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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei / 5


Erzählung in Briefen

© von Robert Straßheim

Fünftes Kapitel

7.6.

Lieber Markus,

„Die Demo fängt wieder an“, ruft Alina und freut sich, denn mit Einbruch der Dunkelheit  ist hier für ein paar Stunden so eine Art Volksfest auf allen Strassen, auch bei uns vorm Fenster, obwohl unser Hochhaus abgelegen auf dem Berg liegt. Wie viele andere stehen wir auf dem Balkon, die Kinder schlagen gerne mit auf Töpfe und ans Geländer. Autos hupen, eine der tausend Demos zieht bei uns vorbei, nah und fern blinken Lichter in den Hochhäusern.

Später am Abend, wenn die Kinder schlafen und ich selig lese, sitzen die Frauen hier vorm Fernseher: Abend für Abend gibt’s böse Meldungen und schlimme Bilder.

Das kann man als Fortschritt sehen: Tagelang verschwieg das türkische Fernsehen das heikle Thema der Proteste vollends und sendete stattdessen stundenlange Dokus über das Leben der Pinguine!

Die Nachrichten sind heute wieder empörend: Der Ministerpräsident sei zurückgekehrt und habe mit markigen Worten¹) die deeskalierende Politik seines Stellvertreters korrigiert: Der von jenem versprochene Dialog mit dem Protestkomitee sei abgesagt, stattdessen beschimpfe Erdogan die Demonstranten als Plünderer und Terroristen. Offenbar lege er es auf einen Bürgerkrieg an: Die Demonstranten sollten aufpassen, was passiert, wenn er „die andere Hälfte des Volkes auf sie loslässt“. Diese andere Hälfte sind die Islamisten sowie Polizei und Militär.

Kann da nicht die EU helfen? – Leider erwarte ich von der EU nicht viel Einsatz für Menschenrechte. Hat es nicht die EU zu verantworten, dass zum Beispiel in Griechenland die Menschenrechte zusammenbrechen, weil der Staat zum Todsparen gezwungen wird? Das öffentliche Bildungswesen geht am Stock, die Gesundheitsversorgung blutet aus, Strafgefangene werden mangels Geld freigelassen, Arme, Kranke und Flüchtlinge im Stich gelassen … Das alles nennen wir „solidarische Hilfe“ für Griechenland. Und hat nicht die EU mit ihrer FRONTEX den Tod tausender von Flüchtlingen auf dem Weg übers Mittelmeer zu verantworten?²)

Jetzt warnen sie mich: Alle Fenster schliessen! – Bei der Hitze?! – Ja, muss sein: Ein Feuerschein auf der nahen Strasse, dicker schwarzer Qualm! Eine sehr törichte Gruppe hat in unserem Viertel gezündelt, der Rauch umwabert die Wohnhäuser. Und keine Feuerwehr, keine Polizei.

Wir haben Glück: unsere Wohnung liegt nicht in der Windrichtung und bleibt verschont.

Nun also, ein Freund der Anarchie bin ich nie gewesen, und das wird sich auch nicht ändern.

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¹) vgl. Frankfurter Rundschau

²) Berichte zum Papstbesuch auf Lampedusa aus Solidarität mit den Flüchtlingen: FR

 (Fotos: © Robert Straßheim)

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /6

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /1

→  s. a. “Urlaubsbrief aus der Türkei”

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