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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

documenta 13 in Kassel (33)

Brain

Es soll Zeitgenossen geben, denen nicht bewusst ist, dass die documenta 13 nach 100 Ausstellungstagen am kommenden Sonntag schliesst, und – schlimmer noch – es soll welche geben, die diese nur alle fünf Jahre stattfindende Welt-Kunstausstellung noch nicht besucht haben.

Heute stellen wir das Brain vor, es befindet sich in der mit Glasscheiben verschlossenen Rotunde im Erdgeschoss des Fridericianums, zu der – schon im Blick auf die räumliche Enge und die Zahl der dort ausgestellten Exponate – jeweils nur eine begrenzte Zahl an Besuchern Zutritt erhält. Die Rotunde wiederum befindet sich in der Mitte des Gebäudes hinter der zentralen Halle, die rechts und links von den beiden grossen Sälen flankiert wird, durch die Ryan Ganders „leichte Brise“ zieht.

Das Brain ist, wie sein Titel nahelegt, das Gehirn der Ausstellung, beileibe nicht deren Herz; womit bereits Entscheidendes gesagt sein soll: das hochkonzeptuelle Brain ist – bei aller Sinnlichkeit zumindest einer erheblichen Zahl der dort anzutreffenden Exponate – der sich dem unbefangenen Betrachter wohl am schwersten erschliessende Teil dieser documenta 13. Und es wird erforderlich sein, sich zum Verständnis dieses Gehirns Zeit zu nehmen und auf die Überlegungen der documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev zurückzugreifen.

Julia Isídrez Rodas (Paraguay, *1967), Untitled, 2011, Keramik, Privatsammlung (Rom)

„Die Rotunde des Fridericianums ist“, so lesen wir über Christov-Bakargievs Intentionen im Katalog, „ein assoziativer Raum der Forschung, in dem anstelle eines Konzepts eine Reihe von Kunstwerken, Objekten und Dokumenten versammelt sind“. Letztere seien, wie die documenta-Chefin schreibt, lediglich für die Dauer der Ausstellung und also vorübergehend als „programmatischer, traumähnlicher Ort“ zusammengeführt worden.

↑ Ohne Titel (Thronende Prinzessin), ca. 2500 – 1500 v. Chr., Chlorit, Kalkspat und Lapislazuli, Privatsammlung
↓ Ohne Titel (Auf der Seite sitzende Prinzessin), ca. 2500 – 1500 v. Chr., Chlorit und Kalkspat, Privatsammlung

Die Bandbreite ist gross: Sie reicht von den „Baktrischen Prinzessinnen“ (nördliches Afghanistan, Turkmenistan, Usbekistan) aus der Zeit zwischen 2500 und 1500 v. Chr. bis hin zu Skulpturen von Sam Durant oder Giuseppe Penone. Wir finden in Vitrinen Objekte aus Adolf Hitlers Münchener Wohnung am Prinzregentenplatz, die US-amerikanische Besatzungstruppen, begleitet von der amerikanischen Fotojournalistin und Kriegsfotografin Lee Miller, dort am Tag nach Hitlers und Eva Brauns Selbsttötung antrafen. Malereien von Giorgio Morandi zeugen von dessen Arbeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir finden ein Gemälde von Mohammad Yusuf Asefi; dieser übermalte in der Zeit um die Jahrtausendwende in der Nationalen Galerie in Kabul (neben Alexandria und Banff einer der drei anderen Veranstaltungsorte dieser documenta) unter dem Vorwand der Restaurierung Tier- und Menschendarstellungen mit leicht wieder ablösbaren Aquarellfarben. Damit bewahrte er die so behandelten Gemälde vor der Zerstörung durch die Taliban. Und wir sehen eine Fotografie des chilenischen Natur- und Kulturforschers Horacio Larrain Barros, auf der „Nebelfänger“ abgebildet sind, die in der chilenischen Atacama-Wüste mit riesigen Netzen, in denen Nebeltropfen kondensieren, Trinkwasser gewinnen. Und eine frühe, durch Nässe und Knicke beschädigte Zeichnung von Gustav Metzger verweist auf die Präsentation seiner Arbeiten in der Dokumenta-Halle.

Rudolf Kaesbach (1873 – 1955), Die Ausschauende, Rosenthal-Edition, 1936, Porzellan, Privatsammlung (Rom); Eva Brauns Parfumflasche und Puderdose, Vintage-Objekte, Courtesy Lee Miller Archives; sämtlich vorgefunden in Adolf Hitlers Münchener Wohnung am 30. April 1945

Die Werke und Objekte sollen, so Carolyn Christov-Bakargiev, nicht auf eine Geschichte oder auf ein Archiv verweisen, sondern eine Gruppe von Elementen bilden, „die an widersprüchliche Verhältnisse und engagierte Positionen des In-und-mit-der-Welt-Seins erinnern – indem sie Ethik, Begehren, Angst, Hoffnung, Zorn, Entrüstung und Trauer an den Zuständen von Hoffnung, Rückzug, Belagerung und Bühne messen“ – jenen vier zentralen Positionen also, durch die sich die documenta 13 artikuliere, „die vier möglichen Bedingungen entsprechen, unter denen Menschen, und insbesondere Künstler und Denker, heute agieren“.

Sam Durant, Calcium Carbonate (ideas spring from deeds and not the other way around), 2011, Carrara-Marmor bearbeitet im Telara Studio d’Arte von Adriano Gerbi und Mauro Tonazzini; Courtesy der Künstler, Franco Soffiantino Gallery Turin

Was nun ist das Brain? Kein Verweis also auf eine Sammlung, ein Archiv. Es fällt auf, dass Zeugnisse aus der griechisch-römischen Antike, aus dem europäischen Mittelalter, aus dem, was wir die jüdisch-christliche Überlieferung, die abendländische Kultur nennen, fehlen. Ist Brain dennoch das Zentrum der documenta 13, deren Ausgangspunkt? Oder eine Art von Ouvertüre? Eher vielleicht Letzteres.

„Brain“, Gehirn, nennt Carolyn Christov-Bakargiev absichtsvoll diese Präsentation, nicht etwa „Heart“, Herz. Das Gehirn verarbeitet und steuert, das Herz, Symbol auch und Metapher, „lebt“, es steht für Liebe und Güte unter den Menschen wie zwischen den Menschen und deren Mitgeschöpfen. Das Herz der documenta 13 finden wir woanders: es ist Aufgabe des Betrachters, es zu entdecken.

Fotos: FeuilletonFrankfurt

→  documenta 13 in Kassel (1)
→  documenta 13 in Kassel (32)

→  documenta 13 in Kassel (34 – Schluss)

Die documenta 13 endet am 16. September 2012!

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