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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

55. Biennale Arte Venedig 2013 (3)

„Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ …
… wusste schon Friedrich Schiller

Von Erhard Metz

Ragnar Kjartansson, S.S. Hangover, Arsenale, Sound-Performance (Ausstellungsansichten)

Feierliche Klänge in den mittelalterlichen Docks

Die Arsenale Venedig: 1104 begründet, im 14., 15. und 16. Jahrhundert sowie von Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts erweitert, waren die grösste Schiffswerft und Flottenbasis wie auch der grösste Produktionsbetrieb in Europa vor dem Zeitalter der Industrialisierung. Sie begründeten die Stellung der Republik Venedig als damals grösste und bedeutendste See- und Handelsmacht Europas und waren, heute eine Fläche von 32 Hektar umfassend, das Vorbild fast aller Marinearsenale. Bis zu 30.000 Menschen arbeiteten dort zeitgleich in nahezu allen Gewerken. Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Schiffe von 1000 Bruttoregistertonnen und rund 400 Mann Besatzung gebaut. Im Krieg gegen die Türken im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts konnten in den Arsenale aus vorgefertigten Elementen an einem Tag bis zu 25 Kriegsgaleeren gebaut werden.

Arsenale: ↑ Porta Ingresso all’Acqua und Torre di Porta nuova ↓

Ragnar Kjartansson, 1976 in Reykjavik geboren, wo er auch heute lebt und arbeitet, ist ein Performancekünstler, Maler, Bildhauer und Musiker. Er war Vertreter Islands auf der Biennale di Venezia 2009. Im Jahr 2011 präsentierte der Frankfurter Kunstverein die erste grosse Einzelausstellung des Künstlers in Deutschland. In Venedig lässt Kjartansson jetzt die „S.S. Hangover“ im grossen Becken und in den Docks der historischen Arsenale kreuzen. Das Boot ist mit einem Blechbläsersextett in korrekter Konzert-Solisten-Bekleidung besetzt, das in ständiger Wiederholung ein feierlich-schwermütiges Musikstück des 1978 geborenen Komponisten und Multi-Instrumentalisten Kjartan Sveinsson intoniert, eigens für die Klang-Performance in Venedig komponiert (es gibt ein schönes Video von Ieva Kalnina / Youtube – hier anklicken). Eine Referenz auch – wie wir es verstehen – an die grossen venezianischen Komponisten Andrea und Giovanni Gabrieli.

„S.S. Hangover“ (auf deutsch „Kater“, Katzenjammer, bezieht sich der Name auf die Kunstszene, den Kunstbetrieb?) ist ein hölzernes isländisches Fischerboot aus den 1930er Jahren, versehen mit dem umgekehrten Bugbeschlag einer venzianischen Gondel, das weisse Segel ziert – analog zum geflügelten venezianischen Löwen – das geflügelte Ross Pegasus, in der griechischen Mythologie Kind des Meeresgottes Poseidon und der Gorgone Medusa, umrandet von einem blau-weissen Mäanderband, dem aus der griechischen Antike bekannten Ornamentband, es symbolisiert Ewigkeit, Unsterblichkeit, das Entstehen des Neuen aus dem Alten.

Ach ja, wie schön: „art spezial“ publiziert „S.S. Hangover“ als Aufmacher seines jetzt erschienenen Sonderhefts zur Biennale, aber unsere Fotografien datieren bereits vom Mittag des 28. Mai, dem ersten Preview-Tag, ebenso wie unsere Absicht, einen unserer Beiträge mit dem schmucken Kahn einzuleiten!

Bravo, Figaro, bravissimo!

Einmal Rasieren und Haarschnitt gefällig? Halt, halt, ganz so einfach geht das nicht auf der Biennale, im Giardino delle Vergini am Pavillon des Landes Italien auf dem Gelände der Arsenale. Der Frisiersalon befindet sich nämlich in luftiger Höhe auf einer Astgabel, nur über eine schwankende Strickleiter zu erklimmen. Über den Komfort solcher Sitze ist uns nichts bekannt. Auch singt der baumsitzend frisierende Figaro nicht die berühmte Kavatine seines Berufs- und Namensvetters, komponiert von Gioachino Rossini.

Sislej Xhafa, Parallel Paradox, 2013, Performance (Ausstellungsansichten); Courtesy GALERIA CONTINUA, San Gimignano/Peking/Le Moulin

Eine Installation bzw. Aktion des Künstlers Sislej Xhafa. Er wurde 1979 in Pec/Peja, geboren und vertrat seinerzeit Kosovo auf der Biennale 2005. Dieses Jahr bestreitet er mit anderen den Auftritt Italiens auf der Weltkunstschau. Xhafa befasst sich mit Fotografie und Video, Skulpturen und Zeichnungen sowie mit Installationen und Performances. Er beobachtet die sozialen, politischen und ökonomischen Erscheinungen der Zeit und übersetzt sie in eine poetische Form: der „intime“ Akt des Rasierens und Frisierens auf der einen, der Barbier- und Frisiersalon als Stätte von Kommunikation und Gedankenaustausch auf der anderen Seite. Der Künstler lebt und arbeitet in Bologna und New York.

Das Seewasser von Venedig

He Yunchang gehört zu den sieben Künstlern, die China in seinem Pavillon als offizielle nationale Vertretung ins Rennen nach Venedig schickte; wir werden darauf zurückkommen. Presseberichten zufolge soll er mit systemkrischen künstlerischen Aktionen recht erhebliches Aufsehen erregt haben – wird ihm von offizieller Seite die Rolle eines „Feigenblatts“ oder eines Gegenpols zu Ai Weiwei angesonnen?

He Yunchang liess 3.000 Apotherfläschchen mit Seewasser (tatsächlich Wasser der Lagune?) füllen und verschrauben, die er auf einer langen Tafel im Freien präsentiert. Jeder Besucher darf eine solche Flasche mitnehmen – unter der Voraussetzung, dass er eine mitgebrachte leere Flasche wiederum mit Seewasser füllt und gegen die eine in He’s Kunstwerk austauscht. Damit man nicht erst zum nächsten Kanal laufen und sich dort Wasser sammelnder Weise niederbücken muss, sorgt der Künstler für Bequemlichkeit und stellt zwei mit Seewasser gefüllte Wannen auf.

Die 3.000 Fläschchen werden bald vergriffen sein – und was geschieht dann? Die Besucher können ihre mitgebrachten Flaschen signieren und auch vom Künstler zeichnen lassen, die nächste „Besuchergeneration“ kann mit diesen und ihren neuerlichen Flaschen wieder auf ähnliche Weise verfahren und so weiter und so fort … Nun, witzig ist es. Ob die Fläschchen wohl irgendwann im Kunsthandel auftauchen werden?

Das Seewasser gehört allen (aha!) – ein Symbol für Gleichheit und Harmonie in der Welt soll es darstellen, so lautet die etwas schlichte kuratorische Absicht. Na, denn man tau, sagt der Seemann …

He Yunchang, The Seawater of Venice, 2013, Performance (Ausstellungsansichten)

He Yunchang wurde 1967 in Yunnan geboren. Er studierte am Yunnan Art Institute Malerei und lebt und arbeitet seit 1991 in Peking. Seine Arbeiten waren im Laufe der Jahre fast rund um den Globus zu sehen.

Fotos: Erhard Metz

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (4)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (1)

 

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