documenta 13 in Kassel (23)
Lara Favaretto: Alles Schrott – oder?
„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis …“ (Beginn der letzten Verse in Johann Wolfgang Goethes Faust II)
Warum sollten wir nicht versuchen, uns von den Vorstellungen und Gefühlen freizumachen, die sich bei uns für gewöhnlich und angelerntermassen beim Anblick eines Haufens Schrott einstellen? Gelingt uns dies, und blicken wir wie die alten Fotografen die Dinge zunächst durch ein kleines Bilderrähmchen und dann durch den Sucher der Kamera an, können wir Erstaunliches erkennen: Schrott kann auch schön sein. So oft und wohin wir den Blick auch wenden und fokussieren, sehen wir ein bisher nicht wahrgenommenes Detail, entdecken wir ein ungeahntes Zusammenspiel von Formen und Farben.
Wir öffnen uns einem Fragen und Suchen, was das alles früher einmal gewesen sein und wozu es gedient haben mag, was für Interessen und Absichten die Menschen verfolgten, denen dies alles einmal gehörte, warum und wozu diese die Maschinen und Gegenstände erworben und warum sie sie früher oder später der Verschrottung preisgegeben haben. Wir denken an einen Kreislauf von Produktion, Verwendung, Abnutzung und Vernichtung der zunächst nützlichen Gegenstände, heute gefolgt von dem, was wir neudeutsch Recycling nennen, dem Beginn für Neuproduktion und Wiederverwendung.
Die italienische Künstlerin Lara Favaretto hat in Kassel einen riesigen Schrotthügel errichten lassen. Man sollte sich mit gutem Schuhwerk versehen, wenn man sich dorthin begeben will: Durch den einstigen Haupt-, heute Regional- und Kulturbahnhof führt der Weg, er zeichnet sich im Freien durch besonders holpriges Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher aus, führt hunderte von Metern an halbverfallenen Lagerhallen vorbei, allerlei Gerümpel, Verrostetes und Verrottetes stimmen den Besucher bereits auf das Gesuchte und zu Erwartende ein, bis man ihn denn endlich erblicken kann, den Hügel aus Schrott, weit draussen im vor sich hinrostenden Gleisvorfeld, dessen grössere Flächen sich nach der Stillegung längst eine wie durch Zauberkraft wuchernde Natur zurückerobert hat. Womit wir wieder bei einem der zentralen Themen dieser documenta angelangt wären.
Momentary Monument IV (Kassel), 2012, verschiedene Materialien, ortsbezogene Masse (Ausstellungsansichten und Details), in Auftrag gegeben und produziert von der documenta 13, Courtesy die Künstlerin und Galleria Franco Noero, Turin
In ihrer zweiteiligen Installation Momentary Monument IV (der andere Teil befindet sich auf dem Bagh-e Babur in Kabul, neben Alexandria/Kairo und Banff der vierte Veranstaltungsort der diesjährigen Kasseler documenta) liess Lara Favaretto Altmetall-Schrott aus Mülldeponien und Recyclingbetrieben aufschütten, ohne dabei ein ästhetisches Gestaltungsziel zu verfolgen. Einige Elemente des Schrotts entnahm sie für eine quasi-museale Ausstellung in einer der benachbarten Güterhallen. An deren Stelle in der Freilichtinstallation setzte sie aus Zement gefertigte vergleichbare Ersatzstücke. Die Künstlerin spielt dabei – in ihrer oft zu beobachtenden provokanten, ironisch-sarkastischen Manier – auf eine der Grundideen der aktuellen documenta „Collapse and Recovery – Zusammenbruch und Wiederaufbau“ an, ferner auf den kulturellen Gegensatz von Dauer und Erhalt etwa in einem musealen Umfeld und der Vergänglichkeit der Dinge in der industriellen Massenproduktion einer Wegwerf-Gesellschaft.
Lara Favaretto, 1973 in Treviso geboren, studierte an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand. Sie arbeitet im Bereich Installation und Skulptur wie auch Fotografie und Film. Sie bestritt weltweit zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen und nahm an der 51. Biennale in Venedig 2005 teil. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Turin.
Fotos: FeuilletonFrankfurt