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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Margarethe Kollmer: nicht nur Videokünstlerin

 

Von Erhard Metz

Wir holen etwas weiter aus: Nach Einführung der Videotechnik, insbesondere seit der Digitalisierung und Miniaturisierung und damit der Allverfügbarkeit entsprechender Geräte wurde es nahezu jedermann möglich, sein eigener Autor, Regisseur, Kameramann und Produzent zu sein, das neue Medium erfuhr eine flächendeckende „Demokratisierung“. Bereits Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre hatte die Entwicklung der Videokunst zu einer eigenständigen Kunstgattung begonnen. Die documenta 11 im Sommer 2002 in Kassel war bereits massgebend von Videokunst geprägt (SPIEGEL ONLINE kritisierte damals allerdings noch: „stetigem Video-Geflimmere“). Seit langem bietet die Hochschule für Gestaltung HfG in Offenbach den Studiengang Visuelle Kommunikation mit entsprechenden Lehrinhalten an, und die Städelschule in Frankfurt unterhält eine Professur „Film“, die selbstverständlich auch den Bereich Video umfasst und die derzeit der bekannte Film- und Videokünstler Douglas Gordon mit der „Filmküche“ innehat.

Videokunst – ein heute vielleicht schon eher bereits veralteter Begriff – wird, neben der Digitalen Kunst, der Computer- oder elektronischen Kunst, vielfach als Teil einer „Medienkunst“ verstanden. Die Entwicklung ist dynamisch – man spricht bereits von Netzkunst, Softwarekunst oder Game Art und manch anderem mehr. Die Übergänge von einer Gattung zur anderen sind ebenso fliessend wie die Übergänge zwischen Videokunst und Filmkunst – gerade manche Arbeiten von Douglas Gordon gelten hierfür als Beispiele.

Zur Videokunst gehören zum einen die vielfach dokumentierenden Charakter tragende Video-Performance, bei der sich mitunter der Künstler selbst – auch ganz unmittelbar körperlich – in den Mittelpunkt der Arbeit stellt bzw. sich zu ihrem Gegenstand macht, zum anderen die Video-Installation und auch die „Video-Skulptur“, die oft einen ortsspezifischen Ansatz verfolgen und die sich medienübergreifend mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen verbinden können. Mitunter ist auch der das Kunstwerk bildende künstlerische Prozess selbst Gegenstand des Werkes. Meist handelt es sich dabei um mehr oder weniger ausgeprägt konzeptuelle Arbeiten.

Die Videokunst erweist sich für den Künstler als ein komplexes wie schwieriges Terrain: In einer von ständigen Beschleunigungsprozessen geprägten Gesellschaft (jene Prozesse erfahren übrigens gerade auch in der Videokunst Widerhall und Reflexion) fordert sie vom Betrachter Geduld: Kann der an das häusliche Fernseh-Zapping Gewohnte („Fernseh-Zapper“ bleiben im Durchschnitt nur rund zwei Minuten ununterbrochen bei einem Programm, selbst „Fernseh-Verweiler“ noch nicht einmal eine Viertelstunde¹) an einem Bild, an einer Skulptur, an einer Installation nach einem ersten Blick rasch vorübergehen, nötigt ihn ein Video zum Bleiben. Man muss sich eine Videoarbeit schon einmal in voller Länge ansehen, auch wenn manche Videos als Loop geschaffen sind, also zeitlich unabhängiger angesehen werden können, und manch andere wiederum – auch nach der Intention des Künstlers selbst – zunächst kein vollständiges Betrachten der gesamten Sequenz erfordern.

Schwierig schliesslich bleibt das künstlerische End-Produkt als solches – und auch seine Verkäuflichkeit: in Gestalt eines heute ausschliesslich digitalen Datenträgers (auch dessen Haltbarkeit ist jedoch zeitlich begrenzt), signiert und vielleicht im Rahmen einer Künstleredition präsentiert. Als Käufer von Produkten der Videokunst kommen primär Museen und spezielle Sammler in Betracht. Videokünstler sehen zu Recht davon ab, ihre Werke allgemein zugänglich ins Internet zu stellen. Videokunst kann jedoch nicht an die Wand gehängt oder auf einer Vitrine platziert werden, versagt sich also generell einem traditionellen „bürgerlichen“ Akzeptanz-, Rezeptions- und Konsumverhalten.

Heute stellen wir eine Künstlerin vor, die sich derzeit im Schwerpunkt der Videokunst widmet, aber auch in der Malerei bereits erfolgreich unterwegs war (unter anderem im Frühsommer 2011 in der Ausstellung „Datumsgrenze“ im Frankfurter 1822-Forum, die ein Katalog dokumentiert) und die sich nicht auf eine Kunstgattung festlegen will: Margarethe Kollmer.

Die Künstlerin, die bereits über einen Diplom-Abschluss Visuelle Kommunikation an der HfG Offenbach verfügt (Studiengänge Kunst und Medien, Professoren Heiner Blum und Alex Oppermann), verliess vor wenigen Tagen zum Semesterschluss als Absolventin der Filmklasse des bereits vielfach erwähnten Professor Douglas Gordon – und als dessen Meisterschülerin – die Städelschule. Wir werden ihr im Sommer im Rahmen der Absolventenausstellung 2014 gewiss wiederbegegnen.

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Noch keine Videokunst und gut an eine Wand zu hängen: „I think it is fair if you clap at least as long as it took me to perform this“, Installation, Tintenstrahldruck, 2012; Foto: © Margarethe Kollmer

Margarethe Kollmer untersucht unser Sehen, unsere Sehgewohnheiten, unsere Wahrnehmungen und überhaupt unser Wahrnehmungsvermögen und damit unsere Erkenntnismöglichkeiten in einer von Medien bestimmten Welt. In einer Urstufe konnten die Menschen im Grunde „nur“ all das erkennen und für ihr konkretes Leben und Handeln verarbeiten, was sie mit ihren eigenen Augen und Ohren vor Ort sahen bzw. hörten. Mediale Einflüsse ergaben sich bereits durch optisch vermittelte bildliche oder skulpturale Darstellungen. Banales Beispiel: Auch eine Ansicht Venedigs von Canaletto (Giovanni Antonio Canal) vermittelte als Medium, über die Alpen nach Norden gebracht, seinerzeit jemandem, der nie in dieser Stadt war, einen Eindruck von ihr, der Grundlage seiner weiteren (etwa kaufmännischen) Aktivitäten sein konnte.

Heute wird das Sehen, Hören, Wahrnehmen und Erkennen durch eine Vielzahl von wesentlich komplexeren, vor allem elektronischen Medien – Fernsehen, Hörfunk, Internet, „Social Media“ – bestimmt und dabei gefiltert und gebrochen, und Filterung bedeutet vielfach Veränderung, Verfremdung, auch Verfälschung. Zwar kann durch heutige Übertragungstechnik ein Europäer fast zeitgleich sehen, was zum Beispiel in Amerika geschieht. Und doch trennt die mediale Vermittlung und Filterung ferner Geschehnisse das in der Ferne real Existierende von dem, was bei unserem Beispiels-Europäer „ankommt“ und was dieser dann für real und „wahr“ hält. Das eigene Urteil wird letztlich durch das medial vermittelte Urteil anderer ersetzt. Die Diskussion der Gefahren, die sich damit verbinden, füllt bereits Bibliotheken.

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Meeting, Videoinstallation 40“, 2012; Foto: © Margarethe Kollmer
„Zwei Screens zeigen das gleiche Video zeitversetzt. Man sieht die je entgegengesetzten Richtungen einer auf und ab gehenden Bewegung auf einer Waldlichtung.“

In ihren Arbeiten – drei möchten wir hier etwas näher vorstellen – „bricht“ Margarethe Kollmer also unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und Erkenntnismöglichkeiten gleichsam wie durch ein Prismenglas betrachtet, dekonstruiert sie und konstruiert sie neu. Und auch das Wesen sowie der Ablauf von Zeit spielen in ihren Arbeiten eine gewichtige Rolle.

In einer wunderbaren Arbeit, der wir insoweit einen Schlüsselcharakter zumessen, der tonlosen Videoinstallation „Der Weg hierher“, gelingt es der Künstlerin, mit äusserst sparsamen, reduzierten Mitteln die Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter zu hinterfragen, vielleicht aufzulösen: Die Künstlerin geht und „filmt“ dabei mit der Videokamera ein Stück des Wegs vom Frankfurter S-Bahnhof Konstabler Wache zu ihrem temporären Ausstellungsort im damals leerstehenden Gebäude der „Diamantenbörse“. Notwendiger – und unentrinnbarer – Weise beschreitet der Betrachter des Videos den gleichen, von der Künstlerin bereits gegangenen Weg dorthin, in der gleichen zeitlichen Dauer, wobei diese im Video festgehaltene Wegbeschreitung die künstlerische Arbeit bereits selbst bildet, die wiederum in das Fenster des Ausstellungsortes projiziert wird. Eine ungemein komplexe, mit Raffinement ausgeführte, hochkonzeptuelle wie geniale Arbeit. Auf eine gewisse Weise wird der Betrachter indirekt Teil der Videoarbeit und somit Teil des Kunstwerks: Kollmer ist dabei, die Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter aufzulösen.

Bitte auf das Videostill klicken und einen Preview sehen:

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Weg hierher, Videoinstallation, 2’22“, 2011; Foto: © Margarethe Kollmer
„Ein Video, das den Weg von der S-Bahn Station zum Ausstellungsort zeigt, wird in dessen Fensterfront projiziert. Es zeigt den Abschnitt des Weges, den Leute, die dorthin gehen, am wahrscheinlichsten mit mir gemeinsam haben.“

In ihrem ebenfalls tonlosen Video „Shift“ zeigt Margarethe Kollmer eine Fahrt durch eine winterliche Schneelandschaft. Wiederum arbeitet sie mit schlichten, reduzierten handwerklichen Mitteln. Was zunächst als ein einfaches Vorhaben erscheinen mag, gerät in der künstlerischen Ausformung zu einem überaus vielschichtigen Videokunstwerk. Zum einen sehen wir die Landschaft durch einen Spiegel gedoppelt; zum anderen stellt die Künstlerin die gespiegelte Ansicht von der Horizontalen in die Vertikale. Und – drittens – lässt sie die Spiegelachse sich langsam nach links verschieben – „Shift“!

Wir sehen eine wunderbar ruhige Kamerafahrt, die die Stille einer Winterlandschaft auf eine fast schon übersinnliche Weise wider“spiegelt“ und erleben lässt. Es ist nur auf den ersten Blick ein Paradoxon: Durch die horizontal-vertikale Verschiebung scheinen die kleinen, nicht von Schnee bedeckten, mal helleren, mal dunkleren Flächen wie ein vom Himmel fallendes, eben dunkleres „Schneerieseln“, dessen Anblick etwas Meditatives hat. Während sich die Spiegelachse langsam immer weiter nach links bis zum Bildrand verschiebt, den Betrachter also den Ablauf von Zeit unmittelbar sinnlich-visuell erfahren lässt, passiert etwas Unerwartetes: Dunkle Strukturen erscheinen am rechten Bildrand, wie von höher und höher wachsendem Gestrüpp neben Baumstämmen konturiert. Und dann verzaubert die Spiegelachse die Szenerie zu einer dreidimensional wirkenden bizarren Skulptur: Eine Figur scheint emporzuwachsen, einem Totempfahl ähnlich, mit zeremonieller Kopfbedeckung, übergrossen Augen und weit ausgebreiteten Schmetterlingsflügeln. Sie wandert in die Höhe und wir sehen röntgenbildartige Strukturen, immer noch dreidimensional anmutend, wir stellen uns von Schlingpflanzen überwucherte Skelette am Monitor eines Computertomografen vor. Ein wenig gespenstisch, ja alptraumhaft erscheint diese Sequenz, doch wandern diese zuvor nie gesehenen Bilder, sich dem Betrachter nach vorne zudrehend, langsam mit der Spiegelachse dem linken Bildrand zu und verschwinden. Und wir befinden uns wieder in jener zu Beginn des Videos gesehenen Schneelandschaft.

Thomas Manns Kapitel „Schnee“ – mit dem das „innere“ wie „äussere“ Geschehen, das Leben, die Liebe und den Tod umspinnenden „Schneetraum“ des Romanhelden  – in Manns legendärem „Zauberberg“, dem nach unserer Ansicht wichtigsten Schlüsselroman des 20. Jahrhunderts, kommt uns in lebendige Erinnerung. Vor Jahrzehnten mehrfach gelesen und in der weit zurückliegenden Abiturprüfung erfolgreich diskutiert werden wir ihn über die Ostertage, durchaus willkommen, wieder einmal zur Hand nehmen. Auch und gerade solches kann ein Video von Margarethe Kollmer bewirken. Aber wir sehen diese grossartige Arbeit heute auch unter weiteren Vorzeichen – einer Meditation, einer Transzendenz, einer meditativen Reise in ein weites, gar nicht bedrohliches Reich der Träume und Fantasien.

Bitte auf das Videostill klicken und einen Preview sehen:

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Shift, Videoloop, 426“, 2011; Foto: © Margarethe Kollmer
„Fahrt durch eine
gespiegelte Schneelandschaft, bei der sich die Spiegelachse langsam nach links verschiebt.“

Gänzlich anders die Arbeit „per Sie“ der Künstlerin. Nach „Shift“ weckt und rüttelt sie uns auf in der von naturwissenschaftlichem Fortschritt und von Hochleistungstechnik geprägten Realität unserer Tage – und hat doch, wie „Shift“, nur eben auf eine andere Weise, etwas von Transzendenz. In der mit einem Ton unterlegten, sehr farbintensiven Arbeit geht es „himmel“wärts – zu einem Parabelflug, bei welchem die Mitfliegenden für die Dauer von etwa 20 Sekunden einen Zustand von Schwerelosigkeit erreichen.

Statische Filmaufnahmen aus einem wissenschaftlichen Parabelflug werden vom Bildschirm abgefilmt. In den verschiedenen Clips werden die Bewegungen der Wissenschaftler von der Kamera nachvollzogen,  wobei diese sich dem Bildschirm währenddessen immer weiter annähert“ – so beschreibt die Künstlerin ihre Arbeit. Wir sehen Wissenschaftler in blauen und roten Overalls, sie hantieren an Apparaturen und vollziehen in der Schwerelosigkeit fliessende, gleitende, fallende und sich wieder aufrichtende Bewegungen. Zu hören sind ein Hintergrundrauschen, ein Atmen vielleicht der Beteiligten, klickende und knarrende Arbeitsgeräusche. Gesprochen wird nicht. Die kräftigen, flächigen Farben geben dem Video eine Anmutung von Malerischem.

Wieder verfremdet und bricht die Künstlerin mit ihrer beschriebenen besonderen Arbeitstechnik das sich auf dem Bildschirm vollziehende und also bereits mehrfach medial vermittelte Geschehen. 20 Sekunden Schwerelosigkeit (im wissenschaftlichen Betrieb werden stets mehrere „Parabeln“ hintereinander geflogen) werden zu einer siebeneinhalbminütigen – vom Betrachter gefühlten – „Ewigkeit“ verformt und im künstlerischen Prozess in einer neuen Dimension verfügbar gemacht. Wir verstehen dieses Werk auch als eine Metapher für das dem Menschen immanente, nie enden wollende Bestreben, sich selbst und die Welt um ihn herum, Raum, Zeit und Gravitation zu erkunden, in immer weitere, immer fernere Dimensionen vorzustossen, ähnlich dem Wesen des sich ständig entwickelnden Künstlers auf der Suche nach dem finalen, absoluten Kunstwerk. Wiederum eine grossartige Arbeit.

Bitte auf das Videostill klicken und einen Preview sehen:

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per Sie, Videoinstallation, 732“, 2012; Foto: © Margarethe Kollmer
Statische Filmaufnahmen aus einem wissenschaftlichen Parabelflug werden vom Bildschirm abgefilmt. In den verschiedenen Clips werden die Bewegungen der Wissenschaftler von der Kamera nachvollzogen,  wobei diese sich dem Bildschirm währenddessen immer weiter annähert.“

Margarethe Kollmer, 1984 in Schweinfurt geboren, studierte zunächst Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie Freie Malerei an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Über ihre beiden erfolgreich abgeschlossenen weiteren Studiengänge an der HfG Offenbach und an der Städelschule haben wir bereits oben informiert. Die Künstlerin, die in Frankfurt am Main lebt und arbeitet, stellte bereits vielfach im Rhein-Main-Gebiet, in Deutschland und Europa aus.

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Margarethe Kollmer vor der Fassade des Frankfurter Portikus; Foto: Erhard Metz

Wir sprachen bereits von dem Künstlertum, das stets auf der Suche nach dem finalen und absoluten Werk strebt. Wir könnten damit auch Margarethe Kollmer gemeint haben, deren bisherige Arbeiten auf ein grosses kreatives künstlerisches Potential schliessen lassen. Doch würde es uns wenig überraschen, wenn sie neben ihrer künstlerischen Arbeit neue Herausforderungen in einer Erweiterung ihrer bereits zweifach abgeschlossenen akademischen Ausbildung suchte. Wir werden Margarethe Kollmer – so oder so – nicht aus den Augen lassen!

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¹) Quelle: AdTrend 2009/SevenOneMedia

→  Absolventenausstellung 2014 der Städelschule “Pashmina” im MMK-Zollamt (7)

s. a.:  → Preis “ZONTA Art Contemporary” für Eva Weingärtner
→ Im Körpereinsatz: Vito Acconci im Künstlerhaus basis

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