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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kunsthalle Mainz, „km 500.5“

Zusammengefaltet – bespitzelt – wanted:

Stipendiaten 2011 des Landes Rheinland-Pfalz und des Künstlerhauses Schloss Balmoral zeigen Kunst in Mainz

Text und Fotografien: Vera Mohr

Frank Bölters Formel 1-Wagen knallt regelrecht in die rheinland-pfälzische Tagespolitik, die vom Dauerbrenner Nürburg-Pleite verfolgt wird. Rechtzeitig zum Ausstellungsbeginn musste sich Ministerpräsident Kurt Beck mit einem Misstrauensvotum quälen, weil auch er dem Glanz des Schnelligkeitswahns nicht widerstand. Den gesellschaftlich fragwürdigen Wunsch nach „immer schneller“ thematisiert Frank Bölter und faltete das Statussymbol Auto in mühevoller Orgami-Technik zum „langsamsten Rennen auf dem Nürburgring“. Die an der Wand hängenden Faltanleitungen fordern auf, sich an der Entschleunigung zu beteiligen. Erst wenn der goldene Bolide zum Lahm-Ei mutiert, wird er zukunftsfähig. Doch wie viele Träume müssen dafür sterben?

Die Kunsthalle Mainz überlässt zum fünften Mal ihre Räume den internationalen Stipendiaten des Landes Rheinland-Pfalz. Neben den Künstlerinnen und Künstlern, die im Schloss Balmoral in Bad Ems zusammen lebten und arbeiteten, werden Werke von Stipendiaten gezeigt, die in Schloss Wiepersdorf, in London, Paris und Seoul Erfahrungen und Eindrücke sammeln konnten. Auf eine thematische Unterordnung wurde bewusst verzichtet, jedoch realisiert der Kurator der Ausstellung, Justus Jonas, eine Tendenz zum „Stofflichen“, während in den vergangenen Jahren die Medienkunst eine grössere Rolle spielte.

Im Erdgeschoss der Halle erwartet den Besucher beim Betreten ein Raum, der unwillkürlich an „Wald und Wiese“ erinnert. Er wird beherrscht von archaisch anmutenden Fabelwesen, Wald-Fotos hängen an den Wänden und alles wird bewacht von einem Hochstand. Die aufkommende Neugier auf ein Märchen wird nicht enttäuscht, denn Cony Theis bringt von ihrem Aufenthalt im Schloss Wiepersdorf die Story vom „schönen Ingo“ mit, der als potenter Förster die Jagd auf die holde Weiblichkeit beherrschte, bis er plötzlich von einem Tag auf den anderen verschwand. War’s veruntreutes Geld, das ihn zum Untertauchen bewog, oder zeigte ihm die brüskierte Konkurrenz den Weg in die ewigen Jagdgründe? Die Flammen der Gerüchte loderten hoch im abgeschiedenen Ort und sind bis heute nicht erloschen.

Und Cony Theis giesst Öl ins Feuer. Sie lädt ein, den Hochstuhl zu besteigen und eigene Wünsche ins Holz zu ritzen. Ihre „Wanted“-Gemälde fordern den Betrachter auf, sein Wissen über den Gesuchten mit der Künstlerin zu teilen.

Nadine Rennert, Figur, Pappmaschee

Beim Umdrehen erfüllt sich nahezu das Sprichwort „viele Jäger sind des Hasens Tod“, denn dort lehnt eine weibliche Figur mit einem toten Hasen an der Wand. Das doppelgesichtige Wesen gehört zu den Werken der Berliner Bildhauerin Nadine Rennert, die sich während ihres Aufenthaltes in Seoul mit der traditionellen Papierherstellung des Landes vertraut machte.

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Nadine Rennert, Figur, Pappmaschee

In ihren Arbeiten kommt sie immer wieder auf die Frage nach dem Tod zurück, der aus dem heutigen Leben zu oft ausgeklammert wird. Ihre fahlen Figuren aus Pappmaschee bestehen aus einzelnen Teilen, die mit Schrauben und Muttern zusammengehalten werden.

Auch in den Fotos von Claudia del Fierro bleibt vieles im Geheimen. Die Personen im Unterholz sind teilweise nur in Bruchstücken zu erkennen. Was sie dort im Wald treiben, wird nicht deutlich und bietet viel Raum für Interpretationen.

Claudia del Fierro, Fotos (Ausstellungsansicht)

Mit dem sensiblen Bereich der Überwachung beschäftigte sich das Künstlerpaar Özlem Günyol und Mustafa Kunt. Sie beauftragten ein Detektivbüro, sie bei ihrem Stadtbummel durch New York zu beobachten, wobei die beiden nicht wussten, an welchem Tag sie beschattet wurden. Den Bericht und die entstandenen Fotos und Filme präsentieren die Künstler unter dem Thema „Subject & Female Subject“, um auf die zunehmende Kontrolle hinzuweisen, die Ausländer und Muslime seit dem nine-eleven ausgesetzt sind. Leider bleibt unklar, inwieweit die Detektive in die Kunstaktion eingeweiht waren.

Özlem Günyol und Mustafa Kunt, Überwachungsprotokoll (Auszug)

Barbara Breitenfellner aus Berlin sammelte während ihres Aufenthaltes in der Seine-Metropole Magazine und Zeitschriften, aus denen sie Collagen und Siebdrucke fertigte. So entstand ein Art Journal, das ihre persönlichen Träume widerspiegelt.

Barbara Breitenfellner, Collagen (Ausstellungsansicht)

Kurzbiografien:

Frank Bölter (Anwesenheitsstipendium Künstlerhaus Schloss Balmoral), 1969 in Lippstadt geboren, Studium der Visuellen Kommunikation an der Fachhochschule Münster, der Freien Kunst an der Kunstakademie Münster (Meisterschüler bei Daniele Buetti) und an der Academia de las Bellas Artes, Barcelona; lebt und arbeitet in Köln.

Barbara Breitenfellner (Stipendium für die Cité Internationale des Arts, Paris), geboren 1969 in Kufstein, Studium der Bildenden Kunst und Germanistik, Akademie für Bildende Künste und Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Master of Fine Art, Glasgow School of Art (Douglas Gordon); lebt und arbeitet in Berlin

Claudia del Fierro (Anwesenheitsstipendium Künstlerhaus Schloss Balmoral), 1974 in Santiago, Chile geboren, Studium (Staatsexamen) der Kunst, Universidad de Chile (Magister Artes Visuales); lebt und arbeitet in Schweden und Chile

Özlem Günyol (gemeinsam mit Mustafa Kunt Stipendium für Residency Unlimited und Flux Factory, New York), 1977 in Ankara geboren, Studium an der Hacettepe University, Sculpture Department, Ankara, der Hochschule für bildende Künste (Städelschule), Frankfurt am Main und der Akademie für Bildende Künste, Mainz

Mustafa Kunt, geboren1978 in Ankara, Studiengang wie Özlem Günyol

Das Künstlerpaar Özlem Günyol und Mustafa Kunt lebt und arbeitet in Frankfurt am Main

Nadine Rennert (Südkorea Austauschstipendium), 1965 in Neustadt/Weinstrasse geboren, Studium an der Hochschule der Künste, Berlin (Meisterschülerin), Austauschstudentin an der Göteborger Kunsthochschule, lebt und arbeitet in Berlin

Cony Theis (Anwesenheitsstipendium Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf/Brandenburg), geboren 1958 in Ewersbach, Kunststudium an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Mainz und an der Kunstakademie Düsseldorf (dort Meisterschülerin bei Rolf Crummenauer), lebt und arbeitet in Köln

Weitere ausstellende Künstlerinnen und Künstler:

Janus Hochgesand, Stefanie Kettel, Susanne Kriemann, George Henry Longly, Marion Porten, Hanna Schwarz und Emma Wolukau-Wanambwa

„km 5oo.5“, Ausstellung der Stipendiatinnen und Stipendiaten 2011 des Landes Rheinland-Pfalz und des Künstlerhauses Schloss Balmoral, Kunsthalle Mainz, bis 7. Oktober 2012

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