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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

documenta 13 in Kassel (28)

Sam Durant baut den Super-Galgen

Zugegeben – so ganz geheuer kam uns das Holzgerüst in der kilometerlangen Blickachse zwischen dem Orangerieschloss und der Schwaneninsel im Grossen Aueteich nie vor, einer Annäherung an das Monstrum wichen wir, von unbestimmten Ahnungen geplagt und deshalb diese und jene Ausflüchte bemühend, eine Zeitlang aus. Dann jedoch obsiegten Forscherdrang und Neugierde, sich dem Sperrigen mit der Werksbezeichnung „Scaffold“, in Klardeutsch also Schafott oder besser Galgen, anzunähern und es am Ende gar zu besteigen. Es geht in der Tat hoch hinauf, und das auch noch auf eigenes Risiko.

Wie sagte doch einst Tracey Emin: „Ich stehe am Rande des Abgrunds, doch die Aussicht von hier ist grandios“.

Ist sie auch, im Grunde genommen. Und schliesslich stehen wir ja auf einem Kunstwerk, da dürfte uns Schlimmeres wohl kaum zustossen.

Es fügt sich, dass ein kühler, kräftiger, in Böen fast stürmischer Wind bläst, auf dem sonst so friedlichen Aueteich, unsere Grossmutter kannte ihn noch unter dem Namen „Grand Bassin“, entfacht er ein kleines Meer von ungewohntem Wellengang. Aus der Ferne grüsst der klassizistische Tempel auf der Schwaneninsel. Doch der als „Seepromenade“ bekannte, bei der Kasseler Bevölkerung beliebte Platz in der eingangs erwähnten Blickachse ist ein anderer geworden.

Auf jenem Platz hat Sam Durant ein abenteuerlich anmutendes, rund zehn Meter hohes Holzgestell errichtet. Es besteht aus einer Reihe von Elementen, die der Künstler entsprechend dem Vorbild historischer wie zeitgenössischer Galgen massstabgetreu nachgebaut hat: so der Galgen, auf dem 1886 vier der vermeintlichen Bombenleger des in die Geschichte der USA eingegangenen Chicagoer Haymarket Riot gehenkt wurden; auf dem Billy Bailey, 1996 der letzte in den USA unter weltweiter medialer Beobachtung am Galgen Hingerichtete, starb; auf dem Saddam Hussein in der Nacht auf den 30. Dezember 2006 exekutiert wurde. Durant fertigte einige derartiger Konstruktionen im Rahmen einer laufenden Werkgruppe, in der er sich – mit Plastiken, Zeichnungen und Publikationen – mit der US-amerikanischen Geschichte, ihren Höhepunkten und Abgründen und aktuell mit der Todessstrafe kritisch auseinandersetzt.

Über steile Treppen erreicht man die Hauptplattform der Konstruktion, die – irritierend und verfremdend – nicht auf dem Boden ruht, sondern an einem Gestell aus Stahlstützen gleichsam selbst aufgehängt ist. Eine Kammer und verschiedene Bodenelemente erinnern an Räume für das Henkerpersonal oder an die Falltüren.

Nein, das ist kein Spielplatz oder Klettergerüst, wie dem emporsteigenden Betrachter alsbald klar wird. Und die Gedanken kreisen um ein Wie-wäre-es-wenn, … na ja, wenn man als Delinquent oder politisch Missliebiger, Verfolgter und Verurteilter auf einem solchen hölzernen Apparat stünde, auf einer kaum verborgenen Falltür, hinter uns der maskierte Henker, die Schlinge ansetzend. Zu Füssen gar eine gaffende Meute, wie zigtausendfach im Mittelalter, so vielleicht auch heute noch hier und da durchaus möglich in hoffentlich immer kleiner werdenden Teilen unserer Welt, die wir schon deshalb – obwohl in ihnen Kraftfahrzeuge gefahren und Flugzeuge geflogen und Hochhäuser gebaut werden – als unzivilisiert und inhuman bezeichnen müssten?

Ein letzter Blick vom hohen Galgen hinab zum Orangerieschloss und zur Schwaneninsel … ach, zum Glück können wir auf eigenen Füssen wieder heruntersteigen auf die Seepromenade und den kühlen, frischen Wind geniessen, ja und zwei Schwäne haben sich inzwischen auch eingefunden.

Scaffold, 2012 (Ausstellungsansichten und Details), Holz, Metall, 1028 x 1442 x 1578 cm; gestaltet von Sebastian Clough mit punkt vier architekten und Klute & Klute Ingenieurbüro; in Auftrag gegeben und produziert von der documenta 13; Courtesy der Künstler und Blum & Poe, Los Angeles, Sadie Coles HQ, London, Paula Cooper Gallery, New York, Praz-Delavallade, Paris

Sam Durant, 1961 in Seattle, Washington geboren, studierte am California Institute of the Arts, Valencia, CA, sowie am Massachusetts College of Art, Boston, mit den Abschlüssen Master und Bachelor of Fine Arts. Er lebt und arbeitet in Los Angeles. Die Liste seiner internationalen Ausstellungen ist kaum mehr überschaubar. Durant lehrt am California Institute of the Arts in Valencia, CA.

Fotos: FeuilletonFrankfurt

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→ documenta 13

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