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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Mollath – Mollath – Mollath

Von Rechtsanwalt Dipl.-Soziologe Hans-Burkhardt Steck

Worum geht’s eigentlich in der vieldiskutierten Angelegenheit des Herrn Mollath wirklich?

Der Kern der Sache ist der Begriff der Rechtskraft. Die kann nur durch ein Wiederaufnahmeverfahren beseitigt werden. Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens ist – aus vertretbaren Gründen – nur unter superstrengen Voraussetzungen möglich. Die sollen laut Verteidigung und Staatsanwaltschaft im Fall Mollath vorliegen, nach Ansicht des zuständigen Landgerichts jedoch nicht. Diese ganze sehr komplexe Problematik wird auf Grundlage der althergebrachten Denkmuster und Argumente ausgetragen, die unversöhnlich aufeinanderprallen und den jeweiligen Interessen dienstbar gemacht werden.

Nur: Lässt sich der bunte Strauss an Rechtswirkungen der Rechtskraft, wie sie Gesetz und Rechtsprechung hervorgebracht haben, auf solche Fälle überhaupt anwenden? Passen die Begriffe? Oder führen sie nicht vielmehr geradewegs in die Irre?

Gedacht ist die Sache so: Jemand begeht eine Untat. Das Gericht klärt den Sachverhalt, hält ihn im schriftlichen Urteil fest und bestimmt die Strafe. Das Urteil wird rechtskräftig, wenn auf Rechtsmittel verzichtet wird, wenn innerhalb der gesetzlichen Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird oder wenn das Rechtsmittel durch das Obergericht verworfen wird und es kein weiteres gibt. Erst jetzt darf das Urteil vollstreckt werden, denn im Gegensatz zum Zivilprozess sind nur rechtskräftige Strafurteile vollstreckbar.

Bildnachweis: © Thorben Wengert/pixelio.de

Streng genommen umfasst die Rechtskraft nur den sogenannten Tenor eines Urteils, also den Satz: „Der Angeklagte wird wegen Ladendiebstahls zu hundert Jahren Gefängnis verurteilt“ oder so ähnlich. Für das Verfahren (und das ist ganz wichtig: nur für das Verfahren) muss auch der vom Gericht festgestellte Sachverhalt als „Wahrheit“ betrachtet werden, solange die Rechtskraft nicht durch Wiederaufnahme beseitigt ist. Auf dieser Basis wird das Urteil umgesetzt, d. h. der Verurteilte sitzt (maximal) die gegen ihn verhängte Strafe ab, und dann ist gut.

Dafür ist das klassische Verständnis von Rechtskraft durchaus sinnvoll. Wollte man ihre Durchbrechung massiv erleichtern, würde das die Funktionsfähigkeit der Strafjustiz jedenfalls nicht fördern.

Aber, und das ist ein grosses Aber: Passt dieser ganze Kram überhaupt auf Urteile, die eine „Massregel“ verhängen, also beispielsweise die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus?

Nein, er passt nicht. Denn ein solches Urteil unterscheidet sich dermassen krass von einem „normalen“, dass die Gleichbehandlung hinsichtlich der Rechtskraft geradezu abwegig erscheint.

Schon der Tenor so eines Unterbringungs- oder Einweisungsurteils sieht vollkommen anders aus. Da heisst es manchmal: „Der Angeklagte wird freigesprochen. Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wird angeordnet.“ Manchmal nur: „Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus wird angeordnet.“ D. h. dem Tenor ist nicht einmal zu entnehmen, was der Verurteilte verbrochen haben soll, nicht einmal „Mord“ oder „Beleidigung“. Schon da wird deutlich: Im Zentrum steht die Unterbringung und nicht, wie sonst, die Straftat.

Die Unterbringung steht und fällt mit der medizinischen Diagnose. Die kann natürlich nur richtig oder falsch, aber nicht „rechtskräftig“ sein. Eine rechtskräftige Diagnose – das ist eine geradezu kindische Vorstellung. Was sollte damit gesagt sein? Wenn der Arzt eine Fehldiagnose stellt und als Therapie schwere Neuroleptika empfiehlt, dann wird man die wohl kaum der Rechtskraft zuliebe verabreichen dürfen, wenn sich später die eindeutige Unrichtigkeit der Diagnose erweist und der Zustand des Verurteilten durch Neuroleptika gerade noch verschlechtert wird. Ärztliche Diagnosen sind, das sollte eine bare Selbstverständlichkeit sein, einem Begriff wie der Rechtskraft völlig unzugänglich.

Noch bedeutender aber ist der Unterschied zwischen dem „normalen“ und dem Einweisungsurteil bei Betrachtung der Sanktion. Das „normale“ Urteil benennt die (maximal) zu verbüssende Strafe konkret und steckt damit ein- für allemal den zeitlichen Rahmen ab. Das „normale“ Urteil benennt die Straftat, schildert den vom Gericht festgestellten Sachverhalt und setzt die Sanktion(en) fest. Das Einweisungsurteil dagegen lässt überhaupt nicht erkennen, wie lang dem Betroffenen die Freiheit genommen werden wird. Denn schon nach einem Jahr muss ein anderes Gericht, die sogenannte Strafvollstreckungskammer, prüfen und entscheiden, ob die Vollstreckung der Unterbringung noch zwingend erforderlich ist (nur dann darf vollstreckt werden) und es wirklich kein milderes Mittel gibt. Wenn sich bei dieser sachverständig unterstützten Prüfung herausstellt, dass das Einweisungsurteil auf einer Fehldiagnose beruht, kann (und muss) der Verurteilte ohne weiteres entlassen werden, Rechtskraft hin und her.

Und diese Prüfung wiederholt sich jedes Jahr. So kann niemand vorhersagen, wie lang der Freiheitsentzug am Ende dauern wird. Es können zwei, fünf, zehn, aber auch 25 Jahre und mehr sein. Das wichtigste Element des Strafurteils, nämlich die Sanktion, bei Freiheitsentzug also dessen Länge, fehlt im Einweisungsurteil völlig. Das bedeutet, dass das “Erkenntnisverfahren” – d. h. das Verfahren, in dem im Rahmen der Hauptverhandlung das Urteil gesprochen wird – in das Vollstreckungsverfahren hineingezogen wird. Die übliche Trennung zwischen dem Erkenntnisverfahren, in dem das rechtskräftige Urteil gefällt wird, und dem Vollstreckungsverfahren, in dem es unverändert in die Realität umgesetzt wird, existiert im Unterbringungsverfahren schlicht nicht.

Noch krasser sieht das beim zentralen Punkt, zudem dem grössten Schwachpunkt, des Unterbringungsverfahrens aus. Das ist die Prognose. Das Gesetz verlangt vom Richter hellseherische Fähigkeiten. Er soll voraussehen, ob und welche Straftaten der Angeklagte bzw. später der Verurteilte im Falle seiner Entlassung begehen wird. Woher soll er das wissen? Ist das die Aufgabe von Gerichten? Sind Juristen und Psychiater Hellseher?

Komischerweise behauptet niemand, dass auch die Prognose des Einweisungsurteils aufgrund der Rechtskraft unabänderlich sei. Die wird vielmehr jedes Jahr neu erarbeitet. Ist ja auch logisch. Und zeigt mit wunderbarer Klarheit, wie weit es mit den Wirkungen der Rechtskraft eines Einweisungsurteils tatsächlich her ist.

Bildnachweis: © Thorben Wengert/pixelio.de

Nämlich nicht sehr weit, schaut man sich die Sache mal in einer kleinen Übersicht an:

normales Urteil

Einweisungsurteil

Der Tenor enthält:

Delikt und Sanktion

Sanktion

Das Urteil legt fest:

Straftaten

Straftaten

Art der Strafe

Art der Massregel

Höhe der Strafe

Das Urteil bestimmt:

Die maximale Länge des Freiheitsentzugs

Nichts zur Länge

des Freiheitsentzugs

Kriminalprognose:

Nur bei Bewährung. Bei Vollverbüssung bedeutungslos!

Zentrale Kategorie

Im Vollstreckungsverfahren mögliche Modifikationen:

Entlassung auf Bewährung nach Halbstrafe oder Zweidrittel

Prognose, Diagnose, Dauer des Freiheitsentzugs flexibel

Bildnachweis: © S. Geissler/pixelio.de

Wozu dies alles?

So mancher Mollath-Kommentar erwähnt achselzuckend die Heiligkeit der Rechtskraft für die Juristen. Da könne man nix machen, die seien eben so. Die Vorschriften seien streng, das sei gut oder schlecht (je nach Weltbild des Kommentators), aber hinzunehmen.

Damit aber werden die für die „normalen“ Urteile entwickelten Grundsätze eins zu eins auf die Unterbringungsurteile übertragen, und das macht nicht den geringsten Sinn. Die normalen Urteile beschäftigen sich im wesentlichen mit der Vergangenheit. Der Angeklagte hat etwas angestellt, daran kann man jetzt nichts mehr ändern. Dafür kriegt er seine Strafe, die sitzt er ab, und fertig. Urteil ist rechtskräftig, da beisst die Maus keinen Faden ab.

Das Einweisungsurteil dagegen bezieht sich im Wesentlichen auf die Zukunft und eröffnet lediglich die Möglichkeit des Freiheitsentzugs. Ob der dann wirklich vollstreckt wird, und vor allen Dingen wie lang, wird nicht in der Hauptverhandlung entschieden.

Wenn nun aber dermassen wenig übrigbleibt, was an einem Einweisungsurteil überhaupt rechtskräftig sein kann, und wenn die Rechtskraft im Ergebnis nur dazu dient, die Vollstreckbarkeit des Urteils zu bescheinigen, während die Länge der Sanktion, die medizinische Diagnose und die kriminologische Prognose der Zukunft überlassen bleiben, warum soll dann der Verurteilte nicht auch die Möglichkeit haben, die ihm vorgeworfenen Straftaten in Frage zu stellen. Nicht mit dem Ziel der Aufhebung des Urteils – dazu dient das Wiederaufnahmeverfahren. Wohl aber mit dem Ziel, im Rahmen der Massregelvollstreckung auch geltendmachen zu können, dass sich die Dinge nicht so abgespielt haben, wie es im Urteil angenommen wurde.

Bislang wehren sich Richter, Staatsanwälte, Sachverständige und Therapeuten erbittert gegen solche Versuche. Wer die ihm vorgeworfenen Straftaten bestreitet, der „leugne“ sie (lüge also), der zeige keine Reue, der sei uneinsichtig, nicht transparent, nicht therapiefähig und überhaupt ein ganz abgefeimter Halunke.

Merkwürdigerweise aber nehmen, und das ist das wirklich Bemerkenswerte an der Debatte, zahlreiche Kommentatoren diese Möglichkeit für sich selbst umstandslos in Anspruch. Sie schildern die rechtskräftige Verurteilung des Herrn Mollath, beschreiben die aktuellen Erkenntnisse und kommen zu dem Schluss, daß das Einweisungsurteil ganz und gar nicht überzeugend sei. Sie tun also haargenau das, was dem Verurteilten als uneinsichtiges Leugnen, das einer Entlassung entgegenstehe, vorgehalten wird.

Die veröffentlichte Mehrheitsmeinung wird man so zusammenfassen können:

1. Man hätte Mollath nicht verurteilen dürfen, weil die Beweise nicht reichten und reichen.

2. Wenn man ihn schon verurteilt hat, dann soll man ihn eben jetzt entlassen, erstens, weil die Beweise weder damals noch heute reichten und reichen, und zweitens, weil er nicht gefährlich zu sein scheint.

Da schreien die Juristen, wild mit den Argumenten fuchtelnd, auf: So gehe es ja nun ganz und gar nicht, das Urteil sei rechtskräftig, damit sei sein Sachverhalt gefälligst anzuerkennen, solange es nicht in einem Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben sei. Das wiederum schert die Journalisten kein bisschen, die bleiben dabei, dass es eine Gemeinheit und Ungerechtigkeit sei, jemanden auf einer dermassen dünnen Beweislage gefangen zu halten. Das wiederum kann den Journalisten keiner verbieten.

Und wenn der Verurteilte in das gleiche Horn tutet, dann wird ihm genau die Diskussion seiner Sache verboten, die von der Öffentlichkeit mit Hingabe geführt wird. Ist das wirklich in Ordnung? Man muss ihm doch erlauben, seine Argumente gegen seine Verurteilung vorzutragen! Das ist nicht nur fair, es kann auch erheblichen Aufschluss bringen, denn es gibt auch den einen oder anderen Untergebrachten, der nicht fehleingewiesen ist und der etwa argumentieren könnte, er habe sich zur Tatzeit auf dem Mond aufgehalten, was auf eine Wahnerkrankung hinweisen könnte. Ein anderer dagegen könnte in jahrelanger akribischer Arbeit absolut überzeugende Beweise gegen seine Schuld zusammengetragen haben. Warum soll sich die Strafvollstreckungskammer nicht damit befassen? Immerhin ist doch nichts teurer als ein strafrechtlich Untergebrachter.

Und was ist eigentlich, wenn jemand ein absolut unangreifbares Alibi hat, das das erkennende Gericht, die Staatsanwaltschaft und der unengagierte Verteidiger aus Dummheit oder Faulheit einfach übersehen haben, das man aber mit etwas Scharfblick den Akten hätte entnehmen können? Das rechtfertigt nämlich die Wiederaufnahme nicht! Warum soll das keine Rolle spielen, wenn es um die Gefährlichkeit des Probanden geht?

Es ist ja nun nicht immer so, dass eine Straftat angezeigt wird, der Angeklagte sie bestreitet, er durch die in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise einwandfrei überführt wird und das Urteil vollkommen zu recht ergeht. So stellt sich das der Laie vor, aber so ist es nur hin und wieder. Es gibt die verschiedensten Konstellationen:

1. Der Angeklagte legt ein absolut überzeugendes Geständnis ab, das auch mit allen übrigen Erkenntnissen übereinstimmt und offensichtlich wahr ist. Nach rechtskräftiger Verurteilung fängt er plötzlich an, die Tat zu bestreiten.

2. Der Angeklagte bestreitet die Tat zunächst, die Beweise sind soso, lala, das Gericht macht ihm klar, dass er ohne Geständnis eine viel höhere Strafe zu erwarten habe, der Verteidiger redet ihm gut zu, und schliesslich sagt er: Ich war es zwar nicht, aber ich gestehe es. Und wird verurteilt.

3. Der Angeklagte bestreitet die Tat konsequent, ist aber über jeden Zweifel erhaben und ganz einwandfrei überführt, weil er bei einer öffentlichen Kundgebung ein Attentat auf den Hauptredner begangen hat, das (wie die Ermordung von Lee Harvey Oswald) von mindestens 20 Kameras gefilmt wurde. Trotzdem lässt er sich partout nicht zu einem Geständnis überreden und bleibt auch nach seiner Verurteilung und während der gesamten Vollstreckung und während seines gesamten weiteren Lebens absolut verbohrt dabei, dass ein Doppelgänger die Tat begangen habe. Und das, obwohl er noch während der Tatausübung festgenommen wurde.

4. Der Angeklagte bestreitet die Tat, seine Frau bestätigt, dass er zur Tatzeit zu Hause war, direkte Beweise für seine Schuld gibt es nicht, aber ein paar Indizien. Die reichen dem Gericht zur Verurteilung. Weil ihm sein Verteidiger erklärt, dass nur 2 % der Revisionen Erfolg hätten und die Revision eine furchtbare Arbeit sei, die gar nichts bringen werde, legt er kein Rechtsmittel ein, und die fragwürdige Verurteilung wird rechtskräftig. Oder er legt das Rechtsmittel zu spät ein. Oder er zieht die Revision durch, aber sein Verteidiger ist nicht in der Lage, die Begründung formgerecht anzufertigen. Oder die Revision wird verworfen, weil Fehler in der Beweiswürdigung in aller Regel nicht als Revisionsgrund taugen.

5. Wie schon erwähnt: Der Unschuldsbeweis lässt sich mit etwas Mühe bereits den Akten entnehmen (z. B. in einem Fall, in dem es um genaue Fahrtzeiten und Entfernungen und dergleichen geht), aber alle Beteiligten haben das übersehen, obwohl die entsprechenden (reichlich langweiligen) Aufstellungen in der Hauptverhandlung verlesen wurden. Dann nützt es dem Verurteilten gar nichts, wenn er dieses gravierende Versäumnis später – nach Rechtskraft – bemerkt. Er kann keinen Wiederaufnahmeantrag darauf stützen, denn das geht nur mit neuen Tatsachen. Und Tatsachen, die das Gericht hätte erkennen können, sind nicht neu. Dazu gehört der gesamte Inhalt der Akten, die dem Gericht vorgelegen haben. Auch wenn sie das Gericht übersehen hat! Nicht zu glauben? Stimmt trotzdem!

Und so weiter. Da gibt’s noch viele Varianten mehr. Damit soll verdeutlicht werden, dass Urteil nicht gleich Urteil ist und dass auch Bestreiten nicht gleich Bestreiten ist. Für die Vorhersage, ob jemand in Freiheit wieder Straftaten begehen wird, ist aber sein Verhältnis zur Realität sicher von einiger Bedeutung. Wenn er auch in der Vollstreckung und in den Gesprächen mit den Therapeuten in Fall 1 oder 3 hartnäckig auf seine Unschuld pocht, dann wird man das als Hinweis auf ein gestörtes Verhältnis zur Realität einordnen dürfen. Umgekehrt im Extremfall Nr. 5 kann davon keine Rede sein, im Gegenteil.

Bildnachweis: © Thorben Wengert/pixelio.de

Die hier vertretene These wäre demnach:

Wenn schon die Aufarbeitung der Tat und der Krankengeschichte, die Therapie, die näheren Umstände des Vollzugs und vor allen Dingen die Länge der Freiheitsentziehung komplett den Verfahren nach Rechtskraft des Urteils überlassen bleiben, dann muss dem Verurteilten auch die Möglichkeit geboten werden, nach Rechtskraft des Urteils dessen Tatbestand in Frage zu stellen, ohne damit die Rechtskraft und den Bestand des Urteils angreifen zu wollen. Es muss einfach möglich sein, dass ein Beschluss über die Fortdauer oder die Erledigung der Massregel Sätze enthält wie:

„Der Verurteilte bestreitet die ihm zur Last gelegte Tat und weist mit einem akribisch gefertigten Auszug aus den Ermittlungsakten überzeugend nach, dass er die Tat nicht begangen haben kann. Die Strafvollstreckungskammer hat im Hinblick darauf dem psychiatrischen Sachverständigen aufgegeben, sich auch dazu zu äussern, ob der Verurteilte als gefährlich einzustufen sei, wenn davon auszugehen sei, dass er die Anlasstat nicht begangen habe.“

„Der Verurteilte ist durch die in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise über jeden Zweifel erhaben überführt. Er wurde während der Tatausführung von mehreren Kamerapositionen aus gefilmt und noch während der Tat festgenommen. Gleichwohl bestreitet er seine Täterschaft durchgehend und behauptet, die Tat sei durch einen Doppelgänger begangen worden. Nach den überzeugenden Darlegungen des psychiatrischen Sachverständigen deutet dies auf einen bedenklichen Realitätsverlust hin, der zusammen mit den übrigen erhobenen Befunden eine positive Kriminalprognose nicht erlaube.“

Warum um alles in der Welt soll während der Vollstreckung einer solchen Unterbringung nicht auch die Täterschaft, die schliesslich das Wichtigste ist, diskutiert werden? Wer hat eigentlich etwas von diesem Denk- und Sprechverbot? Die förmliche Aufhebung des rechtskräftigen Urteils ist das eine. Dafür gibt es das Wiederaufnahmeverfahren. Die Berücksichtigung der seinerzeitigen Beweislage in der umfassenden Falldiskussion im Rahmen der jährlichen Anhörungsverfahren ist etwas anderes. Dem Rechtsstaat fällt dadurch kein Zacken aus der Krone.

Ausserdem: Wie kommt der Staat eigentlich dazu, Leute unbefristet und auf unabsehbare Zeit einzusperren, teilweise zehnmal, fünfzehnmal länger als die gesetzliche Höchststrafe für das jeweilige Delikt (!), und ihnen gleichzeitig zu verbieten und zu verübeln, die Berechtigung dieses Freiheitsentzugs in Frage zu stellen? Solange es der Betroffene hinnehmen muss, dass ihm niemand sagt, wann er wieder rauskommt, und solange er ertragen muss, dass die verwahrende Klinik mit allen Mitteln versucht, das Gericht zur Verlängerung der Unterbringung zu überreden (und so faktisch und gänzlich unbestreitbar die eigenen Arbeitsplätze zu sichern) – solange hat man seine Version und seine Argumente zur Tat gefälligst anzuhören und zu erwägen. Schliesslich wird der psychische Zustand des Betroffenen auch ständig überprüft und neu bewertet. Es ist ohne weiteres zulässig und kommt nicht selten vor, dass im Laufe der Jahre weder die Diagnose, die in die Psychiatrie geführt hat, noch spätere, davon abweichende Diagnosen aufrechterhalten werden und vom psychiatrischen Fundament des Urteils nur winzige Krümel übrigbleiben. Das geht, aber die Feststellungen zur Tat sollen heilig sein! Im Grunde lachhaft, wenn es nicht so entsetzlich wäre.

Die angebliche Rechtslage soll z. B. so aussehen: Wenn jemand zur Unterbringung verurteilt wird und einen Fehler bei der Revision macht, sie z. B. zu spät einlegt oder die strengen Formalien für die Begründung an irgendeinem total nebensächlichen Punkt nicht einhält, der wird nicht nur im Revisionsverfahren mit seinem Argument nicht mehr gehört – der darf auch während der ganzen Unterbringung nicht damit rechnen, dass ihm zugehört wird. Hätteste das mal in der Revision geschrieben – jetzt isses zu spät!

Eine Rechtsordnung, die es möglich macht, dass nachweislich Unschuldige unabsehbar und unbefristet eingesperrt werden, ist nicht besser als eine Rechtsordnung, in der nachweislich geistig und seelisch Gesunde in unglaublicher Zahl – Experten schätzen sie auf ein Drittel bis die Hälfte aller Fälle – in die Psychiatrien eingewiesen und dort eingesperrt werden. Dass auf Deutschland gleich beides zutrifft, ist ein ganz und gar unfassbarer Skandal.

Noch ein Nachtrag zur Situation der Ärzte: Mal angenommen, der Untergebrachte könnte sich einen eigenen, privaten Psychiater leisten, der ihn aufsucht, alles mit ihm bespricht und ein Gutachten über ihn fertigstellt. In diesem Gutachten heisst es wörtlich:

„Der Proband hat die ihm zur Last gelegte Tat von Anfang an vehement bestritten und ist auch während der Gespräche mit dem Unterzeichner konsequent dabeigeblieben. Der Unterzeichnende erläuterte ihm, dass er an die rechtskräftigen Feststellungen des Urteils gebunden sei und deshalb für die Begutachtung davon ausgehen müsse, dass der Proband die Tat begangen habe, und zwar so, wie es im Urteil festgehalten sei. Das gelte auch dann, wenn er mir seine Unschuld unzweifelhaft nachweisen könne. Seine diesbezüglichen Ausführungen konnten deshalb, auch wenn dies bei ihm auf Unverständnis stiess, im Rahmen dieser Begutachtung nicht berücksichtigt werden.“

Eine faire Strafvollstreckungskammer setzt sich mit diesem Privatgutachten – das prozessual gesehen lediglich als „Parteivortrag“ zu behandeln ist – detailliert auseinander und schreibt im Fortdauerbeschluss:

„Der Untergebrachte bestreitet die Anlasstat nach wie vor. Auch Vorhalte seines Privatgutachters haben ihn nicht dazu bewegen können, sich mit seiner Schuld auseinanderzusetzen. Das lässt besorgen, dass der völlig uneinsichtige Untergebrachte, der sich jeder Aufarbeitung der Tat verschliesst, sich der notwendigen therapeutischen Nachsorge nicht mit der gebotenen Konsequenz widmen wird. Das hat für die Kammer letztlich den Ausschlag gegeben, die Massregel nicht für erledigt zu erklären und ihre Vollstreckung nicht zur Bewährung auszusetzen.“

Der Untergebrachte ist natürlich auf hundertachzig. Da ist er schon erstens unschuldig und hat zweitens einen Haufen Geld für das Privatgutachten bezahlt, das rein gar nichts genützt hat. Eigentlich hat es ihm geradezu noch geschadet. Und wie der seine Unschuldsbeweise einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte! Wieso eigentlich? Was geht den das Urteil an? Wichtig ist doch die Wahrheit, nicht ein Fetzen Papier!

Nee, sagt er sich, das lass ich nicht auf mir sitzen. Dieser Sachverständige hätte sich mit meiner Verurteilung auseinandersetzen müssen.

Und prompt sucht er sich einen halbwegs tüchtigen Zivilrechtsanwalt und verklagt mit dessen Hilfe den von ihm selbst beauftragten Sachverständigen

a) auf Rückzahlung des Honorars wegen Schlechtleistung,

b) auf Ersatz des entgangenen Einkommens, das er im Falle der Entlassung erzielt hätte (denn eine Stelle war ihm fest zugesagt) und

c) auf ein angemessenes Schmerzensgeld für den vom Sachverständigen verursachten weiteren Freiheitsentzug.

Es gebe, schreibt sein Anwalt, nirgendwo einen Rechtssatz, der es einem Privatgutachter verbiete, sich in einem solchen Fall mit den Unschuldsbeteuerungen und -beweisen seines Auftraggebers zu befassen. Die Rechtskraft des Urteils berühre weder den Pivatgutachter noch dessen Gutachten auch nur ansatzweise. Vielmehr habe sich der Privatgutachter ohne Denkverbote und ohne Vorbehalte mit dem gesamten ihm vorgelegten Fall zu beschäftigen. Dazu gehöre selbstverständlich ein Abschnitt, der sich mit der Stichhaltigkeit der Unschuldsbeweise befasst (Ist der Proband wahnhaft vertrotzt oder würde ihn der Sachverständige, wäre er Richter, nach dem heutigen Stand des Wissens freisprechen?). Und ein Abschnitt, in dem er das Verhältnis des Probanden zu seiner eigenen Schuld- und Beweisproblematik und die daraus folgenden Konsequenzen für das voraussichtliche Verhalten des Probanden in Freiheit schildert. Der Sachverständige hätte darlegen müssen, ob hier ein wahnhaftes Bestreiten der Tat Bedenken gegen eine Freilassung begründet. Oder ob ein Mensch sachlich und vernünftig mit seinem eigenen Schicksal umgehen kann und seinen Wiederaufnahmeantrag in Ruhe vorbereiten und stellen wird, statt Straftaten zu begehen. Er hätte vor allen Dingen ausführen müssen, dass der Befürchtung, der Untergebrachte könne in Freiheit weitere Straftaten begehen, jeder Boden entzogen ist, wenn sich herausstellt, dass der Untergebrachte bislang keinerlei Straftat begangen hat.

Der Arzt muss alle ihm zugänglichen Fakten und Argumente in seine Erkenntnis einfliessen lassen. Wenn er denkt, dass der Proband die Anlasstat nicht begangen hat und sich in Freiheit genauso straffrei führen wird wie vor der Unterbringung, dann muss er das sagen. Dass der Proband rechtskräftig verurteilt ist, ist für seine psychiatrische Beurteilung vollkommen unerheblich. Erheblich ist nur sein Umgang mit dieser Verurteilung.

Und da der Arzt nichts verschweigen darf und dies alles selbstverständlich auch für die vom Gericht beauftragten Sachverständigen gilt, kommt man um die Schlussfolgerung nicht herum, dass sich auch das Gericht damit befassen muss. Und sei die Verurteilung noch so rechtskräftig.

Nachtrag

Nachdem das Landgericht monatelang an seinem 115 Seiten starken, akribisch begründeten Beschluss über die Ablehnung des Wiederaufnahmeantrags des Herrn Mollath gebrütet hat, hat das Oberlandesgericht dieses ausgefeilte Werk ruckzuck aufgehoben, woran man mal wieder sieht, wie extrem unterschiedlich die Juristen ein- und denselben Vorgang bewerten. Mit dieser Entscheidung sind sämtliche Gutachten, Unterbringungsbeschlüsse und dergleichen gegenstandslos geworden. Das Verfahren ist jetzt wieder im Stadium der Anklageerhebung. Die neue Hauptverhandlung wird jedenfalls spannend.

Bildnachweis: © Thorben Wengert/pixelio.de

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