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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kinder, Kinder … (5)

Von Robert Straßheim

Lieber Markus,

mein Lob der Krippen-Betreuung muss ich nun leider einschränken. – Nein, zu widerrufen habe ich nichts: Wie im letzten Brief geschrieben, meine ich nach wie vor, dass die Kita für Kinder wohltuend und bereichernd sein kann. Doch ich habe mich mal in der Uni-Kita umgehört: Da geben doch manche Eltern allzu junge Babys in die Krippe und lassen sie auch noch allzu lange, bis spätnachmittags dort, was wohl kaum gut für Babys sein kann. Und, was du in deinem gesetzten Alter wohl kaum mitkriegen wirst: dahinter stecken sehr fragwürdige neue gesellschaftliche Tendenzen. Nun, eins nach dem anderen:

Immer öfter werden sieben, acht Monate alte Babys in die Kita gebracht – so ganz Kleine lassen sich ja schnell eingewöhnen, weil sie kaum kapieren, wie ihnen geschieht. Morgens um halb acht oder acht wird so ein hilfloses Geschöpf plötzlich den Energien meist älterer, noch ganz fremder Kinder ausgesetzt, seine zarten Sinne überreizt. So ein Baby will eine Erzieherin fast völlig an sich binden, aber diese muss ja noch andere Kinder betreuen; zudem wechselt sie stetig: Im Laufe des langen Kita-Tages wird das Baby von den Erzieherinnen des Frühdienstes zum Kerndienst und vom Kerndienst zum Spätdienst herumgereicht, bis es nach den Ewigkeiten von acht, neun Stunden spätnachmittags abgeholt wird. Und wenn es krank ist, wird es nicht zu Hause auskuriert, sondern noch halbkrank der Kita übergeben. Was sind das für Rabeneltern?

Diese Eltern sind junge Leute, die versuchen müssen, sich trotz Kindern in unserem Wirtschaftsleben zu behaupten. Dafür will ich sie keinesfalls verurteilen. Es ist anders als vor zwanzig, dreissig Jahren, als Studierende sich für Kinder entschieden, weil man/frau während des Studiums zeitlich am flexibelsten war. Heutzutage können sie sich keine langen Erziehungszeiten leisten. Urlaubssemester wegen Kindererziehung sind, soweit mir bekannt, beschränkt auf zwei Semester, Abschlussprüfungen, Berufstätigkeit etc. stehen an – neue Eltern stehen unter Druck: Wie ist all das vereinbar und zu bewältigen? Soziale Netzwerke, auf die zurückgegriffen werden kann, wie eine Familie vor Ort, sind bei Studierenden selten vorhanden, und wenn, stehen Grosseltern meistens noch im Arbeitsleben, der Freundeskreis ebenfalls. Und unser altes WG-Modell ist auch nicht mehr so populär, als dass es viel weiter hülfe. Die neue Elternschaft birgt somit auch eine Art Isolationserfahrung – der Rest der Welt tickt ja anscheinend ohne Kinder!

Unter dem Schrecken dieser ungeheuren Herausforderung kann dann leicht noch die Beziehung kriseln, und wenn die Trennung folgt, wirft ein Elternteil die Bürde des Alltags mit Baby hin, sodass eine Alleinerziehende dem Problem umso verzweifelter gegenübersteht.

Und zum anderen unterliegen Eltern sozialökonomischen Tendenzen, die ihnen nahelegen, eine Fremdbetreuung zu nutzen. Womit Kinder und Eltern da konfrontiert werden, können sie, ebenso wie das Kitapersonal, kaum beeinflussen – denn die Steuerung des Mainstreams hin zur Frühbetreuung erfolgt ja höheren Orts und verfolgt das politische Ziel, Fachkräfte zügig in Bachelor- und Masterstudiengängen auszubilden bzw. in die Arbeitswelt einzuführen bzw. dorthin zurückzuholen, und das alles bitte recht zügig.

So können Eltern kaum noch auf gesellschaftliches Verständnis hoffen, wenn sie der Kinder wegen viel länger studieren oder weniger arbeiten. Wer nach der Geburt eines Kindes nicht bald wieder voll einsteigt, gerät in Rechtfertigungsnöte: Wozu willst du denn zu Hause bleiben, es gibt doch die Kita! Sogar Ministerinnen schaffen es, trotz Gebärens im Amt zu bleiben! Heutzutage geht das alles, auch ohne Grosseltern.

Folgsam streben die Eltern eine baldige Wiederaufnahme ihres Studiums, ihrer Abschluss-Prüfungen, ihrer Arbeit an. Da Krippenplätze noch immer rar sind, gibt es lange Wartezeiten, daher empfiehlt sich eine frühzeitige Anmeldung. Vorausschauende Eltern melden ihr gerade geborenes oder noch ungeborenes Kind schon für die Krippe an – völlig ahnungslos, was da auf sie zukommt: Sie können noch gar nicht wissen, wie ihr Leben mit einem Säugling sein wird, geschweige denn können sie realistisch einschätzen, wann ihr Kind reif genug sein mag für die Kita. Nichtsdestotrotz müssen sie planen:

Ab sechs Monaten darf ein Kind in die Kita aufgenommen werden. Also wird es frühestmöglich angemeldet. Wenn das Baby dann zwei, drei, vier Monate Monat alt ist, kommt das heiss begehrte Angebot: Die Kita ruft an, und fragt: Wollt ihr in drei, vier Monaten einen Platz haben? – Ja, natürlich, sehr gerne! Sie sagen diesen Platz zu: Das Problem scheint gelöst zu sein.

Und wenn das Baby dann sechs, sieben, acht Monate alt ist und in die Kita gehen soll, ist dieser Plan zum Selbstläufer geworden. Am Anfang läuft noch alles ganz gut: Gerne gönnen Eltern sich die empfohlenen sechs bis acht Wochen Zeit, um ihre Kinder einzugewöhnen und die Einrichtung kennenzulernen, bevor sie wiedereinsteigen. Soweit, so gut. Dann entfalten sich die Probleme in den unvorhergesehenen Knackpunkten des Alltags: Integriert sich das Kind? Wie viele Stunden kann es in der Kita schon schaffen? Wie lange kann es nach Einschätzung der Erzieherinnen bleiben?

Die Öffnungszeiten einer Kita von neun Stunden, mit ihrer Früh- Kern- und Spätschichtstruktur, entsprechen kaum den Bedürfnissen eines Babys, das gerade in dieser neuen Welt angekommen ist! Wie kann die Erzieherin dem Wach-/ Schlafrhythmus eines sieben Monate alten Babys gerecht werden, wenn in einer Ganztagsgruppe für die Spiel-, Ess- und Schlafbedürfnisse der Kinder nur ein einziger Raum zur Verfügung steht? Oder was passiert, wenn die Bezugsperson erkrankt ist und eine Vertretung die Gruppe übernehmen muss? Oder was tun, wenn das eigene Baby zu kurz kommt, weil in der Gruppe noch zwei, drei weitere Babys unter zwölf Monaten sind, dazu noch sechs, sieben Kleinkinder, und für alle zusammen zwei Erzieherinnen?

Der Arbeitsalltag der Eltern hingegen hat nun wieder begonnen, nehmen wir an, acht Stunden Arbeit zuzüglich Fahrzeiten. Was, wenn das Kind die Betreuung für diese lange Abwesenheit nicht durchhält? Oder wenn das Kind erkrankt? Oder wenn Vorlesungen spätnachmittags und in den Abendstunden liegen, Fortbildungsseminare noch zusätzlich an Wochenenden stattfinden? Wenn Prüfungen oder Abschlussarbeiten anstehen?

Alles ganz typische Probleme, mit denen Eltern tagtäglich Sorgen haben. Wiedereingestiegen? Dann gibt es kein Zurück – es sei denn man/frau wirft das Studium hin. Die Anzahl der Studienabbrecher unter studierenden Eltern wurde empirisch erhoben: Sie ist im Vergleich zu anderen Studierenden relativ hoch gewesen, darum haben sich Hochschulen ja auch um ihre „Familienauditierungen“ bemüht (was überwiegend Kosmetik bleibt).

Vielen Eltern wird also mehr oder weniger deutlich, dass die sehr lange Betreuung allzu kleiner Babys weder kindgerecht ist noch die Eltern glücklich macht. Doch unmöglich ist es nicht, irgendwie geht es ja doch, wenn auch mit vielen Tränen und Abstumpfen. Um Glück geht es hier nicht, es geht um Zeit, den Eltern fehlt die Zeit an allen Ecken und Enden, und wenn bei den Kindern irgendetwas dazwischenkommt, sind die Ressourcen schnell erschöpft, es regiert reinster Stress, Stress zermürbt Eltern, Stress lässt auch die Kinder leiden, so bleibt es nur, zu sehen: wohin bloss mit den Kindern, und das Aufbewahren von Kindern wird sogar im normalen Alltag hart und härter:

– Kinder werden entsprechend der Arbeitszeit ihrer Eltern in Frühschicht- (6.00 – 14.00 Uhr) bzw. in wochenweisem Wechsel in Spätschichtgruppen (14.00 – 19.00 Uhr) betreut. Kinder passt euch gefälligst an!

– Eine erste Übernachtungskita in der Gemeinde Cölbe ist bereits angekündigt.

– Vorlesungszeiten für studierende Eltern gehen bis 22.00 Uhr, ohne Alternativtermin! – Auch auf die Kassiererin im Supermarkt, die bis 24.00 Uhr arbeitet, warten zuhause ganz flexible Kinder!

– In den Kita-Ferien werden manche Kinder einfach einer zweiten, kooperierenden Kita zugeschlagen, die versetzt Ferien macht, damit in Einzelfällen Kinder durchgehend betreut werden können, das geht dann auch mal ohne Eingewöhnung in der fremden Gruppe der fremden Kita mit fremden Erzieherinnen – kein Problem für Kleinkinder, oder!

– Ein grosser Arbeitgeber in Marburg verkauft gar sein Dreischicht-System als „familienfreundlich“: „Da können Sie als Vater regelmässig auch tagsüber Ihre Kinder betreuen!“ – Die reale Lebenssituation sieht natürlich anders aus: Vater hatte Nachtschicht und muss irgendwann einmal schlafen. Mutter muss aufpassen, dass das Kind zuhause leise ist.

Hier zitiere ich ein Gespräch zwischen Uni-Kita-Kindern, berichtet von einer Erzieherin, Lebensrealität von Kitakindern:

Die Kinder sitzen beim Mittagessen am Tisch und unterhalten sich:

J: „Mein Papa ist mit den Flugzeug nach London geflogen!“

M: „Meine Mama ist in Konstanz!“

L: „… und mein Papa ist im Hotel … und hat das ganze Geld mitgenommen.“

Lieber Markus, ich nehme an, du hast tagtäglich die Folgen solcher Zustände zu therapieren? Welche Belastungen werden den zarten Seelen da auferlegt! Wenn die Kita zum einzigen verlässlichen Zuhause von Kleinkindern wird?

Und da kommt das Kifög, was den Gruppen unserer Kita ( ½ bis 3-Jährige), die jetzt mit neun Kindern schon arg gefüllt sind, eine Erhöhung auf zwölf Kinder zumutet!

Warum orientieren sich Gesetzgeber nicht am Wohl der Familien und stellen nicht die notwendigen Mittel für Kitas bereit? Und dies in einem der wirtschaftlich reichsten und leistungsfähigsten Länder dieser Erde? Warum geizen Arbeitgeber und Hochschulen mit wirklich familiengerechten Angeboten, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf/Studium tatsächlich sichern, zusätzlich zur Schaffung von kindgerechten Kitaplätzen – mit Angeboten wie Teilzeitarbeit, familienfreundlichen Zeiten, Erweiterung der Studienzeiten für studierende Eltern.

Das „Kinderförderungsgesetz“ fördert jedenfalls nicht; selbst die offiziellen „Mindestanforderungen“ 1) werden unterschritten. Wer Kinderförderung mit Kind- und Massnahmenpauschalen per Stichtag und „Betreuungsmittelwerten“ abrechnen will, hat als Gesetzgeber versagt.

Ich fürchte sehr, dass es für Kleinkinder in Deutschland am Ende schlimmer werden könnte, als es z. B. die Krippenbetreuung in der DDR war. In der jungen BRD war wenigstens klar, dass eine Mutter die ersten Jahre zu Hause bleibt. Das war natürlich für die Karriere der Mutter eine Katastrophe, und es war sexistisch und unbefriedigend; aber es war fürs Kind besser als die Abschiebung, die ihm jetzt vielfach droht. Unsere Gesellschaft hat keine Kinder verdient!

Da baut die Uni neben ihrer Kita einen neuen Campus, wofür alte Gebäude abgerissen werden – die Kita sollte dafür umziehen, aber obwohl die Uni jahrelang suchte, hat sie keine geeignete Liegenschaft für eine Ersatz-Kita gefunden; die Umzugspläne werden Semester für Semester aufgeschoben. Und warten deshalb auch die Abrissarbeiten? Natürlich nicht! Eine Riesenbaustelle rückt der Uni-Kita auf den Leib, vernichtet sogar ihren Garten-Spielplatz. Aber der Uni-Kanzler kam höchstpersönlich zum Elternabend, um zu beschwichtigen und Versprechungen zu machen: Alles werde nicht so schlimm: man werde ins Kita-Gebäude Lärmschutzfenster einbauen, keinen Baustellenverkehr neben der Kita vorbeilassen, den Staub mit Wasserfontänen niederschlagen; die lärmendsten Arbeiten würden während der Kita-Sommerferien durchgeführt und die ganze Kita werde in einem halben Jahr umziehen.

Nun, was ist passiert? Die Uni-Kita hat keine neuen Fenster bekommen, Bagger und schwere LKW fahren auch direkt neben der Kita entlang, der Staub wurde nur anfangs niedergeschlagen, und während der Kita-Sommerferien stand die Baustelle still, weil die Planung nicht hinhaute. Auch die Umzugspläne wurden schon wieder zweimal verschoben. Dafür gingen die Abriss- und Tiefbauarbeiten voll los, als die Kinder wieder da waren: ständig neue Staubschichten trotz täglichen Putzens; Lärm und Erdbeben auch mittags zur Schlafenszeit, da fielen Spielsachen aus den Regalen, und wenn die Kinder in dem Lärm und Gestampfe nicht schlafen konnten, mussten die Erzieherinnen die Bauarbeiter anflehen: „Bitte, bitte, unterbrechen Sie die Arbeit, hier sind Kleinkinder und Babys, die schlafen müssen!“ Selbstverständlich ist keine Arbeitsunterbrechung vorgesehen, weil die Geld kosten würde, das die Uni für Rücksichtnahme auf Kinder nicht übrig hat. Weil die Arbeiter aber auch Menschen sind, erhören sie das Flehen; sie legen eine Pause ein, damit die Kleinen einschlafen können. Fünf Minuten! Dann geht der Presslufthammer wieder los.

Naja, wir Eltern regen uns auf, aber wir können nicht viel ausrichten: Wirksamer Protest wie die Blockierung der Baustelle wurde vom Kanzler schon im Vorfeld erstickt durch die indirekte Androhung der Konsequenz: Wenn ihr das macht, dann kostet jede Stunde Arbeitsstillstand die Uni soundso viel Geld, und genau diese Summe werden wir euch für den Kita-Neubau abziehen!

Gleichzeit wirbt unsere Uni offiziell mit dem Titel: „Familienfreundliche Universität“.

Das ist unser System. Nein, Deutschland hat keine Kinder verdient. Es ist folgerichtig, dass deutsche Kinder aussterben.

Nun nun, lieber Markus, ich habe meine Galle ausgegossen und will mein Augenmerk wieder biedermeierlich aufs schöne Leben richten, aufs junge, gefällige Leben. Bestimmt wird es in deinem Sinne sein, wenn ich mich von dir verabschiede, bevor wir abreisen in die Türkei, wo es 20 bis 25 Grad wärmer sei als hier?

Grüsse

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1) Im September 2009 mit Inkrafttreten der Hessischen Mindestverordnung (MVO) wurde geregelt, dass die Grösse von Krippengruppen nicht mehr als 8 bis 10 Kinder übersteigen soll und sie durch MINDESTENS zwei Fachkräfte betreut werden sollen: Vgl. MVO, unter diesem Link verfügbar.

Gemälde und Zeichnungen: Alina (3 Jahre jung), Fotos: Robert Straßheim

→ Kinder, Kinder … (1)


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