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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

55. Biennale Arte Venedig 2013 (16)

Jean-Frédéric Schnyder
„Apocalypso“

Es ist vermutlich die grösste und sicherlich die rätselhafteste bemalte Leinwand dieser Biennale. Ihre Ausmasse betragen 2,75 Meter in der Höhe und 12 Meter in der Breite. Der Künstler fertigte sie in drei Teilen, die heute zusammengenäht sind.

Bereits der Titel der Arbeit verwirrt: „Apocalypso“ ist nicht das italienische Wort (apocalisse) für Apokalypse; vielmehr scheint es sich um ein Kunstwort aus Apokalypse und Calypso zu handeln, jener afro-karibischen Musik also, die uns, verkörpert durch Harry Belafonte, in unserer Jugendzeit begeisterte. Natürlich werden wir in dem monumentalen Werk auch irgendwo der Meernymphe Kalypso aus der griechischen Mythologie begegnen. Und dessen Reichtum an Bildern und Erzählungen wird sicher nicht demjenigem in der Apokalypse des Johannes nachstehen, dem letzten, als „Offenbarung des Johannes“ bekannten Buch des Neuen Testaments.

„Apocalypso“, entstanden in den Jahren 1976 bis 1978, wird als das frühe Hauptwerk des schweizerischen Künstlers Jean-Frédéric Schnyder verstanden; vielleicht ist es dessen Opus magnum schlechthin.

Jean-Frédéric Schnyder, im Mai 1945 in Basel geboren, wächst in Bern auf. Er absolviert von 1962 bis 1965 in Olten eine Fotografenlehre. Ein Jahr später wird der bekennende Autodidakt mit seinen ersten künstlerischen Arbeiten bekannt. Sie stehen der Pop Art und der Concept Art nahe. Harald Szeemann entdeckt ihn und lädt ihn zur Teilnahme an einer Ausstellung in der Kunsthalle Bern ein. Der Aufstieg in die Reihe der grossen europäischen Künstler beginnt. 1972 bringt Szeemann Schnyders Arbeiten auf die documenta 5. Auch 1982, zur documenta 7, ist Schnyder wieder auf der Kasseler Weltkunstschau vertreten. Und 1993 gestaltet er zur Biennale Venedig den Pavillon der Schweiz.

Schnyder kreiert Plastiken aus Ton, Metall und Holz, entwickelt aus den verschiedensten Materialien Objekte, es dürfen durchaus auch Lego-Bausteinchen oder Kaugummi sein. Seit den 1980er Jahren durchquert er die schweizerischen Lande, auf dem Fahrrad, Malkasten und Staffelei auf dem Rücken, oder per Jahresbillet der Eisenbahn. Ein grosser Landschaftszyklus wird, im Januar/Februar 1993, im Frankfurter Portikus ausgestellt. Doch Schnyder, Maler, Grafiker, Objekt- und Installationskünstler, wandernd und mäandernd zwischen Realismus, Symbolismus und Abstraktion, verweigert sich jeder Zuordnung zu einer künstlerischen Stilrichtung. „Disparität und Diskontinuität seines Werkes“ sind ihm „zur Lebensnotwendigkeit geworden“ (Portikus). Und manche sagen ihm nach, er persifliere den herkömmlichen Kunstbetrieb.

Jan Frédéric Schnyder, Apocalypso, 1976-78, Öl, Wasserfarbe und Textil auf Leinwand, ca. 275 cm x 1200 cm; Courtesy J.F. + M. Schnyder

Das 12 Meter-Werk haben wir in drei überlappenden Aufnahmen fotografiert. Es ist das grosse Welttheater, die ganz grosse Erzählung von Leben, Tod und Erlösung, die sich vom Universum und vom Totentanz der Skelette bis hin zur Schatzkiste neben dem gestrandeten Boot unter den Palmen der Karibik erstreckt, hin zu dem kleinen schwarzhäutigen, auf das Meer hinausblickenden Mädchen im wehenden roten Rock. Man wird Wochen, wahrscheinlich Jahre benötigen, um den Bildreichtum gänzlich zu erfassen und ihn für sich zu deuten. Vielleicht beginnt dies bereits mit der Frage, ob links im Bild eine Allegorie des Künstlers selbst, mit seinem geliebten Hund Dritchi, als Zaubermeister und Zirkusdirektor den grossen Reigen eröffnet.

„In seinem fantastischen Universum“, schreibt Gabrielle Schaad auf der Homepage des Kunstmuseums Luzern, „verschränken sich Apokalypse und Assoziationen des Wortes ‚Calypso‘ zu einem Jüngsten Gericht, wie es die zeitgenössische Vorstellungswelt hervorbringt. Das Werk wird zum Ausgangspunkt einer endlosen Reihe von Querbezügen. Vom Totentanz vor Saturnmond bis zum Tropen-Paradies bezieht Schnyder die menschliche Sehnsucht nach Exotik und Erotik ein, um so schliesslich Mythen des Alltags wie den Marsmenschen, die Südseeinsel oder das Varieté zu dekonstruieren“.

Wir beschliessen mit diesem Beitrag unsere Berichtsfolge von der 55. Biennale 2013 in Venedig.

Abgebildetes Werk © J.F. + M. Schnyder; Fotos: FeuilletonFrankfurt

(Die Biennale Arte di Venezia
endet am 24. November 2013)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (1)


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