Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt (6)
Spielzeit 2013 / 2014
Von Renate Feyerbacher
Fotos: Birgit Hupfeld / Schauspiel Frankfurt
Die Nibelungen
Kinder der Sonne
Wille zur Wahrheit
Biedermann und die Brandstifter
“Die Nibelungen“ – Tragödie von Friedrich Hebbel
Masslos ist das Ich, das sich vereinzelt.
oder:
Blutige Arbeit des Tötens.
Christian Erdt, Giselher, der Bruder des Königs; Verena Bukal, Kriemhild, die Schwester des Königs; Sascha Nathan, König Gunther; Foto © Birgit Hupfeld
Die aufgereihte Männerphalanx gleich zu Beginn lässt nichts Gutes ahnen. Da stehen die Burgunder, König Gunther, Hagen Tronje, Spielmann Volker, Königsbruder Giselher und beschwören die „Nibelungentreue“, die als Treue des deutschen Volkes stilisiert wurde. Die Burgunder halten sie unerschütterlich ein, obwohl sie wissen, dass sie zugrunde gehen. Anfang des 20. Jahrunderts geisterte dieser Begriff auch im Zusammenhang mit dem Krieg von 1914 in Reden herum.
Held Siegfried, der den den Nibelungenschatz hütenden Drachen besiegte, in dessen Blut badete und bis auf eine kleine Stelle unverwundbar wurde, der die Tarnkappe eroberte, kommt an König Gunthers Hof in Worms. Dieser hatte von der jungfräulichen, unbesiegbaren Brunhild auf Island gehört und will sie als Frau besitzen. Hagen Tronje, Gunthers treuer Lehens- und Gefolgsmann, bestärkt ihn.
Nur Siegfried aber kann die starke Frau erobern, Gunther, der Schwächling jedenfalls nicht. Der blonde Recke Siegfried, den Geltungsbedürfnis, Abenteuerlust und Egoismus motivieren, lässt sich hinreissen, mittels Tarnkappe die stolze Frau zu besiegen, zu vergewaltigen. Gunther verspricht ihm dafür die Hand seiner Schwester Kriemhild.
Zurück in Worms besteigt Siegfried mit Tarnkappe das Bett von Brunhilde. Dann offenbart er sich Kriemhild. Siegfried ist nicht nur ein Betrüger, sondern auch ein Verräter. Schon beginnen die Streitigkeiten der beiden Königinnen, die beide betrogen wurden.
Anstatt sich zu verbünden, fordert Brunhild Rache. Vasall Hagen ist im Einvernehmen mit Gunther willens, sie an Siegfried zu vollziehen: Er ersticht Siegfried. Kriemhild, die von ihrem Bruder vergeblich Hagens Kopf fordert, heiratet König Etzel und plant nun ihrerseits Rache.
Trotz Warnungen nehmen die Burgunder die Einladung Etzels an. Sie töten den Sohn von Etzel und Kriemhild. Dem Gemetzel ist Tür und Tor geöffnet. Kriemhild selbst stirbt.
„Nehmt mir meine Kronen ab und schleppt die Welt auf Eurem Rücken weiter“, resigniert König Etzel. Wird es einen Neuanfang geben? Es sieht nicht so aus.
Constanze Becker als Brunhild, Verena Bukal als Kriemhild; Foto © Birgit Hupfeld
Friedrich Hebbel (1813-1863) verarbeitete den Stoff zwischen 1850 und 1860 im Rahmen einer Trilogie: einem einaktigen Vorspiel „Der gehörnte Siegfried“ und den beiden Trauerspielen „Siegfrieds Tod“ und „Kriemhilds Rache“ zu jeweils fünf Akten. Es war eine Zeit des Umbruchs: 1848/1849 die gescheiterte Revolution und ab 1862 die Politik des „Eisernen“ Kanzlers Otto von Bismarck. Macht und Herrschaft waren vorrangig, nicht demokratische Leitlinien. Es gibt keinen Lichtblick, keine Liebe, keine Verständigung in dem Stück. Nur das Schwert herrscht.
Die junge Regisseurin Jorinde Dröse verzichtet auf Bilder vom Gemetzel. Ihr ist wichtiger, Hebbels Sprache, seine Gedanken wirken zu lassen. Sie sind ohne Hoffnung. „Es gibt keine Versöhnung, die Helden stürzen, weil sie sich überheben.“ Alle treibt die Gier, der Konkurrenzgedanke, die in massloser Gewalt münden.
Sparsam und kalt sind Bühnenbild und Kostüme von Susanne Schuboth.
Grossartig die Schauspieler. Constanze Becker als Brunhild, die sich zunächst als „Frau“ befleißigt, dann aber rast und erkaltet in Rachegefühl. Ebenso Verena Bukal als Kriemhild. Ihre Wandlung von der zarten, liebreizenden, unschuldigen Königstochter zur Rachegöttin ist beeindruckend. Wie eine Furie rast sie. Sie ist unfähig loszulassen, aufzuhören.
Nico Holonics ist Hagen Tronje. Kälte, Zynismus, Berechnung, Gier, Machtgelüste – unglaublich vereint er sie im Spiel.
Sascha Nathan ist eine gute Besetzung für König Gunther, zunächst indifferent, aber dann in Blut watend. Und Siegfried, eine Art Sonnyboy, dem alles zugeflogen ist, der mit der Liebe spielt, sich rücksichtslos verhält, wird überzeugend gespielt von Lukas Rüppel. Er ist sanft und tapfer, aber auch masslos. Der Kampf um den Nibelungenschatz, ums Gold, wird von ihm losgetreten. Aktualität. Brilliant auch Andreas Uhse als Volker, der Spielmann, Michael Benthin als König Etzel und Christian Erdt als Giselher, der Bruder des Königs. Für ihn ist Siegfried Freund und Vorbild. Er versucht, sich zu verweigern. Aber auch er wir ein Opfer der „Nibelungentreue“.
Ab 22. März 2014 sind Hebbels „Die Nibelungen“ wieder im Spielplan.
“Kinder der Sonne“ – Drama von Maxim Gorki
Intelligenz im Elfenbeinturm – Nöte des Volkes – Verfall der bürgerlichen Gesellschaft
Geschrieben hat Maxim Gorki (1868-1936) dieses Stück im St. Petersburger Gefängnis.
Es führt uns in eine geschlossene Gesellschaft am Vorabend der revolutionären Unruhen, die 1905 begannen. Am 9. (22.) Januar 1905 hatte es eine friedliche Demonstration gegeben. 150.000 Arbeiter marschierten zum Winterpalast, um ihre Forderungen zu stellen. Hunderte von Toten gab es durch schiessende russische Soldaten vor dem Palast. Dieser Tag ging als Petersburger Blutsonntag in die Geschichte ein. Gorki protestierte gegen das brutale Vorgehen und wurde verhaftet. Proteste in der ausländischen Presse zwangen Zar Nikolaus II. zu Gorkis Freilassung. Gorki war ein Revolutionär, überwarf sich jedoch mit Lenin, weil er die Revolution von 1917 ablehnte. Später revidierte er seine Meinung und wurde zum Vorzeigeschriftsteller Stalins.
Thomas Huber; Foto © Birgit Hupfeld
Der Chemiker Pawel Protassow träumt von neuen Menschen. Thomas Huber spielt diesen weltfremdem, wegen seines Bartes eher einem Seemann ähnelnden Wissenschaftler, der ständig experimentiert. Oberflächlich ist dieser Mensch. Gorki philosophierte: „Es ist der unbesiegbare Mensch … Können wir eine Atmosphäre schaffen, in welcher der Mensch leichter atmen kann? Wir können und müssen das tun“ (zitiert nach Programmheft).
Protassows Frau Jelena, gespielt von Stephanie Eidt, fühlt sich vernachlässigt und hat ein Verhältnis mit dem Maler Wagin, den Isaak Dentler klebrig spielt. Lisa, Protassows Schwester, Verena Bukal, hat psychische Probleme, Züge von Borderline-Syndrom, kann sich nicht für das Heiratsangebot von Tierarzt Tschepurnoj entscheiden. Ein Grund: sie hat die Brutalität gegen die Arbeiter auf der Strasse miterlebt. Sie glaubt nicht an den neuen Menschen. Melanija, seine Schwester – hier Claude de Demo -, reich, unerträglich aufopferungsbereit, liebestoll, vergöttert den Wissenschaftler.
Diese drei Frauengestalten werden von den Darstellerinnen intensiv verkörpert. Stephanie Eidt als Jelanie, überlegend, abwägend, zerrissen, Verena Bukal als Lisa, in einem Hin und Her der Gefühle und Claude de Demo voll aufgedreht.
Der Tierarzt, den Oliver Kraushaar leicht vor sich hin lächelnd spielt, widerspricht der wissenschaftlichen Träumerei: Der Mensch ist ein Widerling. Er erlebt nicht mehr mit, wie Protassow auf der Strasse geschlagen wird. Er nahm sich das Leben. Zu spät für Lisa, die nun bereit wäre, ihn zu heiraten.
Der Mittelschicht, die Intelligenzija, gelingt es nicht, die Kluft zwischen ihr und den einfachen Menschen aus dem Volk zu überwinden. Sie haben keine Zeit für sich geschweige für die Nöte ihres Personals.
Schlosser Jegor säuft und schlägt seine Frau. Es gibt nur mahnende Worte, aber keine Hilfe für seine Situation mit einer schwer kranken Frau. Viktor Tremmel rastet schliesslich aus.
Das respektlose Dienstmädchen schmeisst den Bettel hin und verkauft sich an einen reichen Typ. Die Intelligenzija zerstört sich psychisch, die Menschen aus dem Volk oft auch durch Gewalt.
Josefin Platt, Isaak Dentler; Foto © Birgit Hupfeld
Anders als in der Aufführung des Deutschen Theaters in Berlin, schauspielerisch exzellent, die auch in Frankfurt zu sehen war, geht es nicht nur um die Beziehungsprobleme der Mittelschicht, sondern auch um das unterdrückte Volk. In der Inszenierung von Andrea Moses, die Intendant Oliver Reese wegen Erkrankung der Regisseurin gegen Ende übernahm, sind es dreizehn Akteure, die zu Wort kommen: das Kindermädchen, das Dienstmädchen, vor allem Jegor, der Schlosser, und auch noch Statisten. In Berlin waren es acht Handelnde, auch Jegor, aber er hatte nicht den revolutionären Auftritt wie in Frankfurt. Dem Gorkischen Gedanken, der die Zerrissenheit zeigen will, kommt die Frankfurter Inszenierung nah. Die Vielfalt hat aber auch ihre Nachteile, es war manchmal „zu viel los“ auf der Bühne. Es war ein Kommen und Gehen zwischen den Säulen, die etwas opernhaft Imposantes haben auf der Drehbühne, die Olaf Altmann geschickt gliederte. Am Ende die grosse, nackte Bühne mit Menschen, die sich finden müssen und die sich der Realität stellen müssen.
Maxim Gorki: „Am allermeisten bin ich darüber erstaunt und erschrocken, dass die Revolution keinerlei Anzeichen einer geistigen Wiedergeburt des Menschen in sich birgt, die Menschen weder ehrlicher noch offenherziger macht, noch ihre Selbsteinschätzung und die moralische Bewertung ihrer Arbeit hebt“ (Programmheft).
„Kinder der Sonne“ ist wieder ab 30. April 2014 zu sehen.
Thomas Bernhard: “Wille zur Wahrheit“ – Bestandsaufnahme von mir
„Ich baue an meinem Denkmal“
Die fünfbändige Autobiographie „Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“ und „Ein Kind“ – geschrieben zwischen 1975 und 1985 – in der Theaterfassung von Intendant und Regisseur Oliver Reese ist zu einem Theaterabend zusammengefasst. Es ist eine spannende Uraufführung. Grandios sprachgewaltig versteht es der österreichische Schriftsteller, sich selbst zu inszenieren. „Jeder Tag war inszeniert“, sagte sein Halbbruder im Gespräch, das im Programmheft angedruckt ist. Nicht alles ist autobiographisch, einiges fiktional. „Was wir veröffentlichen, ist nicht identisch mit dem, was ist!“ hatte Bernhard 1970 gesagt, als er den Georg Büchner-Preis entgegennahm. Seine fünf Kindheits- und Jugend-Erinnerungsbücher dienten vor allem als „Selbstmystifizierung“.
Seine Vater- und Mutterstadt Salzburg, sehr katholisch, restriktiv, in der er einem strengen Erziehungssystem ausgeliefert ist, ist für ihn der „Urgrund“ seines biografischen Scheiterns. Die Flucht in die Kunst, Geigenspiel, ist ein rettender Ausweg – „Die Ursache – Eine Andeutung“. Es geht chronolisch weiter in „Der Keller – Eine Entziehung“. Da erzählt er von seiner Kaufmannslehre. in „Der Atem – Eine Entscheidung“ fühlt er sich erstmals frei. Dennoch Einlieferung ins Landeskrankenhaus, in das zwei Tage zuvor der geliebte Grossvater, der Schriftsteller und Heimatdichter Johannes Freumbichler (1881-1949) verbracht worden war und aufgrund einer Fehldiagnose starb. Er brachte dem Enkel die Literatur nahe, die Bernhard nun als Ausweg erkennt. Die Lungenkrankheit, die zunächst geheilt schien, manifestiert sich zur Tuberkulose. Dann der Tod der Mutter. Er ist fast zwanzig Jahre, als er nach drei Jahren die Krankenhäuser und Sanatorien verlässt. Singen und Schreiben bieten ihm Zuflucht. Auch die Suche nach dem Vater beschäftigt ihn: „Die Kälte – Eine Isolation“. Das fünfte Buch „Ein Kind“ beginnt mit dem Versuch, mit dem Fahrrad auszureißen. Wie eine Heldentat wird sie erzählt. Eine Szene, die in Frankfurt besonders hervorgehoben wird. Diese Schilderungen – eine einzige grosse Theatervorstellung.
Jeder Satz des Theaterabends stammt von Thomas Bernhard.
Peter Schröder, Vincent Glander; Foto © Birgit Hupfeld
Thomas Bernhard (1931-1989), der als uneheliches Kind zur Welt kam, fühlte sich immer ausgestossen. Man hatte aber den Eindruck, er war stolz auf sein Aussenseitertum, er grenzte sich gerne ab und bemitleidete sich gern. Andererseits entwickelte er einen Widerstandswillen, an dem sich später viele die Zähne ausbissen – auch sein Verleger Peter Unseld vom Suhrkamp Verlag in Frankfurt. Die fünf Bücher wurden im Salzburger Residenz Verlag veröffentlicht und nicht wie andere Werke bei Suhrkamp. Verleger und Autor hatten immer wieder komplizierte, spannungsreiche Phasen in ihrer Beziehung. Im November 1988 sah Peter Unseld „eine Schmerzgrenze“ überschritten: Er könne nicht mehr. Bernhard antwortet, wenn er nicht mehr könne, dann solle er ihn aus dem Verlag und aus dem Gedächtnis streichen. „Ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gehabt haben“ (Brief von Thomas Bernhard an Peter Unseld vom 25. November 1988 – zitiert aus einer Broschüre des Suhrkamp Verlages 2006). War er wirklich ein unkomplizierter Autor? Anfang 1989 sehen sich die beiden wieder. Wenige Tage später stirbt Thomas Bernhard.
Bettina Hoppe, Josefin Platt, Viktor Tremmel; Foto © Birgit Hupfeld
Fünf exzellente Schauspieler – alle Thomas Bernhard in einer bestimmten Lebensphase spielend – sind aufgeboten: Bettina Hoppe, ein scharfzüngiger Bernhard, Viktor Tremmel, ein enthusiastischer, Josefin Platt harlekinesk, Vincent Glander frech und der nicht mehr so junge Peter Schröder das Kind. Humor, Witz und Selbstironie gehören auch zu Thomas Bernhard, dessen Werk auch Gedichte und Theaterstücke umfasst.
Aufführungen von „Wille zur Wahrheit“ am 27. und 28. März und im April 2014.
“Biedermann und die Brandstifter“ – Ein Lehrstück ohne Lehre von Max Frisch
Eine bitterböse Fabel vom selbst verschuldeten Zugrundegehen
Brandstifter sind unterwegs. Gottlieb Biedermann, der erfolgreiche Haarwasserfabrikant, hat es in der Zeitung gelesen. „Aufhängen sollte man sie“ ist seine Reaktion. Eines Abends steht ein Unbekannter, der Ringer Schmitz, vor der Haustür und begehrt Aufnahme. Biedermann lehnt ab, aber Anna, das Dienstmädchen, spricht von Menschlichkeit, die er gegenüber dem Obdachlosen walten lassen solle. Schmitz marschiert einfach in die Wohnung, äussert bald seine Wünsche für Essen und Trinken.
„Sie kennen mich?“ und Schmitz antwortet: „Nur von ihrer besten Seite … Sie haben noch ein Gewissen … Sie glauben noch an das Gute in den Menschen und in sich selbst“. Obwohl Herr Biedermann Angst hat, lässt er sich von solchen Sätzen einlullen: „Er ist kein Brandstifter. Ich habe ihn ja selbst befragt.“ Nein, ein Bett brauche er nicht, auf dem Dachboden wolle er schlafen, beschwichtigt ihn Schmitz. Sein Freund, der Kellner Eisenring, quartiert sich auch noch ein. Nachts poltert es gewaltig. Die beiden Brandstifter haben die Benzinfässer auf dem Dachboden positioniert. Herr Biedermann und Frau Babette, die nicht schlafen kann, haben es mitbekommen. Gottlieb Biedermann stellt die „Herren“ zur Rede, die unumwunden zugeben, dass Benzin in den Fässern ist. Biedermann: „Sind Sie eigentlich wahnsinnig? Mein ganzer Dachboden voll Benzin“. Schmitz: „Drum, Herr Biedermann, rauchen wir auch nicht“. Biedermann hilft beim Anlegen der Zündschnur und preist dabei seinen eigenen Humor. Selbst die Streichhölzer reicht der Hausbesitzer den Halunken, weil er sich nicht vorstellen kann, dass Brandstifter keine Streichhölzer haben.
Martin Rentzsch (Schmitz), Till Weinheimer (Eisenring), Peter Schröder (Biedermann); Foto © Birgit Hupfeld
Babette: „Ich kenne meinen Gottlieb. Immer wieder ist er zu gutmütig, ach, einfach zu gutmütig!“ Seine Menschlichkeit ist vorgetäuscht, denn seinen Angestellten Knechtling, dem er gekündigt hat, verhöhnt er: „Diesem Knechtling werde ich die Kehle schon umdrehen … Sie müssen nicht denken, Herr Schmitz, dass ich ein Unmensch sei – Frau Knechtling nämlich behauptet das!“
Herr Knechtling, der Familie hat, nimmt sich das Leben.
Max Frisch (1911-1991) schrieb „Biedermann und die Brandstifter“ 1957/1958. In Zürich war die Uraufführung, die Begeisterung in der Schweiz und in Deutschland war gross. Das Stück wurde als Parabel gegen den Kommunismus gedeutet, gegen Beschwichtigungspolitik und Zurückweichen vor dem Feind im Osten. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Frisch fühlte sich falsch interpretiert. Er fügte ein Nachspiel hinzu: Babette und Biedermann in der Hölle.
Das deutsche Publikum sah in den Brandstiftern die Nazis.
Dieses von Sarkasmus strotzende Stück inszenierte Robert Schuster. Die Frankfurter Theaterbesucher kennen ihn schon lange. Zusammen mit Tom Kühnel und Bernd Stegemann leitete er vor vielen Jahren das TAT im Bockenheimer Depot. Seit zehn Jahren hat er eine Professur an der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“ in Berlin, an der er früher studiert hatte.
Der Mensch ohne Standpunkt verstrickt sich in ein Verbrechen durch vorgetäuschte Menschlichkeit. Irgendwie hochaktuell. Laufen sie nicht überall herum, die Brandstifter, die Hetzer, die Unentschlossenen, die Feiglinge, die Harmoniesüchtigen, die Verbrecher, die Menschlichkeit Vortäuschenden, aber auch die Über-Skeptischen? „Wenn wir jeden Menschen, ausgenommen uns selbst, für einen Brandstifter halten, wie soll es jemals besser werden? Ein bißchen Vertrauen, Herrgottnochmal, muss man schon haben, ein bißchen guten Willen. Finde ich.“ rechtfertigt sich Gottlieb Biedermann.
Josef Rennert (Live-Kamera), Peter Schröder, Esther Dierkes, Matthias Breitenbach; Foto © Birgit Hupfeld
Der Text von Max Frisch ist immer noch brisant. Robert Schuster kombiniert ihn mit einer bühnengroßen Projektionsfläche, die pausenlos Botschaften, Bilder, Eindrücke auf die Zuschauer prasseln lässt. Es ist ein Geflimmere von Fernsehbildern, das kaum in den Griff zu bekommen ist. Toll gemacht, aber Reizüberflutung total (Video: Fettfilm [Momme Hinrichs und Torge Moller]). Bühnenbildner Jens Kilian durchbricht die Wand mit einer Treppe. Stege klappen herunter, der Dachboden entsteht.
Der Chor wurde auf zwei Personen geschrumpft. Gesang aus Nelly Sachs Gedicht „Chor der Geretteten“ und ein mit der Videokamera live aufnehmender Kameramann dazwischen – alles zuviel.
Dabei trägt sich der Text doch selbst, den tolle Schauspieler uns nahe bringen. Allen voran Peter Schröder als Biedermann. Diese Rolle gelingt ihm fantastisch. Martin Rentzsch ist ein wuchtiger, schleimiger, sarkastischer Ringer namens Schmitz; ähnlich sein Kompagnon Eisenring – herrlich gespielt von Till Weinheimer. Was für ein dummes, höriges Weib gibt Heidi Ecks als Babette, Biedermanns Frau! Die Schauspieler retten den Abend. Ich hatte schliesslich aufgehört, mich mit den Fernsehbildern auseinanderzusetzen. Trotzdem: unbedingt reingehen!
Weitere Vorstellungen am 21., 29. und 30. März sowie am 3., 6. und 21. April 2014.
→ Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt / 1
→ Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt (7)