin an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, ist eine singende Schauspielerin. Durchdringend, scharf, eisig kommandiert sie als Ameise die Grille. Als Liebende kommt ihr wohlklingender, ausgewogener Mezzosopran voll zur Geltung. Ein Juwel. In imposanter Eile wechselt sie Stimme und Rolle als Frau über sechzig, als alte Köchin, als Enkeltochter und Ameise, als Hans und chinesische Mutter.
Simon Bode ist der Junge Mann, Asiate, Kellnerin, Großvater, Grille, chinesische Tante. Bode fing als Stipendiat im Opernstudio an und gehört nun zum Frankfurter Opern-Ensemble. Auch ihm gelingt faszinierend der stimmliche und spielerische Wechsel.
Der Tenor Hans-Jürgen Lazar ist seit 1991 Ensemblemitglied. Auch ihm gelingt in dieser Oper ein grandioser Auftritt: als schwarzhaarige Stewardess, aber auch als Asiate, der den Zahn zieht, als unangenehmer Freund der Enkelin. Und Holger Falk gibt vor allem eine beeindruckende, fein intonierende, blonde Stewardess.
Kateryna Kasper (Die junge Frau; auf dem Tisch stehend), Hans-Jürgen Lazar (Der Mann über sechzig), Holger Falk (Der Mann), Hedwig Fassbender (Die Frau über sechzig) und Simon Bode (Der junge Mann); Foto © Monika Rittershaus
Der Kleine sollte ursprünglich durchgehend von Kateryna Kasper, Mitglied im Opernstudio, gesungen werden. In der Aufführung am 4. Juli war sie erkrankt. Die junge Regieassistentin Corinna Tetzel agierte auf der Bühne, und im Orchester verlieh Sarah Maria Sun, eine Spezialistin für zeitgenössische Partien, dem „Kleinen“ ihre Stimme.
Die Zuschauer waren begeistert. Es lohnt sich!
Weitere Aufführungen am heutigen 7. Juli sowie am 9. und 11. Juli 2014, jeweils um 19.30 Uhr im Bockenheimer Depot.