Mein Computer ist unantastbar
Von Hans-Burkhardt Steck
Immer wieder sehen wir, tief befriedigt, eifrige Menschen in Betriebe und Wohnungen verdächtiger Subjekte wie Boris Becker, Klaus Zumwinkel oder Uli Hoeneß marschieren und mit grossen Kartons wieder rauskommen. Und was stellen die am liebsten sicher? Richtig – Computer, Computer und nochmals Computer. Beziehungsweise deren Festplatten und andere Datenträger.
Oder kürzlich in einem südlichen Bundesland. Da ist einer seit vielen Jahren in der berüchtigten strafrechtlichen Unterbringung. Kaum hat er mal Urlaub zum Probewohnen, filzt ein Sicherheitsdienst sein Zimmer in der Anstalt, schnappt sich sein Notebook und guckt sich alles an, in der Hoffnung, was Strafbares zu finden. Aber Pustekuchen. War nix. Prompt gibt der Sicherheitsdienst den Computer der Polizei, weil die noch besser suchen kann.
Ob der das darf, das lassen wir für den Moment mal dahingestellt. Uns interessiert was anderes.
Wenn man heutzutage mit jungen Leuten zu tun hat, dann fällt eins auf: Zu ihrem Leben gehört ihr Computer. Wir Älteren nutzen ihn als Arbeitsmittel, Textverarbeitung, Grafikprogramme, Kompositions- und Notensoftware, Mailen, Faxen und dergleichen. Er ersetzt jedem von uns eine Menge Gelaufe und Gewese und macht Schreibkräfte, Setzer, Drucker, Notenstecher und unzählige weitere Berufe entbehrlich.
Bei den jungen Leuten ist das anders. Für die, die schon halbwegs bei Bewusstsein waren, als sie zum ersten Mal einen Computer ihr Eigen nennen durften, ist er immer noch ein Werkzeug, wenn es auch ganz anders genutzt wird, vor allen Dingen als Musik- und Filmspeicher und als Auskunftgeber. Die aber, die schon im Vorschulalter von ihren fortschrittsgläubigen Eltern mit einem eigenen todschicken Notebook beschenkt wurden, die sind schon sehr viel anders. Wir reden hier nicht von der digitalen Demenz, die ist ein eigenes Thema. Wir beobachten, daß der Computer (auch der, der ihnen nicht selbst gehört) gleichsam zum Teil ihrer Persönlichkeit wird, vor allen Dingen in seiner Erscheinungsform als Smartphone. Wenn sie was nicht wissen, und das ist, fragt man aus dem Bildungskanon der Älteren, den bis vor kurzem alle für allgemeinverbindlich und allgemeinkundig hielten, so gut wie immer … nee, das ist gemein: recht oft der Fall, dann entschuldigen sie sich nicht und schieben es auch nicht darauf, dass sie ja jederzeit im Computer nachsehen könnten. Nein, es ist für sie vollkommen selbstverständlich und kein bisschen peinlich, elementarste Dinge nicht zu wissen, sogar zahlreiche Alltagsbegriffe der eigenen Muttersprache nicht zu kennen. Sie haben ja – nein, haben ist nicht der richtige Ausdruck: Mit ihnen ist ja ihr Computer. Und was der weiss, das wissen sie auch.
Wie Sänger oder Schauspieler, die ihren Text auf den Handrücken oder sonstwohin schreiben und damit gewissermassen inkorporieren, betrachten sie ihr Notebook oder ihr Smartphone als wirklichen Teil ihrer selbst, als ausgelagertes, externes Zweithirn. Fragst Du sie: Wie hiess der erste Herztransplantationspatient von Christian Barnard, dann kommt nicht binnen weniger Sekunden, aber doch in einer halben Minute die richtige Antwort (Louis Vashkansky) – und wenn das Frage- und Antwortspiel am Telefon stattfand, wirst Du nie erfahren, daß Dein Gesprächspartner noch nie etwas von Christian Barnard gehört hat und das Wort „Herztransplantation“ ebensowenig. Du bist vielmehr schwer beeindruckt und erzählst jedem, der es hören will oder auch nicht, wie verteufelt gebildet doch die Jugend von heute sei und wie wir Alten da abstinken.
Der Einsatz des Zweithirns ist für diese Menschen das Selbstverständlichste von der Welt. Es ist ihnen kein bisschen unangenehm, ihm die Antwort auf Fragen zu überlassen, weil es ja schliesslich das eigene Zweithirn ist (das gilt, wie gesagt, ungeachtet der bürgerlich-rechtlichen Eigentumsverhältnisse).
Einer jener Generation brachte es auf den Punkt: Ein Computer ohne Internet hat doch eigentlich gar keinen Nutzen.
Was? Wie? Unsereins ist fassungslos. Aber das meinte er völlig ernst, es kam ganz spontan, und er war nicht der einzige. Wie kann das sein?
Wahrscheinlich liegt diese verwirrende Ausssage daran, dass diese Menschen niemals das, was ihnen der Computer abnimmt, selbst gemacht oder auch nur dabei zugeschaut haben. Einen Brief, eine längere Ausarbeitung oder gar eine juristische Haus- oder eine Doktorarbeit mit der Schreibmaschine zu schreiben, diese schöne Erfahrung fehlt ihnen. Erst recht das Gewürge mit der mechanischen Schreibmaschine oder die entsetzliche Zeit vor Erfindung des TippEx. Mussten sie jemals den Preis von Präzisionsstahlrohren mit einer Kurbelrechenmaschine kalkulieren?
Brauchten Sie einen Grafiker oder Setzer und eine Druckerei für ihr Briefpapier? Haben sie die Buchführung einschliesslich Jahresabschluss mit der Hand, allein bewaffnet mit einem einfachen Taschenrechner, gemacht? Lebten sie je ohne elektronischen Kalender und programmierbaren Wecker? Brauchten sie für jeden mehr oder weniger vernünftigen Einfall einen Notizzettel und ein Schreibwerkzeug und hatten, wenn beides endlich gefunden war, alles wieder vergessen? Oder den von genialen Einfällen förmlich berstenden Zettel verlegt? Bzw. das noch unfertige Gedicht? Und haben sie Filme zum Entwickeln gebracht, Negative studiert, Papierbilder bestellt, teuer bezahlt, in Kartons gelagert und nie mehr gefunden? Oder mühselig ein Versteck für das höchst private Tagebuch gesucht, statt sich nur ein Passwort auszudenken.
Nee, das kennen sie alles nicht. Sie kennen das Leben nicht anders als mit Textverarbeitung und Tabellenkalkulation, Full-Text-Retrieval und Timer, Grafikprogramm, Bildbearbeitung und -archivierung. Diese Funktionen ihres Zweithirns sind ihnen so selbstverständlich wie Gehen und Atmen. Da fehlt nicht viel zu einer unbewussten oder vegetativen Nutzung …
Früher war ein beliebtes Thema der Science-Fiction-Schriftsteller, sich und uns auszumalen, wie die Menschen in ferner Zukunft fest mit ihren Computern verdrahtet sein werden und schliesslich eines ganz fernen Tages nur noch aus Schaltkreisen bestehen sollen, nachdem sie das Organische und Sterbliche abgestreift haben. Diese Zukunft fängt gerade an.
Nur – was hat das alles mit dem Laptop des untergebrachten Straftäters zu tun? Allerhand.
Der sogenannte Sicherheitsdienst der Klinik hat sich den Laptop ohne irgendeinen konkreten Verdacht geschnappt und darauf hin untersucht, ob man nicht vielleicht irgendwas Verbotenes drauf finden könnte. Man schaute sich alles an, was auf dem Computer gespeichert war, fand nix und gab ihn nicht etwa zurück, sondern der Polizei, damit die noch verschärft suchen kann.
Alles, alles, alles, was der Mann jemals seinem guten, alten Computer anvertraut hat, ziehen sich nun fremde, ihm nicht wohlgesonnene, misstrauische, überall Gangster witternde Kripobeamte rein. Nehmen wir nur mal einen ganz kleinen Bereich: Für viele ist der Computer Tagebuch, Beichtvater und Bewahrer seltsamster Phantasien. Sie schreiben alles mögliche, was niemals rausgehen und niemals jemand lesen sollte, privateste, intimste Dinge, geheime Sehnsüchte und glühenden Hass auf irgendwen – Lehrer, Schulkameraden, Bundeskanzlerin, wer auch immer. Ihrem Computer gegenüber sind sie völlig offen. Da brauchen sie kein Schweigerecht, da sind sie nicht berechnend, nicht werbend, nicht bösartig, einfach offen. Ist ja ein Teil von ihnen selbst.
In dem jetzt die Polizei herumwühlt, noch dazu ohne irgendeinen Tatverdacht (was allerdings nicht der entscheidende Punkt sein sollte).
Und das hat einen ganz unangenehmen Beigeschmack. Das hat was von Gedankenpolizei. Von Wahrheitsdroge und von unwürdiger Behandlung. Tatsächlich nehmen sie einem Menschen einen Teil seiner selbst bzw. seines Selbst weg und sezieren es nach allen Regeln der Kunst. Der so Beraubte kann nicht mehr mit seinem Zweithirn kommunizieren, ist auf sich allein gestellt, hilflos, seine vertrauten Aufzeichnungen, sein Tagebuch, seine Musik, Fotos, Filme – alles weg. Die schönen Entwürfe von Briefen an Obama und Putin, dolle Liebesbriefe an die entzückende Uschi von der Leyen, die detaillierte Schilderung der Entführung des Therapeuten der Klinik, privateste, peinlich schlechte Gedichte – nichts davon war für Andere, und jetzt sitzen die davor, lesen sich gegenseitig die peinlichsten Stellen vor und lachen sich tot.
Sind wir schon so weit, dass der Computer ein Teil der Person ist oder sein kann? Müssen wir ihn zu uns unter den Schirm von Artikel 1 des Grundgesetzes ziehen? Ist die Würde des Menscheins und seines Computers unantastbar?
Jedenfalls muss man darüber nachdenken.