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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Erste umfassende Saura – Retrospektive in Deutschland im Museum Wiesbaden

Die Leinwand als unbegrenztes Schlachtfeld

Von Hans-Bernd Heier

Der 1930 in Huesca/Spanien geborene Antonio Saura (1930 bis 1998) gehört zweifelslos zu den bedeutenden Künstlern des 20. Jahrhunderts und zu den prägendsten Exponenten der spanischen Malerei seiner Epoche. Für Alexander Klar, Direktor des Wiesbadener Landesmuseums, zählt Saura neben Antoni Tàpies und Eduardo Chillida zu dem „grossen Dreigestirn der spanischen Nachkriegskunst“.

Allerdings hat der Autodidakt Saura, obwohl zu dessen Lebzeiten seine ausdrucksstarken Werke in vielen internationalen Ausstellungen präsentiert wurden, nicht einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad in Deutschland wie Tàpies und Chillida erreichen können. Das mag auch daran liegen, dass die letzte, allerdings kleinere Retrospektive von Saura in Düsseldorf aus dem Jahre 1979 datiert. Mit der ambitionierten, grössten Retrospektive in Deutschland im Museum Wiesbaden sollte sich das ändern.

An der gut besuchten Pressekonferenz nahmen (von links) Olivier Weber-Caflisch, Präsident der Fondation archives antonio saura, Marina Saura, Wiesbadens Museumsleiter Alexander Klar sowie Gastkurator Cäsar Menz, Honorardirektor Musées d’art et d’histoire in Genf, teil und erläuterten das Werk des Künstlers; Foto: Hans-Bernd Heier

Die zusammen mit der Stiftung Antonio-Saura-Archiv in Genf und dem Kunstmuseum Bern organisierte facettenreiche Schau umfasst gut 220 Werke und widmet sich sämtlichen Schaffensperioden des immens produktiven spanischen Künstlers. Die Retrospektive war zuvor in der Schweizer Hauptstadt zu sehen.

Betrachter vor den frühen kleinformatigen Arbeiten aus den Jahren 1948/1950; Foto: Hans-Bernd Heier

Museumsdirektor Klar freut sich, dass er endlich das Vorhaben realisieren kann, an dem er bereits seit Jahren arbeitet: Er wollte Saura schon während seiner Museumszeit in Hagen ausstellen, hatte dort aber nicht den notwendigen Platz, über den er jetzt in dem renovierten und erweiterten Landesmuseum verfügt. Um die üppige Schau zu arrangieren, hat er einen Grossteil des Museums freigeräumt.

Saura ist in der Rhein-Main-Region keineswegs ein Unbekannter. Hatte sich doch die Malerin und Galeristin Hanna Bekker vom Rath schon früh um den spanischen Künstler verdient gemacht und bereits 1968 Arbeiten des Malers in ihrer Galerie, dem Frankfurter Kunstkabinett, gezeigt. Auch waren Werke von ihm auf der documenta II im Jahre 1957 und der documenta IV 1977 zu sehen.

Antonio Saura, „Imaginäres Bildnis von Frans Hals“, 1967, Kunsthalle Emden, Stiftung Henri und Eske Nannen und Schenkung Otto van de Loo, © Succession Antonio Saura/VG Bild-Kunst, Bonn, 2012

Auf der Suche nach dem eigenen Stil

Saura hatte eine „tragische Jugend“, wie Gastkurator Cäsar Menz ausführt. Denn er erkrankte als 13-jähriger an Knochentuberkulose und war fünf Jahre lang an ein Gipsbett gefesselt. Er beginnt seine künstlerische Tätigkeit als Autodidakt unter dem Einfluss von Yves Tanguy und Joan Mirò. Besonders beeindruckten ihn die amorphen Formen Tanguys. Unter dem Eindruck eines Traums bzw. einer Halluzination malt das Doppeltalent 1946 sein erstes Bild und schreibt auch sein erstes Gedicht. Bereits 1950 waren seine Arbeiten in einer ersten Werkschau in der Buchhandlung Libros in Saragossa zu sehen.

Ausstellung Antonio Saura: Die Retrospektive, Raumansicht im Museum Wiesbaden; Fotografie: Ed Restle, © Ed Restle, Museum Wiesbaden

Auf der Suche nach der „wirklichen Landschaft des Unbewussten“ entstehen ab 1950 stark surrealistisch geprägte Werke. Kurz vor dem Bruch mit den Surrealisten im Jahr 1955 experimentiert er mit verschiedenen Techniken wie Grattagen (expressiv-gestische Malerei) und Rayogrammen – nach Man Ray benanntes Verfahren, bei dem er bemalte lichtempfindliche Glasplatten dem Sonnenlicht aussetzt – , die ihm neue künstlerische Möglichkeiten eröffnen.

Ab 1956 wird die menschliche Figur zu seinem grossen Thema. Der auch schriftstellerisch hochbegabte Künstler vermerkt: „Ich habe meine experimentelle Phase abgeschlossen. Endlich beginne ich zu malen.“ Trotz dieser selbstbewussten Feststellung bleibt der sensible Künstler nicht von selbstquälerischen Zweifeln verschont, wie die beiden radikalen Autodafés von 1965 und 1967 belegen, in denen er jeweils rund 100 seiner Bilder zerstört.

Marina Saura, die älteste der drei Töchter des Künstlers, vor einem ihrer Lieblingsbilder aus der Serie „Menschenmenge“; Foto: Hans-Bernd Heier

Dem Spanier liegen fünf Themenbereiche besonders am Herzen: Frauenbildnisse, von ihm „Damas“ genannt, Porträts, Menschenmassen, Kreuzigungsszenen und Variationen von „Goyas Hund“, dessen rätselhafte Gemälde der „Pinturas negras“ (Schwarze Bilder) ihn faszinieren. In seinen Werken greift Saura diese Motive über viele Jahre immer wieder auf. Im Landesmuseum ist eine repräsentative Auswahl der einzelnen Themenzyklen zu sehen.

Im Eingangsbereich der Ausstellung, im „Oktogon“, wird der Besucher unter dem Motto „Imaginäre Ikonografie“ auf diese Themenbereiche ansprechend eingestimmt. Die unzähligen von Saura ausgeschnittenen und in Alben archivierten Reproduktionen von Kunstwerken, Illustrationen und Fotografien aus Zeitschriften und Zeitungen, ja sogar aus wissenschaftlichen Publikationen bildeten für ihn einen unerschöpflichen Fundus für seine Motivwahl. Dabei verfremdete und übermalte der produktive Maler die Motive und verlieh ihnen mit seinem kraftvollen Pinselduktus äusserst expressiven Ausdruck.

Antonio Saura, “Karl-Johann-Straße I”, 1985, Sammlung Antonio Saura-Nachlass, Genf; © Succession Antonio Saura/VG Bild-Kunst, Bonn, 2012

Angst vor der leeren Leinwand

Ab 1956 entwickelt Saura mit den thematischen Zyklen Damen und Selbstbildnisse ein sehr eigenständiges, expressiv-gestisch strukturiertes Werk. Sein Farbauftrag wirkt auf den ersten Blick eher informell, bei genauem Hinsehen entdeckt der Betrachter jedoch, dass Saura Gesichter und Körper zerlegt und deformiert, diese geradezu seziert. Die Auseinandersetzung mit Picassos Porträt von Dora Maar (Frau mit blauem Hut, 1939) stellt dafür sehr anschauliche Beispiele dar. Die Dekonstruktion des menschlichen Gesichts auf Picassos berühmtem Bildnis nimmt Saura zum Anlass, die bildnerische Struktur in neuen möglichen Facetten abzuwandeln und aufzulösen. Nur der Hut der Dargestellten bleibt als Zitat und Referenzpunkt bestehen.

Antonio Saura, Goyas Hund, 1997, Sammlung Antonio Saura-Nachlass, Genf © Succession Antonio Saura / VG Bild-Kunst, Bonn, 2012

Zusammen mit Manuel Millarès, Rafael Canogar und anderen Gleichgesinnten gründet er 1957 die Künstlergruppe „El Paso“. Etwa gleichzeitig entstehen die ersten Kreuzigungen, in denen er Diego Velázquez‘ Gemälde „Gekreuzigter Christus“ im Madrider Prado zum Ausgangspunkt nimmt. Dieses Thema sollte ihn viele Jahre beschäftigen. Das Bild des Gekreuzigten, dem für Saura weniger eine religiöse Aussage innewohnt, hat bei ihm einen eminent symbolischen Charakter. „Es wird zum Zeichen für die Verlorenheit und Verzweiflung des Menschen in seiner von Ungerechtigkeit geprägten Existenz. Es verweist aber auch auf die eigene Situation des Künstlers“, erläutert Alexander Klar. Saura schreibt: „Im Bild des Gekreuzigten spiegelt sich möglicherweise meine eigene Lage wider, diejenige eines einsamen Menschen mitten in einer bedrohlichen Welt, der man mit einem Schrei begegnet.“

Sauras Farbpalette wird von den Farbtönen schwarz, weiss, grau und braun dominiert. Während er sich bei der Farbgestaltung seiner Werke äusserste Zurückhaltung auferlegte, hielt er sich bei Formaten keineswegs zurück. Das gilt besonders für den Zyklus „Menschenmenge“ mit Gemälde-Ausmassen bis zu 220 x 515 cm. Die ursprünglich klein- und mittelformatigen Arbeiten nahmen im Laufe des Schaffens immer grössere Dimensionen an. Saura schreibt dazu: „Ein Gemälde ist vor allem eine weisse Fläche, die man unbedingt mit etwas füllen muss. Die Leinwand ist ein unbegrenztes Schlachtfeld“. In der Gestaltung der Ansammlung von menschlichen Gestalten und Gesichtern ist Saura laut Klar „von einem ‚Horror Vacui‘ (Angst vor der Leere) getrieben“.

Eisenplastiken bleiben eine Episode

Im Sommer 1960 realisiert Saura im spanischen Cuenca eine Serie von Eisenassemblagen, die in dieser Ausstellung erstmals öffentlich präsentiert werden. Die Arbeiten im kubistischen Stil bleiben allerdings eine Episode in seinem Werk. Die „Beispiele für Sauras weniger überzeugende plastische Arbeit“, so das strenge Urteil der FAZ, werden im hinteren Raum der hervorragenden, didaktisch aufgebauten und klar strukturierten Schau gezeigt.

Antonio Saura, „Rote Kreuzigung“, 1963, Sammlung der Musées d’art et d’histoire de la Ville de Genève, Genf; © Succession Antonio Saura/VG Bild-Kunst, Bonn, 2012

Saura, der auch ein bedeutendes literarisches Œuvre hinterlässt, arbeitet zu Anfang der 1990er Jahre an Illustrationen zu einer Prachtausgabe von Christine Nöstlingers Neufassung der „Abenteuer des Pinocchio“ von Carlo Collodi. Es ging ihm darum, den Protagonisten grafisch erkennbar und kindgerecht zu gestalten und dabei seinen zeichnerischen Stil kompromisslos beizubehalten. Auch hatte er die Absicht, „dem verworrenen, nebligen und unentzifferbaren Paradies der Kindheit Glanz und Tiefe zurückzugeben“. Damit auch die Kinder sich an den kolorierten Zeichnungen erfreuen können, sind diese Arbeiten extra niedriger gehängt.

Neben Comics und Übermalungen, für deren Gestaltung sich Saura aus seinem unerschöpflichen Archiv „Imaginäre Ikonografie“ reichlich bedienen konnte, sei noch die tief beeindruckende Werkreihe „Die Mauer“ erwähnt. Die 1984/1985 in Berlin entstandenen Mauerbilder sind Übermalungen von 59 Fotografien der Mauer, mit denen Saura Angst und Bedrohung, aber auch zornige Aufwallung gegen dieses Bauwerk des Totalitarismus ausdrückt, das gottlob! der deutschen Vergangenheit angehört.

Ausstellungskatalog und Publikationen Antonio Saura:

Der Katalog „Antonio Saura – Die Retrospektive“, hrsg. vom Kunstmuseum Bern, Museum Wiesbaden, Foundation archives antonio saura; Texte von Bernard Dieterle, Matthias Frehner, Natalia Granero, Alexander Klar, Cäsar Menz, Marina Saura, Didier Semin, Oliver Weber-Caflisch, 2012, 310 Seiten, 264 farbige Abbildungen; Preis: 35 €

Antonio Saura: „Über sich selbst“, hrsg. vom Kunstmuseum Bern, Museum Wiesbaden, Foundation archives antonio saura, 424 Seiten, rund. 580 Abbildungen, Preis: 45 €

Bert Papenfuß/Antonio Saura „Die Mauer“, hrsg. von der Foundation archives antonio saura, Gestaltung von Ralph Gabriel, 192 Seiten, 74 Abbildungen; Preis: 30 €

Alle drei Publikationen, die im Verlag Hatje Cantz erschienen sind, bietet das Wiesbadener Museum zu einem – laut Direktor Klar – nicht zu unterbietenden Sparpreis von 99 € an.

Antonio Saura, „Die Retrospektive“, Museum Wiesbaden, bis 7. April 2013

Noch bis zum 26. Mai 2013 sind im Museum die Ausstellung „nichts – und alles“ und bis zum 13. Januar 2013 die Schau „eine/r aus siebzehn“ zu sehen (s. „Kompakte Werkschau von Vordemberge-Gildewart und spannender Querschnitt junger zeitgenössischer Kunst“)

 

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