“Vom Dasein & Sosein. Skulptur, Objekt & Bühne” im Frankfurter Kunstverein / 4
Maria Anisimowa und Sabine Kuehnle
Von Erhard Metz
Wo sind Papa und Mama?
Und: Wollten wir uns nicht immer schon mal in die finnische Mythologie entführen lassen?
Ja, vielleicht ist es eine Neigung, eine Schwäche: sich gern entführen, sich mit auf Reisen nehmen zu lassen. Also nicht so banal-real, nicht vom ClubMed, nein, sondern in der Fantasie, gar von Zaubermächten der Poesie beflügelt, in die weiten luftigen Gespinste aus Träumen und Erinnerungen, Ängsten und Sehnsüchten. Wer aber nun könnte uns dabei an die Hand nehmen, wenn nicht die eigentlichen Zauberinnen und Zauberer dieser Welt, die Künstlerinnen und Künstler also mit ihren Werken?
Maria Anisimowa stellt uns im geräumigen Treppenhausabsatz des Frankfurter Kunstvereins Tamara und Valentin vor. Erzählerische Arbeiten von feiner Poesie und bestechender Ästhetik.
Tamara, 2011, Spiegelglas, Holz, Stoff, Grösse variabel, Courtesy the Artist
Ein gediegener, florale Motive zeigender, fast wandhoch fallender Faltenwurf in freundlichen Farben, sie führen über die Palette der Grün-, Ocker- und Beigetöne; Messingringe, wie sie über Gardinenstangen gleiten, lassen an einen Fenstervorhang denken. Darunter auf dem Boden ein sauber gefertigter dreiteiliger Spiegelaufbau. Nur wenige, klug gewählte Materialien also – und welch eine Wirkung!
„Tamara“: Der elegante Faltenwurf lässt ebenso an ein Damenkleid denken. Die Spiegelung von unten hat etwas von Voyeurismus oder „Upskirt“-Szene. Es entsteht ein Spannungsverhältnis: zwischen der Vorstellung eines schützenden, individuellen Raum bewahrenden Vorhangs und eben jener des schlüpfrigen „Unter das Kleid-Blickens“. Man kann aber auch an den Blick des kleinen Kindes hoch zu seiner Mutter denken.
„Valentin“: Eine Art Tisch oder Liegefläche, darüber Abdeckungen, die vielleicht darunter Liegendes verbergen. Ringsum drei verschieden hohe, nach Art von Riesen-Bleistiften oder Palisaden angespitzte hölzerne Pfähle. Ein entfernterer vierter Pfahl trägt eine – vermutete – Bildtafel, ein Porträt vielleicht, die Bildseite abgewandt, die sichtbare Rückwand stockig und verfleckt, die Aufhängung behelfsmässig auf ihr verklebt.
Man könnte an eine intime Szene denken, an ein Sterbebett, eine Totenwache neben einer aufgebahrten Person, an eine sakral-feierliche Situation. Auf der anderen Seite assoziieren wir mit der Arbeit, mit den lanzenhaft anmutenden Hölzern eine gewisse aggressive wie autoritäre Virilität. Und irgendwie fühlt man sich von dem hoch aufragenden, Respekt einfordernden, unsichtbaren und doch vermuteten „Porträt“ bedrängt und überwacht.
Valentin, 2914, Holz, Papier, Stoff, Collage, Grösse variabel, Courtesy the Artist
Worin nun besteht das Erzählerische dieser beiden, benachbart positionierten, jeweils in sich selbst Spannung tragenden wie auch untereinander in einem Spannungsverhältnis stehenden Arbeiten? Die Künstlerin selbst deutet im Gespräch einen möglichen Weg: sie könne mit Valentin und Tamara durchaus einen Gedanken spinnen hin zu Vater und Mutter …
Maria Anisimowa,1984 in Orjol/Russland geboren, studierte an der Hochschule für Gestalung HfG in Offenbach bei den Professoren Wolfgang Luy und Manfred Stumpf. Sie lebt und arbeitet auch heute in Offenbach. Hinter ihren skulpturalen Collagen verbergen sich oft abstrakte Porträts von Personen aus ihrem Freundes- und Verwandtenkreis. Die Künstlerin überzeugt durch ihre schlichten, sorgfältig komponierten Materialien wie durch ihr Vermögen, den Betrachter in den Bann der Geschichten zu entführen, die ihm ihre Skulpturen, wenn er ihnen nachspürt, erzählen.
Gänzlich anders und doch auf eine vergleichbare Weise faszinierend sind die Arbeiten von Sabine Kuehnle.
Sabine Kuehnle, Ein alter Traum (Ausstellungs- und Detailansichten), 2012, Decke, Spiegel, Farbe, Kissen, Gips, Rollen, Seil, Stein, Netzdraht, Holz, 60 x 60 x 80 cm, Courtesy the artist
Da steht es in der Eingangshalle des Kunstvereins – ist es nun einfach ein putziges kleines Kerlchen oder doch ein eher gefährlicher Gegenstand? Könnte man sich hinhocken und es von Näherem und im Einzelnen betrachten – oder sollte man es lieber mit einem Fusstritt möglichst weit weg von sich in eine Ecke stossen? Was würde die geneigte Leserschaft gar tun, wenn sie dieses Objekt auf einem Bahnhof oder Flughafen anträfe? Die den Ängstlichen am Ende beruhigende Materialbeschreibung erklärt ihm denn doch Aufbau und Inhalt des Gebildes auf seinen vier Rollen, so dass sich Gedanken und Assoziationen entwickeln können … Will uns das Kerlchen mit auf eine Reise nehmen, oder will es umgekehrt von uns mitgenommen werden? „Aufgrund ihrer methodischen Synthese von Entfremdung, Kombinatorik und Metamorphose könnte man solche Werke von Sabine Kuehnle auch als surrealistische Objekte verstehen“ (so die Kuratoren).
Was wird eigentlich aus unserem Ausflug in die finnische Mythologie, von dem wir anfangs schrieben?
„Female Metamorphosis“ – so der Titel einer weiteren Arbeit von Sabine Kuehnle. Eine hölzerne Palette, darüber zerbrochene Platten – alsbald denken wir an ein Floss, die Lorbeerbäume verheissen ein Überleben und wirken wie zwei Segel, und tatsächlich gluckst es in den zwei Gläsern nach Wasser, ertönt es wie Meeresrauschen. An mehreren Stellen ragen dichte weibliche Haarbüschel aus dem chaotischen Gefüge: offenbar wird hier die Geschichte einer Frau erzählt. Ist sie auf einem Meer verunglückt?
Sabine Kuehnle, Female Metamorphosis, 2011, Mixed media, dimensions variable, Courtesy the artist
Sie habe sich, erklärt die Künstlerin, mit der finnischen Mythologie und dem Nationalepos der Finnen „Kalevala“ beschäftigt, mit Aino, der schönen Schwester des Joukahainen. Dieser unterlag in einem Gesangsduell dem zaubermächtigen Väinämöinen, der ihn in einen Sumpf verbannte. Um sein Leben zu retten, versprach Joukahainen dem bösen, uralten Väinämöinen seine junge Schwester Aino zur Frau. Doch Aino sprang, als sie den Uralten gewahrte, verzweifelt in einen See. Väinämöinen fing sie mit seinem Zaubernetz, doch die Gewässergöttin Vellamo verwandelte Aino in einen Fisch. Enttäuscht über den Fang warf Väinämöinen den Fisch zurück ins Wasser, worauf dieser sich wieder in Aino zurückverwandelte, die für immer entschwand.
Was für eine gewaltige Geschichte!
Sabine Kuehnle wurde 1968 in Brackenheim geboren. Sie studierte an der Akademie für Bildende Künste der Johannes-Gutenberg Universität Mainz und an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken mit dem Diplom- und Meisterschülerin-Abschluss. Ferner erwarb sie den Master of Fine Art am Chelsea College of Art & Design, London. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
Maria Anisimowa und Sabine Kuehnle am 23. Januar 2014 im Frankfurter Kunstverein
Abgebildete Werke © die jeweilige Künstlerin;
Fotos: Erhard Metz
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