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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Trude Simonsohn – eine grossartige Frau

„Ich hatte viele Chancen tot zu sein“
„Ich habe kein Talent für Hass“
„Ich bin endlich wieder angekommen“

Von Renate Feyerbacher

Fotos: © Privatarchiv Trude Simonsohn (schwarz/weiss) und Renate Feyerbacher

Trude Simonsohn am 21. März 2013

Was für eine Frau!

Viele kamen am 21. März 2013, wenige Tage vor ihrem 92. Geburtstag, ins Casino der Frankfurter Stadtwerke – direkt neben dem Museum Judengasse -, um Trude Simonsohn zu hören, zu erleben, ihr nahe zu sein.

Sie könne nur erzählen, nicht schreiben, sagt sie. Und wie sie erzählt: lebendig, historisch, nie larmoyant, sich nie bemitleidend, obwohl sie dazu allen Grund hätte.

„Ich war ein glückliches Kind.“ Mit diesem Satz beginnen ihre Erinnerungen. Diese glückliche Kindheit im mährischen Olmütz, dem tschechischen Olomouc, wird sie für das, was später auf sie zukam, stabilisiert haben. Das Wort „Glück“ kehrt immer wieder zurück.

In Olmütz lebten nach 1921, dem Geburtsjahr von Trude Simonsohn, Menschen vieler Nationalitäten „nicht konfliktfrei, aber relativ tolerant“ zusammen. Die meisten waren katholisch, einige protestantisch, und es gab eine grosse jüdische Gemeinde, zu der die gutsituierte Familie Gutmann gehörte.

Das kleine, zierliche Mädchen Trude Gutmann lernte schon mit vier Jahren Schwimmen, dann Eislaufen, Skifahren und mit zehn Jahren Tennisspielen und war später in der Schule eine Super-Turnerin. Im Klavierunterricht für höhere Töchter war sie nicht gut, dafür aber im Tanzen.

Trude Gutmann beim Skilaufen

Sport, Sprachen und Medizin interessierten sie. Mit siebzehn Jahren ging sie zu Kursen beim tschechischen Roten Kreuz und ins Krankenhaus, frühmorgens vor dem Schulbesuch.

Sie ging in Olmütz auf die tschechische Gundschule. Perfekt Deutsch lernte sie bei einem Privatlehrer. Später besuchte sie das deutsche Realgymnasium. So lernte sie, was den Eltern wichtig war: in beiden Kulturen zu leben. Sie erinnert sich an gute Schulgemeinschaften.

Die Familie fuhr zum Urlaub nach Italien, machte Zwischenstopp in Wien, wo Trudes Mutter Theodora, geborene Appel, Modistin gelernt hatte. Dort wurde eingekauft und die Verwandtschaft besucht.

Vom Vater hat sie die Überzeugung vom Zionismus übernommen. „Judentum, das war für meinen Vater – und ist auch für mich bis heute – nicht so sehr eine religiöse, sondern vor allem eine historisch gewachsene nationale Identität. Ursprung und Ziel dieser Identität ist Israel, das damalige Palästina.“

Die Familie hatte mit dieser Einstellung keine Probleme in der Tschechoslowakei, dank ihres demokratischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk (1850 bis 1937), einem Philosophen und Schriftsteller. Er war Mitbegründer des tschechoslowakischen Staates. Erst viel später verstand Trude Gutmann, was Antisemitismus ist.

Im Herbst 1938 endete ihre unbeschwerte Kindheit und Jugend. Ausgerechnet im Englischunterricht, als jede Schülerin, jeder Schüler sich ein beliebiges Thema hatte auswählen dürfen, wurde sie mit einem Vortrag um einen Artikel in der Nazi-Zeitung „Der Stürmer“ konfrontiert. In ihm war der Unterschied zwischen Engländern und Deutschen im Umgang mit Juden folgendermassen beschrieben: die Engländer anerkennen sie als Menschen, die Deutschen könnten das aber nicht tun.

Die Atmosphäre an ihrer Schule veränderte sich grundlegend nach dem Münchner Abkommen, von den Tschechen auch Münchner Diktat genannt, im Herbst 1938. Die Regierungschefs Grossbritanniens, Frankreichs und Italiens stimmten ohne Beteiligung von Vertretern der Tschechoslowakischen Republik der Eingliederung des vorwiegend deutschsprachigen Sudetenlandes in das Deutsche Reich zu.

Trude Gutmann verlässt das Gymnasium. Gerne erinnert sie sich an wunderbare Lehrer.

Halt gab ihr die zionistische Jugendbewegung, mit der sie klammheimlich schon 1937 auf Fahrt war. Es wurde gewandert, gesungen, gemeinsam Ski gelaufen, über Liebe und Lebensziele und über die Geschichte des Judentums, über den Zionismus diskutiert.

Im Frühjahr 1939 begannen die jungen Leute mit den Vorbereitungen auf die Einwanderung nach Palästina. Aber: „Wir kamen nicht mehr raus aus Europa. Die meisten von uns haben nicht überlebt.“

Trude Gutmann 1939

Sie hatte das Elternhaus und Olmütz im April verlassen, um sich als Landarbeiterin auf ein Leben im Kibbuz vorzubereiten. Das war zunächst schwierig für die höhere Tochter. Sie durchlief verschiedene Arbeitsbereiche und wurde eine vorzügliche Melkerin. Und die erste Liebe kam auch nicht zu kurz. Zum ersten Mal stand sie auf eigenen Füssen. Sie erlebte Gemeinschaft und lernte, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Noch heute ist sie mit einigen der Freundinnen und Freunde aus dieser Zeit verbunden.

Wäschewaschen

„Ich hatte viele Chancen tot zu sein“

Am 15. März 1939 marschieren deutsche Truppen in die Rest-Tschecheslowakei ein.

Am 1. September 1939 wird Polen von deutschen Truppen überfallen. Am gleichen Tag wird ihr Vater in Geiselhaft genommen und ins KZ Buchenwald transportiert. Sie wird ihn nie wieder sehen. Er wird – der geliebte Vater – im KZ Dachau ermordet. Ein grosser Verlust für die „Vatertochter“.

Die Deutschen liessen Trude Gutmann nicht nach Palästina auswandern, weil der Vater auf ihren Namen einen Weinberg gekauft hatte, dessen „ordnungsgemässe“ Enteignung noch nicht vollzogen war. So kehrte sie nach Olmütz zur Mutter zurück.

Ende 1939 mussten Mutter und Tochter ihr Wohnhaus aufgeben und zur Untermiete in ein „Judenhaus“ umziehen. Zweimal gab es dann, 1941 und später, noch Hoffnung für Trude Gutmann, auswandern zu können, zweimal packte sie ihre Sachen. Es war zu spät, niemand durfte mehr das Land verlassen.

Reinhard Heydrich (1904-1942), SS-Mann, General der Polizei wurde im Herbst 1941 stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und mit der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt. Die zionistische Jugendarbeit wurde verboten und Verstösse dagegen mit KZ-Haft bedroht. Aber die jungen Leute machten weiter – illegal. Leider erzählte die Mutter davon; ein Spitzel hörte es und machte aus der „zionistischen“ eine „kommunistische“ Jugendarbeit. Das hätte beinahe ihren Tod zur Folge gehabt.

Nach dem tödlichen Attentat auf Heydrich im Mai 1942 brach ein brutaler Rachefeldzug los. Der Ort Lidice, 20 Kilometer von Prag entfernt, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Männer alle ermordet, die Frauen verschleppt und ins Konzentrationslager gebracht.

Im Juni 1942 wird auch Trude Gutmann verhaftet. Das geschah, als sie auf einem Landgut, fern der Mutter, arbeitete. Diese wurde ins KZ Theresienstadt deportiert. Mit einem Privatauto wurde Trude von Gefängnis zu Gefängnis gefahren: nach Tábor und Brünn, wo es ein Standgericht gab. Sie wurde „an die Wand gestellt“, die Erschiessung angedroht. Todesangst beherrschte die 21jährige. Dann folgte wieder die Fahrt in verschiedene Gefängnisse. Schliesslich landete sie im Gefängnis von Olmütz, wo sich die Widerstandprominenz befand. Sechs Monate wurde sie hier festgehalten. Mitglieder der jüdischen Gemeinde kümmerten sich um sie. Zuspruch erhielt sie von Mitgefangenen. Nun hatte sie erstmals erfahren, dass sie als „Kommunistin“, die sie nicht war, verhaftet worden war.

In der Einzelhaft verschlimmerten sich ihre Depressionen. Fast wäre sie daran zerbrochen. Sie wurde schwer krank. Aber die Mitgefangenen, darunter auch „Kassenknacker“, sprachen ihr Mut zu: „Trude gib nicht auf! Der Hitler wird draufgehen – du wirst weiterleben!“ Ein dort arbeitender tschechischer Maurer und eine inhaftierte Zigeunerin wurden ihre Hauptstützen.

Dann ging es ins KZ Theresienstadt, wo sie ihre Mutter wiedertraf und Freunde aus der zionistischen Jugendarbeit, deren Solidarität sie erfuhr. In Theresienstadt gab es eine jüdische Selbstverwaltung, die Trude Simonsohn sofort zur Arbeit in ein Mädchenheim schickte.

Viele dieser jüdischen Kinder hatten bereits Schreckliches erlebt. Besonders Fredy Hirsch, der in der Leitung der Jugendfürsorge war, hat sich um die Kinder gekümmert. Er wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Selbst in Auschwitz habe er für die Kinder gearbeitet, sogar Unterricht, Zeichnen und Kindertheater organisiert, erzählt Trude Simonsohn. Sie nennt mehrere Namen von Menschen, von Künstlern, die mit den Kindern in Theresienstadt zeichneten, bastelten, sangen, sie unterrichteten, obwohl es streng verboten war und bestraft wurde.

„Ein Vortrag in einem Gemeinschaftszimmer in Theresienstadt Anfang 1943 hat mein Leben verändert.“ Trude Gutmann verliebte sich in den jungen Berthold Simonsohn, einen promovierten Juristen, der politisch sehr aktiv war. Aber diese Feinheiten erfuhr sie erst später durch die Biografie der heute emeritierten Kasseler Professorin für Sozialpädagogik Wilma Aden-Grossmann, einer Studentin Bertold Simonsohns, der nach Kriegsende an der Frankfurter Universität Sozialpädagogik lehrte.

Beide, Trude und Bertl, wie sie ihn nennt, heirateten rituell vor der Deportation nach Auschwitz. Von dort wurden sie wieder in andere KZs transportiert. Beide überlebten. Die „richtige“ Heirat folgte dann im April 1949.

Was für ein Glück!

Trude Simonsohn im Sommer 1945 im befreiten Theresienstadt (im Hintergrund die KZ-Lagerbaracken)

„Ich habe kein Talent für Hass“

Das sagt Trude Simonsohn am 21. März, als sie im Casino der Frankfurter Stadtwerke über ihr Leben erzählt. Dabei hätte sie allen Grund zum Hass. Sie verlor ihren Vater in Dachau und ihre Mutter in Auschwitz. Und sie selbst hat die Hölle durchlebt.

Nach der Befreiung gingen die Simonsohns zunächst nach Prag, dann in die Schweiz, wo Bertold eine Einrichtung der jüdischen Flüchtlingshilfe leitete und noch fast drei Jahre studierte. Dann wurde er 1950 nach Hamburg als Rechtsdezernent der Jüdischen Gemeinde berufen. Eine schwere Entscheidung für Trude, die zuvor nie in Deutschland, dem Land der Besatzer und Mörder, gelebt hatte.

Bertold und Trude Simonsohn mit Sohn Micha

In Hamburg wurde Sohn Micha geboren – „unser ganzes Glück“. Dann wurde ihr Mann Mitte der 1950er Jahre nach Frankfurt gerufen.

„Ich bin endlich wieder angekommen“

Auch das sagt sie an diesem 21. März 2013.

„Frankfurt ist die Stadt geworden, in der ich zu Hause bin.“  Das war ab 1961 nach ihrer dreimonatigen „Probe-Zeit“ in Israel. Das Paar kehrte zurück, weil Bertold mit der Sprache, die sein Medium war, nicht zurechtkam. „Ich liebe Israel noch immer, wenn auch oft mit grosser Sorge und keineswegs kritiklos.“

In Frankfurt hat Trude Simonsohn allerdings auch eine der „schlimmsten Zeiten“ ihres Lebens verbracht. Sohn Mischa wurde schwer krank. Nach jahrelangem Kampf konnte der Junge – dank eines Heidelberger Spezialisten – die Krankheit besiegen und mit zehn Jahren ein normales Leben als Schüler führen. Heute ist Trude Simonsohn Grossmutter.

Was für ein Glück.

Von 1962 bis 1977 war Berthold Simonsohn Professor in Frankfurt. Doch schon ein Jahr später starb er plötzlich. Sieben Jahre dauerte Trudes Trauerarbeit. Sie funktionierte, lebte aber nicht. Sie wurde schwer krank. Aber Freunde liessen nicht locker in ihrer Unterstützung. Sie wurde wieder aktiv: begleitete straffällig gewordene Jugendliche zum Jugendgericht, arbeitete bei der Arbeiterwohlfahrt. Sie wurde in den Vorstand der Jüdischen Gemeinde gewählt, war für die Sozialarbeit zuständig, hatte mit jüdischen Altenheimen und Kindergärten sowie mit Erziehungsberatung zu tun. Später wurde sie Gemeinderatsvorsitzende und blieb es bis 2001. Schon lange spricht sie als Zeitzeugin in Schulen, Universitäten, Kirchengemeinden, Gewerkschaftsgruppen oder Archiven über das, was sie und die vielen anderen zwischen 1938 und 1945 erlitten hatten.

Viele Ehrungen wurden ihr mittlerweile zuteil: 1993 erhielt sie die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt am Main, 1996 die Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen.  2010 wurde sie mit dem Ignatz Bubis-Preis für Verständigung ausgezeichnet, 2013 mit dem Erasmus Kittler-Preis.

Trude Simonsohn und Karl Brozik (Jurist, Repräsentant der Claims-Konferenz in Deutschland)

„Ich hatte Glück trotz allem … Ich sammle Menschen … Wer hat gesiegt? Die, die auf ihre Brutalität vertrauen – oder die, die auf Freundschaft bauen?“ Mit diesen Worten schliessen ihre Lebenserinnerungen.

Trude Simonsohn an ihrem 90. Geburtstag

Das, was Trude Simonsohn, geborene Gutmann, in der Nazi-Zeit erlebte, wie sie gelitten hat, was sie mitmachte, das hat die Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Abendroth in dem Buch „Noch ein Glück – Erinnerungen“ (erschienen im Wallstein Verlag Göttingen) aufgezeichnet. Acht Jahre lang hatte sie sich dazu von ihrer Freundin Trude deren Lebensweg erzählen lassen. Das Buch ist faktisch – auch historisch faktisch – geschrieben, unter anderem als ein Bericht über das „Funktionieren“ von Konzentrationslagern, über jüdisches Zusammenleben darin (das durchaus auch konfliktgeladen war), über Freundschaft. Die klare Sprache, frei von Hassgefühlen und Larmoyanz, macht das Buch für die Nachgeborenen so lesenswert.

Trude Simonsohn und Elisabeth Abendroth am 21. März 2013

Noch ein persönliches Wort: Ich kenne Trude Simonsohn schon seit vielen Jahren. Wir haben viel miteinander gesprochen. Ich wusste etwas über ihr Leben, aber eben nur etwas. Das, was sie wirklich mitgemacht hat, und was für eine engagierte Frau sie war und immer noch ist, habe ich erst jetzt erfahren.

 

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