55. Biennale Arte Venedig 2013 (2)
Von Erhard Metz
88 teilnehmende Nationen, die jeweils eine oder mehrere Künstlerinnen und Künstler vorstellen, darunter erstmals die Santa Sede (der Heilige Stuhl – also nicht der Vatikanstaat); weiter eine an die 160 Namen umfassende Liste von Künstlerinnen und Künstlern, die Biennale-Kurator Massimiliano Gioni ausgestellt hat; 46.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche in den Arsenale und weitere 50.000 in den Giardini Pubblici; mithin eine Mammutschau, die auch nur einigermassen zu überblicken sicherlich gut und gerne eine Kalenderwoche in Anspruch nähme. Arme Jury: wie hat sie das alles wirklich sehen und abarbeiten können? Hinzu kommen 47 über ganz Venedig verteilte (und deshalb in der Lagunenstadt oft nur zeitaufwendig erreichbare) begleitende Ausstellungen und Kunstveranstaltungen, die mit der Biennale nichts unmittelbar zu tun haben, und schliesslich eine Schar an Künstlern, die dort zu Zeiten der Biennale in privaten Präsentationen ihr Glück (in Gestalt von Händlern, Galeristen oder Käufern) suchen.
Il Palazzo Enciclopedico
– der enzyklopädische Palast, so lautet der Titel der 55. Kunstbiennale. Hier steht er, der Palazzo, in Halle 1 der Corderie in den Arsenale, als etwa fünf Meter hoch aufragendes Modell des Italo-Amerikaners Marino Auriti, umgeben von Fotografien des nigerianischen Künstlers J.D. Okhai ‚Ojeikere:
Marino Auriti, Il Encyclopedico Palazzo del Mondo, ca. 1955, Holz, Kunststoff, Glas, Metall, Kämme, Modellbauteile; Courtesy American Folk Art Museum New York, Gift Colette Auriti Firmani in memory of Marino Auriti
Marino Auriti, 1891 im italienischen Guardiagrele geboren, wanderte in fortgeschrittenem Alter in die USA aus, wo er 1980 in Kennett Square, Pennsylvania, starb. Auriti war als Karosseriebauer tätig, interessierte sich für Architektur, war aber künstlerisch ein Autodidakt. Mit einiger Obsession verfolgte er in den 1950er Jahren den Plan, in Washington D.C. ein enzyklopädisches Weltmuseum zu errichten, eben jenen „Encyclopedico Palazzo del Mondo“, den er als Modell fertigte. Das Original sollte mit 136 Stockwerken eine Höhe von circa 7oo Metern erreichen und sämtliche Erfindungen und Entdeckungen der Menschheit beherbergen. Das Modell erinnert sofort an den Turmbau zu Babel in Gestalt der berühmten Darstellung von Peter Bruegel d. Ä. aus dem Jahr 1563, die später viele Nachahmer fand. Doch Auritis Projekt kam über die Anmeldung der Turmarchitektur beim US-Patentamt nicht hinaus.
Massimiliano Gioni
Biennale Arte-Kurator Massimiliano Gioni griff für „seine“ Biennale nicht nur Auritis Titel auf, sondern stellte das Modell aus dem New Yorker American Folk Art Museum prominent im Eingangssaal der Arsenale-Corderie auf.
Gioni, 1972 im lombardischen Busto Arsizio geboren, ist Co-Direktor am New Museum of Contemporary Art in New York und künstlerischer Direktor der Nicola Trussardi Foundation in Mailand. Ferner ist er als Kurator sowie als Kunstkritiker und Autor tätig.
Unter die Arbeiten etablierter wie kanonisierter Künstler mischt Gioni Werke von Autodidakten und Esoterikern, Mystikern und Outsidern, Visionären und Fantasten und sicher auch – liebenswerten – „Spinnern“. Kritik am überbordenden Kunstbetrieb, am Kunstkommerz, an der Kunstmarkt-Kunst? Allerjüngste Nachrichten vom Auffliegen eines neuerlichen Kunstfälscherrings (Kandinsky, Jawlensky, Malewitsch, Gontscharowa, viele der Fälschungen sollen über den Tisch auch von Kunsthändlern und Auktionshäusern gegangen sein, die Expertisen sind nicht einmal das Papier wert, auf das sie geschrieben wurden) lassen höhnisch grinsend grüssen.
Kritik – wie wir sie verstehen könnten – vielleicht auch an der von vielen Akteuren fleissig betriebenen, möglichst restlosen und damit endgültig vernichtenden Auflösung des Kunstbegriffs?
Weiter fällt auf, dass etwa ein Viertel der genannten rund 160 vom Kurator ausgestellten Künstler bereits verstorben ist. Bewusste – zumindest relativierende – Abkehr von Zeitgeist und Jugendlichkeitswahn, der Sucht nach immer nur dem Allerneuesten, Allerschrillsten?
„Das Rote Buch“ C. G. Jungs in der Sala Chini
Carl Gustav Jung, Das Rote Buch, 19014 – 1930, Papier, Tinte, Tempera, Goldfarbe, roter Ledereinband, Kunstdruck DigitalFusion Creative Technologies, Culver City USA; Courtesy Stiftung der Werke von C. G. Jung, Zürich
In der Sala Chini, der von einer Kuppel gekrönten oktogonalen Eingangshalle zum Zentralen Biennale-Pavillon in den Giardini Pubblici, dominiert unter den erst jüngst restaurierten Gemälden von Galileo Chini (1873 bis 1956) aus dem Jahr 1909 das legendäre „Rote Buch“ von Carl Gustav Jung, in einer Glasvitrine aufgestellt wie ein kostbares Evangeliar, was es für die C. G. Jung-Gemeinde ja auch sozusagen bedeutet.
Jung, 1875 in Kesswill geboren und 1961 in Küsnacht verstorben, begründete als Psychologe und Psychiater die analytische Psychologie. „Das Rote Buch“, seit jeher geheimnisumwoben, ist eine Zusammenstellung kalligraphisch handgeschriebener Texte und handgemalter Bilder, in denen Jung über rund 16 Jahre hinweg Träume, Visionen und Fantasien als „Auseinandersetzung mit dem Unbewussten“ und als eine Art Tagebuch für sich selbst dokumentierte. 2009 wurde es als „Das Rote Buch“ in New York erstmals öffentlich ausgestellt. Obwohl Jung verfügt hatte, dass die Blätter nicht veröffentlicht werden sollten, gab die Erbengemeinschaft 2010, rund 50 Jahre nach dessen Tod, das einzigartige Werk zur Publikation frei.
„Das Rote Buch“: Türöffner in einen Kosmos der Bilder, Zeichnungen und Skulpturen, Videos und Performances im labyrinthischen, fast 30 Ausstellungssäle umfassenden Zentralpavillon – „Wunderkammer“ und enzyklopädischer „Gedächtnispalast“ der Kunst! Türöffner auch zu all den wundervollen Werken der Autodidakten und Esoteriker, Mystiker und Outsider, Visionäre und Fantasten und sicher auch – liebenswerten – „Spinner“!
Übrigens: „Das Rote Buch“, herausgegeben von Sonu Shamdasani, ist im Patmos Verlag erschienen; nach Verlagsangaben wird es ab August 2013 in einer Nachauflage für 198 Euro erhältlich sein.
Porträt und Ausstellungsansichten: Fotos Erhard Metz