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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„goEast“ 2014 – Festival des mittel-und osteuropäischen Films

14. Festival des mittel- und osteuropäischen Films: Jung, wild, ausdrucksstark

Eine Nachlese von Renate Feyerbacher

Seit 14 Jahren ist der April der Monat des goEast-Festivals in Wiesbaden und Umgebung.

goEast Nana Ekvtimishvili, Dillmann, Hoffmann 9.4.14 003

Eröffnung mit Festivalleiterin Gaby Babic

Über 140 lange und kurze Filme aus 22 Ländern wurden gezeigt, davon zehn Spielfilme und sechs sozialkritische Dokumentationen im Wettbewerb sowie ausser Konkurrenz die Dokumentation „Ukraine_Stimmen“ von 2014. Auch die Eröffnungsrede war der Ukraine gewidmet. Filmisch sehr präsent war Polen, das in diesem Jahr den Hauptpreis, den ŠKODA Filmpreis, mitnehmen konnte. Ausgezeichnet wurde der Film „Ida“, der jetzt in die Kinos kam.

Dieses Polnisch-Dänische Projekt von Pawel Pawlikowski (*1957) ist ein Meisterwerk und hat bereits viele internationale Preise bekommen. In Frankreich hatte der Film mit 110.000 Besuchern einen Rekordstart. Bei uns ist die Besucherzahl überschaubar.

Der in Warschau geborene, in London lebende Regisseur drehte „Ida“ in seiner polnischen Heimat. In Schwarz-Weiss-Bildern wird die Geschichte zweier Frauen erzählt, die tief in die Vergangenheit eindringen.

Die 18-jährige Novizin Anna lebt in einem polnischen Kloster Anfang der 1960er Jahre. Sie kennt ihre Eltern nicht. Die Oberin, die Annas Wurzeln sicher kennt, fordert die junge Frau auf, bevor sie das ewige Gelübde ablegt und Nonne wird, ihre letzte Verwandte, Wanda, die Schwester ihrer Mutter, aufzusuchen, der sie noch nie begegnet ist.

Das wohl behütete, tief religiöse Mädchen trifft die mondäne Frau, die eine parteitreue Richterin ist. Nach dem Krieg fällte die „Rote Wanda“ sogar Todesurteile. Hart, direkt, dem Alkohol zugewandt, die Liebhaber wechselnd, kommt ihr verletzter Kern, ihr Geheimnis erst nach und nach zu Tage. Anna wird mit der Vergangenheit während der deutschen Besatzungszeit konfrontiert und erfährt, dass sie Jüdin ist, Ida heisst. Ihre Eltern fielen dem Holocaust zum Opfer. Die beiden sehr ungleichen Frauen, Wanda und Ida, beginnen eine Reise durch Polen, um das Grab der Eltern und auch deren Mörder zu finden. Und sie finden auch die Leiche von Wandas ermordetem Sohn. Alle Leichname werden im Familiengrab beerdigt. Das Leben beider Frauen verändert sich grundlegend. Der Schluss überrascht.

goEast Preisverl. 15.4.2014 051

Produzentin Ewa Puszczyńska am 15. April 2014 in Wiesbaden

Es ist ein Stück Aufarbeitung der Vergangenheit und des Umgangs mit jüdischen Menschen während des Krieges in Polen.

Pawel Pawlikowski entwickelt seine „poetische wie klare filmische Annäherung an die bis heute mit Schweigen belegte Gemengelage aus Antisemitismus, Katholizismus und Kommunismus“ zu einer „zu Recht ausgezeichneten Perle europäischen Filmschaffens“ (Zitat Film-Flyer). Das im Stil eines Roadmovie erzählte Werk hat raue, feine, witzige, traurige und sehr spannende Momente und wird gespielt von zwei grossartigen Schauspielerinnen: Agata Kulesza als Wanda und Agata Trzebuchowska als Ida.

Eine nachvollziehbare Entscheidung der goEast-Jury, zu der auch die Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin, die Vorjahrssiegerin, Nana Ekvtimishvli gehörte.

goEast Nana Ekvtimishvili, Dillmann, Hoffmann 9.4.14 007

Nana Ekvtimishvli am 9. April 2014 in Wiesbaden

Den Dokumentarfilmpreis „Erinnerung und Zukunft“ ging an „Urteil in Ungarn“.

Der Film berichtet über den Überfall, den rechte Extremisten 2008 / 2009 auf mehrere Roma-Dörfer in Ungarn verübten und bei dem sechs Menschen starben. Gezeigt wird der zweieinhalbjährige Prozessverlauf, der in einem kleinen Gerichtssaal stattfindet. Den Richter, einen Hardliner der Ordnung, nervt die Emotionalität der Roma und schockiert die Brutalität und Kaltblütigkeit der rechten Aggressoren. Ein hoch interessantes „Kammerspiel“, das die Vorbehalte, die nicht nur in Ungarn, sondern auch in Deutschland gegenüber Roma existieren, offenbart. Der Prozess droht zu scheitern, aber die Gerechtigkeit bahnt sich ihren Weg. Ein mutiges Dokument der Budapester Regisseurin Eszter Hajdú.

goEast Preisverl. 15.4.2014 043

Regisseurin Eszter Hajdú nach der Preisverleihung

Den Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden und Lobende Erwähnung für die Beste Regie ging nach Georgien an „Blind Dates“ von Levan Koguashvili, der auch im Forum der Berlinale lief. Eine komplizierte, tragikomische Beziehungsgeschichte, in die Sandro verwickelt wird. Der vierzigjährige Lehrer verliebt sich am Strand in eine Frau, deren Mann aber vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird. Sandro wohnt noch immer bei seinen Eltern, die sich ständig in sein Privatleben einmischen. „Mit unaufgeregtem Minenspiel, das durch keatoneske Qualität besticht, treibt er [Sandro] in einem komplizierten Beziehungsgeflecht und muss sich zwischen Liebe, Ehre und Mitgefühl entscheiden“ (Zitat aus Film-Broschüre).

goEast Preisverl. 15.4.2014 049

Andro Sakvarelidze: Sandro-Darsteller

Mit dem Preis des Auswärtigen Amtes für „Künstlerische Originalität, die kulturelle Vielfalt schafft“ wurde der Film „Kleiner Bruder (Bauyr) von Serik Aprymov aus Kasachstan ausgezeichnet. In Paris erhielt der Streifen bereits den Preis des Verbands Internationaler Filmkunsttheater. Es ist die Geschichte eines neunjährigen Jungen, der – allein auf sich gestellt – sein Leben meistert, zur Schule geht und Geld durch selbstgegossene Backsteine verdient. Der Regisseur zollt all denjenigen Kindern Respekt, die allein ihr Leben bewältigen müssen. Zahlenlos sind sie hier wie dort.

Lobende Erwähnung erhielt auch der rumänische Film „Quod erat demomstrandum“, ein Drama aus dem realsozialistischen Rumänien der 1980er Jahre.

Den Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI) nahm der Estländer Veiko Õunpuu für „Free Range – die Ballade von der Billigung der Welt“ entgegen, ein Film, der auch im Forum auf der Berlinale gezeigt wurde. „Hip“ ist dieser Film, der von Filmkritiker Fred handelt, der fliegt, weil er den Film des US-amerikanischen Filmemachers Terrence Malick „The Tree of life“ mit Schimpfworten zerfetzt. Er versucht sich im Romanschreiben, die Freundin ist schwanger, dann probiert er es als Gabelstaplerfahrer, ein rebellischer Poet, der kifft, nach dem richtigen Weg sucht. Exzesse, Widersprüche und zärtliche Momente setzt der Regisseur in „eine umwerfend lebendige Bildersprache“ um (Film-Broschüre).

Zum letzten Mal gab es den Förderpreis der Robert Bosch-Stiftung für Internationale Zusammenarbeit, die deutschen Nachwuchsfilmerinnen und -filmern die Möglichkeit bietet, mit osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen ein Filmprojekt zu realisieren, und das in den drei Kategorien Dokumentation, Animation und Kurzspielfilm. Die deutsch-rumänische Dokumentation „The Wellness Process“ erhielt den Zuschlag, das deutsch-polnische Projekt „Border Barbers“ eine Besondere Erwähnung.

goEast Preisverl. 15.4.2014 031

Preisträger

Schande“ (Styd) des usbekischen Regisseurs und Drehbuchautors Yusup Razykov ergatterte keinen Preis. Faszinierend sind die Aufnahmen in der Eiswüste im Norden Rußlands. Er berichtet vom tristen Leben auf einer heruntergekommenen Militärbasis auf der Halbinsel Kola. Die Frauen warten auf die Rückkehr ihrer Männer, die auf hoher See in geheimer Mission unterwegs sind. Sie schliessen sich zu Gemeinschaften zusammen, nur Lena, seit kurzem mit einem U-Boot Offizier verheiratet, verweigert sich. Die Männer werden nicht mehr zurückkehren. Lena macht eine Entdeckung und verlässt ihre innere Isolation. Auch wenn das nicht die Intention des Filmemachers war, so erinnert dieser Film an den Untergang der „Kursk“ im Jahr 2000, eines der modernsten russischen U-Boote, bei dem 118 Besatzungsmitglieder den Tod fanden. Es werden triste Einblicke in das Leben in Polarkreisnähe abseits der Städte gezeigt, realitätsnah.

Yusup Razykov Regiss.Mihaela Sirbu Achauspiel. goEast 12.4.14 002

Regisseur Yusup Razykov am 12. April 2014 im Filmmuseum in Frankfurt

Das goEast-Porträt war der vierzigjährigen Polin Małgorzata Szumowska gewidmet. Die Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin blickt auf eine beachtliche Karriere zurück. Bereits 2004 wurde sie bei goEast für die Beste Regie in „Leben in mir“ ausgezeichnet. Es war ihr zweiter Spielfilm. Eine Werkschau, darunter der letzte Film „Im Namen des …“ („W Imie …“) aus dem Jahr 2012 und ein Gespräch mit der Filmemacherin zählten zu den Höhepunkten des diesjährigen Festivals. Der Film war im Wettbewerb der Berlinale des letzten Jahres, ihm wurde der Teddy Award (Preis für lesbisch-schwule Filme) verliehen. Es geht um das Thema Homosexualität unter Priestern. Der sympathische, engagierte, schwule Jesuiten-Pater Adam, der schwer erziehbare junge Männer betreut, erlebt Momente des Glücks und der Verzweiflung und die Feindschaft der Dorfbewohner. Er verdrängt die verwirrten Gefühle, Einsamkeit ist die Folge. Ein heikles Thema, ein Tabuthema nicht nur in Polen. Ein eindringlicher, mutiger Film ohne moralisierende Attitüde, der jetzt in den Kinos gestartet ist.

Die Entwicklung des goEast Festivals ist einzigartig. Dazu beigetragen haben mehrere Festivalleiterinnen und seit vier Jahren Gaby Babic, die 2010 die Festivalleitung übernahm.

Sie und ihr Team haben ein herausragendes Filmereignis geboten.

Sven Gerich und Gaby Babic

Gaby Babic mit dem Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich am 15. April 2014 in Wiesbaden

Fotos: Renate Feyerbacher

→  Filmfestival “goEast” 2011

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