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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kinder, Kinder … (1)

Von Robert Straßheim

Lieber Markus ¹),

nichtsahnend wollten wir Kinder. Wir nahmen an, dass sie in Deutschland willkommen seien, hiess es doch jahrzehntelang, dass es zu wenige gäbe. Das hat sich ja radikal geändert: Es gibt schon hier viel zu viele Kinder! Es gibt so viele Kinder, dass mit allen Mitteln versucht wird, den Nachwuchs zu drosseln.

Das fängt schon bei der Entbindung an: Die Hebammen werden nicht besser bezahlt als Hilfsarbeiter, das hiesige Geburtshaus kann nur durch regelmässige Sponsorengelder überleben. Und wir bekommen eine Rechnung über eine „Bereitschaftsdienstpauschale“ von 250 Euro, die weder die private Krankenkasse noch die hessische Beihilfestelle bezahlen wollen. Bleibt also an uns hängen.

Nein, ich will jetzt nicht klagen über den finanziellen Schaden, den Eltern ertragen müssen, die paar Hunderttausend Euro Einkommensausfall, und wenn man Pech hat, studieren die Kinder, dann geht’s in die Million. Es geht mir ums alltägliche Leben: Beim Kinderarzt ein brechend volles Wartezimmer. In der Bahn keine Kindersitzplätze mehr. Bei uns zu Hause kein Kinderzimmer: Leider leider ist es nicht aufzuhalten, dass die Kinder wachsen! Anfangs ging’s noch gut, da kann man so einen Säugling einfach ins Bett dazulegen, ein Schrank, ein Wickelbrett, dafür hatten wir in der Wohnung noch Platz. Jetzt aber brauchen sie eigene Kinderbetten, und sie wollen spielen! Dumm nur, dass ich mein Arbeitszimmer nicht ganz aufgeben kann, wir haben ja kein Vermögen, von dem wir leben können.

Wir brauchen also eine grössere Wohnung. Nun, da sind viele Angebote von 1-Zimmer-Appartments, 2 ZKB, auch 3 ZKB, aber fast keine Vier- oder Fünfzimmerwohnungen. Wir stürzen uns also auf die wenigen Angebote von 4- und 5-Zimmer-Wohnungen, wovon die Hälfte für uns leider unbezahlbar bzw. mit 2000 bis 3000 Euro Makler-Courtage verleidet ist. Und bei den halbwegs attraktiven Angeboten begegnet uns die wohlmeinende Fürsorge der Vermieter. Zwei kleine Kinder, ach wie süß? Die bringen aber auch Sorgen mit sich – zum Beispiel sagt eine Vermieterin: „Ja, da würde aber über Ihnen eine Ärztin wohnen, wenn die Nachtdienst hatte, muss die auch tagsüber schlafen können, und in der unteren Wohnung wohnt eine alte Dame – ob die es schätzt, wenn auf ihrer Decke Kinder herumturnen? Die muss ich erst mal fragen.“ Schon klar, dass sie uns nie mehr anruft. Ein anderer Vermieter hat seine Wohnung mit einem nagelneuen Parkettboden auslegen lassen (kein Laminat, sondern echte deutsche Eiche!) – da sollen dann Kinder drauf herumtrampeln?! Eine dritte Vermieterin versucht uns von einer schweren Fehlentscheidung abzubringen: „Die Wohnung befindet sich im zweiten Stock. Da gibt es aber keinen Aufzug. Stellen Sie sich mal vor, Sie haben Einkaufstaschen und müssen auch noch die Kinder da hochtragen!“ – Das ist natürlich völlig unmöglich. Ich seh’s ja ein: Wir täten gut daran, unter einer Brücke Platz zu suchen, da brauchen wir keine Treppen zu steigen.

Dabei bekämpft unser Magistrat schon die Wohnungsnot: Gerade erst hat er das Gebäude einer früheren Sonderschule verkauft (die Sonderschüler wurden unter dem Vorwand der „Inklusion“ abgewickelt) – es hat ein Multimillionär bekommen, der es zur Villa umbauen lässt, um mit der Gattin drin zu wohnen. Dass wir nun die Millionen nicht aufbringen konnten, dafür kann doch der Magistrat nichts!

Inzwischen nimmt sich die hessische Landesregierung der Misere mit den Kindern an: Sie hat ein neues „Kinderförderungsgesetz“ ²) aufgelegt: Weil Krippen und Kindergärten jetzt plötzlich mit viel zu vielen (Ganztags-)Kindern überschwemmt werden, wofür es viel zu wenige Erzieher und Erzieherinnen gibt, sollen sie allesamt enger zusammengepfercht werden: grössere Gruppen, weniger Urlaub und längere Arbeitszeiten für die Erzieher. Auf dass noch weniger Leute Erzieher bzw. Erzieherinnen werden wollen, die Kindergärten zu Grossgruppenhallenverwahranstalten verkommen und verantwortungsvolle Mütter, auch Väter, mit ihren Kindern lieber zu Hause bleiben, das schönt dann auch noch die Arbeitslosenstatistik. Und für die Verschlechterung der Kinderbetreuung in den Schulen braucht die Regierung nichts zu tun, denn es gibt fast keine Ganztagsschulen in Hessen, sollen die Eltern doch froh sein, wenn das Kind von acht bis halb zwölf unterrichtet wird.

Überhaupt die Schulen! Dort schlägt den Kindern die Devise entgegen: Ihr seid hier zu viele! Wir sind hier doch nicht im reichen Finnland, wo die Schule jedes Kind aufnimmt und betreut nach dem Motto: „Du bist uns wichtig!“ Nicht doch, spätestens seit PISA ³) wissen wir, dass das hessische Schulsystem unschlagbar ist!

Zuletzt leiden auch die Universitäten unter nicht enden wollenden Fluten von Studierenden. Die deutschen Wissenschaftsministerien bemühen sich schon seit Jahren, die Studienabbrecherquote zu erhöhen bzw. studierwillige Menschen, die über kein Finanzvermögen verfügen, ganz abzuschrecken. Das ist nur teilweise gelungen, noch immer schliessen viel zu viele ihr Studium ab – wohin aber mit all den Akademikern, den arbeitslosen Juristen, Volkswirten, Geisteswissenschaftlern, Lehrern und Lehrerinnen? Sollen sie doch die Jüngeren abschrecken! Noch besser kriegen das die Spanier hin: Gut die Hälfte der jungen Leute ist arbeitslos, die andere Hälfte wird mit Hungerlöhnen abgespeist. Auf unabsehbare Zeit sind sie von ihren Eltern abhängig – wer will da noch Kinder kriegen?

Kinder sind auch die natürlichen Feinde der meisten „Arbeitgeber“: Da sollte man/frau sich schon entscheiden: Kind oder Karriere?! Viele wollen aber trotz Kindern arbeiten. Haarsträubend! Was die Kinder dem „Arbeitgeber“ dabei schaden! Nicht nur, wenn eins krank ist und eine ganze Elternarbeitskraft zunichtemacht; auch sonst verursachen sie entsetzliche Unflexibilität: wollen immer pünktlich von der Betreuung abgeholt werden, was den Eltern Überstunden erschwert. Da sollen sich die Einrichtungen mal besser an die Bedürfnisse der Wirtschaft anpassen: Eigentlich sollten Kitas 24 Stunden geöffnet sein – wenn’s da Probleme gibt, sollten sie zumindest von 6.30 bis 21 Uhr die Kinder einbehalten. Die beste Lösung wäre natürlich: keine Kinder oder zwanzig Jahre lang zu Hause bleiben!

Ganz konsequent wird in der Türkei gegen die Kinderflut vorgegangen – dort gibt es noch viel viel mehr Kinder, aber gar keine Probleme: Die Kindheit wird einfach ausgelöscht. Diese kleinen Wesen erfreuen uns auf den Strassen als Wasserverkäufer, sie putzen einem die Schuhe oder Mamas Herd, sie sammeln auf den Plantagen die Haselnüsse für unser Nutella etc. Wenn sie nicht spuren, hilft Gewalt. In den Schulen sind sie Uniformierte, auch später, im Bürgerkrieg.

Jaja, ich weiss, lieber Markus, als Psychologe wirst du wieder mahnen, alles nicht so negativ zu sehen. Kinder sind ja auch erwünscht und willkommen. Begehrt von der Industrie, die viel Geld extra für Werbung ausgibt, die sich an Kinder richtet: überzuckerte Lebensmittel und Süssigkeiten auch für die Kleinsten; noch Schulkinder, sollen sie all das digitale Zeugs konsumieren, bis sie nie mehr davon ablassen können. Spielzeug, auch teures, wird mit giftigen Weichmachern und schwermetallhaltigen Farben produziert, Hauptsache, es wird verkauft. Ein praktischer Nebeneffekt ist, dass die Weichmacher auch unfruchtbar machen – wie billig sinken da die Geburtenraten!

Bis dahin greifen schon mal die Abschreckungs-Massnahmen von Politik und Wirtschaft: Unzureichende Kinderbetreuung, marodes Schulsystem, katastrophale Studienbedingungen, der Mangel an akzeptablen Ausbildungsstellen, mangelnder städtischer Wohnraum, offene Diskriminierung von Kindern – ganz stolz wollten sie sich, allein, in der Eisdiele Eis kaufen, aber die Verkäuferin ignorierte sie hartnäckig und böswillig – sollen doch die Kinder im Orkus bleiben, wo sie keinen stören!

Verdriessliche Grüsse

 

P.S. Das war die einzige Antwort auf unsere Wohnungs-Suchanzeige:

Guten Tag,
wir sind eine kleine Familie mit einem Kind und in Marburg verzweifelt auf Wohnungssuche.
Im Fall, dass Sie etwas Schönes gefunden haben, wäre es sehr freundlich, wenn Sie uns bezüglich der Nachfolge ihrer aktuellen Wohnung benachrichtigen würden.
Entschuldigen Sie bitte, diese hoffentlich nicht aufdringlich wirkende Mail.
Mit freundlichen Grüssen …

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¹) Markus ist bekannt aus der Reihe: Urlaubsbrief aus der Türkei

²) Der Begriff ist Orwell-Sprache: Nach dem Kinderförderungsgesetz werden Kinder nicht gefördert, sondern ihre Betreuungsbedingungen werden verschlechtert. Näheres hierzu siehe unter „Entdecker voraus“. Dort finden sich auch Möglichkeiten zum Online-Protest.

³) Vgl. die Reihe „Pisa von innen“

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Gemälde und Zeichnungen: Alina (3 Jahre jung), Fotos: Robert Straßheim

→  Kinder, Kinder … (2)

 

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