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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Aus deutschen Prozessen

Von Hans-Burkhardt Steck
und Gabriele Steck-Bromme

Rechtsanwälte

Da bescheinigt ein Sachverständiger einem Angeklagten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Soweit, so gut oder so schlecht. Kommt vor.

Was nicht so oft vorkommt: Zu den „Fehlhandlungen“ des Angeklagten, auf die der Sachverständige seine Diagnose stützt, gehört – Festhalten! – doch glatt die versuchte „Republikflucht“ aus der DDR. Noch dazu eine Republikflucht „ohne Begründung“! Da sehe man mal, was für ein dissozialer Halunke der Angeklagte ist.

Vielleicht interessiert die Begründung des unvermeidlichen Befangenheitsantrags den einen oder anderen. Hier ist sie, aus dem Jahre 2011:

Um die Einordnung des Entweichens aus der DDR als „Fehlhandlung“ in ihrer Dimension richtig einschätzen zu können, führt kein Weg daran vorbei, sich die Verhältnisse zu DDR-Zeiten noch einmal vor Augen zu halten.

Die DDR war nach dem Mauerbau und der Fertigstellung einer vollständigen Einfriedung mit Selbstschussanlagen, Todesstreifen, Hundestaffeln und Mauerschützen ein Staat geworden, den man ohne staatliche Genehmigung nur unter Lebensgefahr verlassen konnte. Die DDR war, objektiv betrachtet und Nordkorea einmal ausser Acht gelassen, das grösste Gefängnis der Welt und der Geschichte. Die Insassen erhielten von Zeit zu Zeit nach Gutdünken der Obrigkeit Ausgang und Sozialurlaub. Das bedeutete, dass sie kurzzeitig, in der Regel für wenige Tage, in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen durften, aber wieder zurückkommen mussten.

Grenzpfosten der DDR in Mödlareuth, Foto: Andreas Praefcke/wikimedia commons GFDL

Der Zwang zum Zurückkommen wurde mittels Geiselnahme erzeugt, indem man darauf achtete, immer nur einen Teil der Familie gleichzeitig ausreisen zu lassen und stets einige Familienmitglieder im Land zu behalten. Man wusste: Denen wird es schlecht ergehen, wenn die ausgereisten Angehörigen nicht wieder zurückkommen.

Dieses unvorstellbar perfide System, das ein ganz wesentliches Element neben der schieren Gewaltausübung und Todesdrohung an der physikalischen Grenze darstellte, funktionierte ausserordentlich gut und erzeugte eine unsichtbare Zonengrenze im Kopf. Am Abend eines Besuchswochenendes strebten die DDR-Bürger, meist in sich gekehrt, mit tieftraurigen Gesichtern und schweigend der Eisenbahn zu, die sie in ihr Gefängnis zurückbringen sollte. Begleitet wurden sie von den westlichen Angehörigen, die das Glück gehabt hatten, nicht in der DDR geboren oder in sie geraten zu sein. Ohne viel Worte spielten sich unbeschreibliche Abschiedsszenen ab. Über der gesamten Szenerie lag eine gespenstische Mischung aus unendlicher Traurigkeit und totalem Zwang. Das gleichzeitig Erstaunliche und zutiefst Erschreckende dabei war die Tatsache, dass die auf dem Territorium der Bundesrepublik, also in Freiheit befindlichen DDR-Bürger ohne jede Aufsicht, ohne Soldaten, Polizisten, Amtspersonen oder sonstige Menschen, die sie in die Züge getrieben hätten, allein aufgrund des perfiden Systems der Geiselnahme, sich in ihr Schicksal fügten und zurückkehrten, viele sicher auch wegen des zweiten Standbeins der Methode: Dieses zweite Standbein war die offene Drohung, die Heimat nie wieder zu sehen, wenn man die Republik verlasse. In seiner Gesamtheit war dieses System so menschenverachtend, dass der Ausdruck Gefängnis der reinste Euphemismus ist.

Die Ungeheuerlichkeit der Ausführungen des abgelehnten Sachverständigen werden schlagartig deutlich, wenn man sich vor Augen hält, was sie im Umkehrschluss bedeuten: Er meint offenbar, das einzig Vernünftige sei für den Probanden gewesen, in der DDR zu verbleiben! Oder auch: Wenn der Proband nicht psychisch krank gewesen wäre, wäre er geblieben. Tatsächlich aber kann doch kein ernstzunehmender Mensch bestreiten, dass niemandem angesonnen werden kann, unter solchen Verhältnissen zu leben. Die Republikflucht war keine „Fehlhandlung“, sondern die natürlichst denkbare, absolut normale und naheliegende Reaktion.

Freilichtmuseum in Mödlareuth, Foto: Andreas Praefcke/wikimedia commons GFDL

Wenn die Republikflucht, um nicht diesem Verdikt der „Fehlhandlung“ zu unterfallen, einer ordnungsgemässen politischen Begründung bedarf, wie der abgelehnte Sachverständige meint, dann muss derjenige, der zu einer solchen ordnungsgemässen politischen, möglichst differenzierten und mit theoretischem Unter- und Überbau versehenen Begründung nicht oder noch nicht in der Lage ist, eben so lange in dem riesigen Gefängnis verbleiben, bis er seine politischen Ansichten entsprechend entwickelt und ausgearbeitet und die Begründung seiner Absicht, die Republik zu verlassen, möglichst mit dreifachem Durchschlag beim Rat des Kreises hinterlegt hat. Die Ausführungen des abgelehnten Sachverständigen sind in einem Ausmass grotesk und erschreckend, das man bei einem Hochschullehrer und Mediziner nicht erwarten sollte. Es ist vollständig unbegreiflich, warum das Verlassen der DDR mit politischer Begründung in Ordnung, ohne politische Begründung dagegen eine Fehlhandlung gewesen sein soll. Wie man überhaupt auf eine solche Idee kommen kann, ist der Verteidigung vollkommen rätselhaft. Erklärungen kann man sich denken, sie auszusprechen, lohnt sich nicht.

Die vielen Worte in der Stellungnahme ändern an der Kernaussage und damit an der Begründetheit der Ablehnung nichts. Im Gegenteil: Sie schliessen die Möglichkeit eines Versehens oder eines Missverständnisses aus. Der Sachverständige meint genau das, was ihm vorgeworfen wird.

Dem kann nicht etwa entgegengehalten werden, die „Fehlhandlung“ Republikflucht sei dann ein Symptom für eine psychische Erkrankung, wenn sie gleichsam in einer Reihe mit anderen Rechts- oder Regelverstössen stehe, eben ein Verhalten, das typischerweise als dissozial bezeichnet wird.

Der Dissoziale hält sich nicht an soziale Normen, deren verbindlichste die Gesetze sind. Das ist per definitione das Wesen des Dissozialen, d. h. wer sich so verhält, wird dissozial genannt. Wer die Republikflucht als Fehlhandlung und deshalb als Symptom für Dissozialität verkennt, der erklärt sie damit zum Normverstoss. Das scheint zwar bei oberflächlichster Betrachtung zuzutreffen, denn immerhin war die Republikflucht gesetzlich verboten. Aber was war das für ein Gesetz!

Erstens war es wegen offensichtlicher Menschenrechtswidrigkeit unwirksam.

Zweitens: Wie ordnet denn der abgelehnte Sachverständige die Tatsache ein, dass die Gerichte von den Mauerschützen die Verweigerung der Ausführung von Befehlen verlangten und immer noch verlangen, die der gewaltsamen und mörderischen Durchsetzung des Republikfluchtverbots dienten? Wie kann ein Verhalten eine Fehlhandlung und dissozial sein, wenn die gegen dieses Verhalten erlassenen Gesetze derart offenkundig menschenrechtswidrig und unwirksam sind, dass ein Verstoss gegen sie Bürgerpflicht (!) ist und der Grenzsoldat bestraft wird, wenn er diese Gesetze durch Befolgung des Schiessbefehls durchzusetzen versucht? Der abgelehnte Sachverständige möchte dieselbe bundesrepublikanische Justiz, die den Mauerschützen als zur Befehlsverweigerung verpflichtet hält, dazu bewegen, sein Opfer, den Republikflüchtling, als verrückten Rechtsbrecher, der in die Psychiatrie gehört, einzuordnen. Absurder geht es wirklich nicht mehr.

Drittens sollte, wer formal illegales Handeln als dissoziale Fehlhandlung ansieht, wenigstens einmal darüber nachdenken, was er da eigentlich sagt. Echte Gesetze werden zumindest von einem nicht ganz unbedeutenden Teil der Bevölkerung getragen, es sind soziale Normen mit der Besonderheit schriftlicher Fassung und sanktionierter Verbindlichkeit. Allein ihre Qualifikation als soziale Normen erlaubt es (wogegen im Prinzip gar nichts einzuwenden ist), ihre Verletzung als Symptom für eine Neigung zu Normverletzungen, also zu dissozialem Verhalten, zu betrachten.

Nichts davon gilt aber für das Verbot der Republikflucht. Das wurde nicht von einem Teil der Bevölkerung getragen, sondern nur von denen, die die SED-Diktatur trugen oder von ihr profitierten. Der Mann auf der Strasse hatte stets tiefstes Verständnis für jeden, der in den Westen „machte“, und wäre vor Schreck und Staunen vom Stuhl gefallen, hätte man ihm ernsthaft weismachen wollen, solche Leute neigten zu Normverstössen, seien dissozial und gehörten für Jahrzehnte zwangsweise in die Nervenheilanstalt.

Das Verbot der Republikflucht war genauso ein Instrument der Diktatur wie die Rassengesetze der Nationalsozialisten. Wenn die Republikflucht eine dissoziale Fehlhandlung war, dann war die Eheschliessung mit einer jüdischen Frau im Dritten Reich auch eine. Oder die Verweigerung des Heil-Hitler-Grusses. Oder die Lektüre von Tucholsky. Man kann doch nicht die Nichtbefolgung zutiefst amoralischer, verwerflicher, elementarsten Menschenrechten hohnsprechender Gesetze mit überall und konsentiert strafbaren Handlungen gleichsetzen! Rauben, Stehlen und Betrügen ist auf der ganzen Welt strafbar, das Verlassen des eigenen Landes nur noch in Nordkorea.

Sogenannter Narrenturm, weltweit erster Spezialbau zur Unterbringung von Geisteskranken, auf dem Gelände des Wiener Allgemeinen Krankenhauses; Foto: Gryffindor/wikimedia commons GFDL

 

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