home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

55. Biennale Arte Venedig 2013 (10)

Der grosse Auftritt Chinas (1)

Von Erhard Metz

Etwa 400 chinesische Künstlerinnen und Künstler traten zur diesjährigen Biennale in Venedig an und zeigen an den verschiedensten Schauplätzen, teils eher im Verborgenen und nur mit einigem Enthusiasmus zu entdecken, ihre Arbeiten. Pompös, bombastisch dabei der „offizielle“ Auftritt Chinas, vertreten durch das Kultusministerium der Volksrepublik, in einer grossen Halle am Rande der historischen Arsenale sowie im angrenzenden Garten mit dem zauberhaften Namen Giardino delle Vergini. Als Biennale-Kommissar treten die China Arts & Entertainment Group CAEG auf, als Kurator Wang Chunchen, im Hauptberuf Chef des kuratorischen Forschungsteams am Museum der Central Academy of Fine Arts in Peking und Co-Kurator am Eli and Edythe Broad Art Museum der Michigan State University.

Doch dominiert über diesem ganzen chinesischen Geschehen in Venedig, gerade im Blick auf die Publikumsresonanz, letztlich nur ein Name, der Name des Chinesen, der nicht persönlich anreisen konnte: Ai Weiwei. Grossartig seine raumgreifende Installation „Bang“ aus 886 antiken chinesischen Hockern, als ein Teil des Beitrags Deutschlands zur Weltkunstschau.

Sieben in China zumeist bekannte Künstler aus den Bereichen Malerei, Installation, Fotografie und Video wählte nun Kurator Wang Chunchen aus. Der Titel des chinesischen Auftritts lautet „Transfiguration – The Presence of Chinese Artistic Methods in Venice“.

Transfiguration – Verwandlung, Offenbarung; in der christlichen Tradition versteht man darunter vor allem die Verklärung Christi. Wang Chunchen wählte den Titel im Blick auf das Motto dieser Biennale „Il Palazzo Enciclopedico“ – der „enzyklopädische Palast“ (in dem, im Sinne der Encyclopédie von Denis Diderot, das gesamte Wissen der [Kunst-]Welt zusammengeführt und aufbereitet wird), als eine Art Brückenschlag zwischen den kulturellen Werten der Vergangenheit und der Gegenwart, denen des Ostens und des Westens, zwischen dem Leben und der Kunst wie auch umgekehrt zwischen der Kunst und dem Leben und vor allem zwischen der analogen und der digitalen (Kunst-)Welt.

Von den sieben Künstlern, die China als offizielle nationale Vertretung ins Rennen nach Venedig schickte, haben wir bereits den vielleicht interessantesten und künstlerisch selbständigsten (dem Vernehmen nach auch mutigsten und systemkritischsten) Aktionisten und Querdenker vorgestellt: He Yunchang.

He Yunchang, The Seawater of Venice, 2013, Performance, Ausstellungsansicht

Mit seinen „Guge Bricks“ stellte Shu Yong eine nicht minder, auch politisch interessante Arbeit in den Giardino delle Vergini: eine Mauer aus 1500 „Ziegelsteinen“, aus transparentem Harz, darin eingelassen ein beschriftetes Blatt Reispapier, ein jeder „Ziegelstein“ etwa im Format eines Steins der grossen chinesischen Mauer.

Shu Yong, Guge Bricks, Ausstellungsansichten

Guge war der Name eines untergegangenen Königreichs im westlichen Tibet (!). „Guge “ könnte aber auch eine Verballhornung von „Google“ sein, denn der Künstler übersetzte 1500 populäre chinesische Phrasen und Redewendungen mit Hilfe des Google-Übersetzers in die englische Sprache und schrieb beide Versionen – kalligraphisch und einfach-handschriftlich – auf das Reispapier, das er jeweils in den einzelnen „Ziegel“ eingoss. Natürlich produzierte die Maschinenübersetzung so manches Ungereimte und Unsinnige. Shu Yong macht in seiner Arbeit den Widerspruch anschaulich zwischen den vermeintlich fortschrittlichen technischen Möglichkeiten der digitalen Welt und dem fortdauernden Missverständnis zwischen den Kulturen: eine Diskrepanz, die durch die Digitalisierung der gesellschaftlichen und kommunikativen Prozesse – der Google-Übersetzer als ein Beispiel dafür – nicht nur nicht behoben, sondern im Gegenteil geradezu befördert wird.

Am Ende zerbricht und zerfällt die Mauer aus „Guge-Bricks“: Resignation? Oder vielmehr Hoffnung darauf, dass die Mauer aus Bausteinen des Nichtverstehens zusammenbricht?

Shu Yong wurde 1974 in der Provinz Hunan geboren. Er studierte an der Guangzhou Academy of Fine Arts. Der Künstler lebt und arbeitet in Peking.

Hu Yaolin, 1977 in der Provinz Zhejiang geboren, studierte an der China Academy of Art Research. Er lebt und arbeitet ebenfalls in Peking.

Hu Yaolin befasst sich mit der Zerstörung wie der Restaurierung und dem Wiederaufbau traditioneller chinesischer Häuser, wobei er ältere historische bauliche Komponenten sammelt und einsetzt, seine Konstruktionen aber oft mit anachronistischen Materialien verfremdet. Im Giardino delle Vergini errichtete er eine Installation im für die chinesische Architektur klassischen Hui-Stil längst vergangener chinesischen Dynastien: eine Auseinandersetzung mit dem Transformationsprozess („Transfiguration“!) im sich oft überstürzt entwickelnden zeitgenössischen China, dem wertvolle historische Bausubstanz bedenkenlos zum Opfer fällt.

Hu Yaolin, Thing-in-itself, Installation

Miao Xiaochun wiederum setzt sich mit Motiven und Hintergründen christlich-abendländischer Malerei im Zeitalter von Globalisierung, Technisierung und Digitalisierung auseinander. In seinem „Transfigurationsprozess“ verfremdet er eine Darstellung der Kreuzigung des Hl. Petrus sowie das Fresco von Michelangelo „Das jüngste Gericht“ in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan.

Out of Notion – Public Enemy, Öl auf Leinwand, 2012, 400 x 400 cm; ↑ der Künstler vor seiner Arbeit (in der verdunkelten Ausstellungshalle mit störendem Lichtreflex rechts unten), ↓ Detailansicht

Schreckensvision auch eines Nicht-Christen: der kopfunter gekreuzigte Petrus und seine Folterknechte als entseelte, maschinisierte Roboter-„Menschen“.

Schrecken auslösend und provozierend ebenso die Interpretation und Kontextuierung des „Jüngsten Gerichts“, einem Opus magnum von Michelangelo. Wir zitieren aus dem Wandtext der Ausstellung: „Miao Xiaochun’s work is the observation and interpretation of the history and culture from a contemporary perspective. It forms a viewpoint for Chinese artists to see the civilization of the world; not only has Chinese art examined and absorbed the essence of Western art history, but also presents the unique creativity of Chinese contemporary artists. It belongs to the kind of practice that would open up ancient and modern civilizations … [it] is also a reinterpretation of western art history, and it shows the worldview and the ability of control of a Chinese artist … it is no longer a purely religious scene; it becomes an image of a greater world that is based on the equality of all human beings.“

↑ Miao Xiaochun, The last Judgement in Cyberspace, 2006, Projektion einer Computergrafik (Totale und Detail)
↓ Michelangelo (1475 bis 1564), Das jüngste Gericht, 1534 – 1541, monumentales Fresco in der Sixtinischen Kapelle, Vatikan (Bildnachweis: Angelus/wikimedia commons cc)

Miao Xiaochun, 1964 in Wuxi, Jlangsu geboren, Fotokünstler und Computergrafiker, studierte an der Universität Nanjing sowie an der Central Academy of Fine Arts in Peking. Von 1995 bis 1999 setzte er sein Studium an der Kunsthochschule Kassel fort. Er ist Dozent am Department Photography and Digital Media der Central Academy of Fine Arts in Peking.

Abgebildete Werke © jeweilige Künstler; Fotos (ausser Michelangelo, Das jüngste Gericht): Erhard Metz

(Die diesjährige Biennale Arte di Venezia
dauert noch bis zum 24. November 2013)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (11)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (1)

 

Comments are closed.