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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

documenta 13 in Kassel (22)

Christian Philipp Müller baut die Mangold-Fähre
oder: „Der Russe kommt nicht mehr über die Fulda“

Das Technische Hilfswerk (THW) hilft – wie schon der Name sagt -, wo immer es kann. Übrigens auch Künstlern. Zumal dann, wenn der Künstler zugleich Rektor der Kunsthochschule Kassel ist und wenn die Hilfe zur Geburt eines neuen Kunstwerks beiträgt. Christian Philipp Müller besorgte sich also von verschiedenen THW’s drei Pontons, wie sie beispielsweise zur provisorischen Überbrückung von Flüssen benötigt werden. Pontons kamen und kommen auch in kriegerischen Auseinandersetzungen zum Einsatz, um Truppen über Gewässer zu führen, wenn Brücken zerstört sind. Auf Letzteres spielt in ironischer Weise der Untertitel von Müllers Arbeit an: Kassel lag jahrzehntelang im „Zonenrandgebiet“ nahe der ehemaligen DDR, wenige Dutzend Kilometer entfernt von den dortigen sowjetischen Besatzungstruppen. Das ist nun bereits – dem Himmel sei ’s gedankt – alles eine lange Zeit her.

Drei Pontons bilden also, verschränkt nebeneinander vertäut, temporär fixiert und dennoch auf ihre eigene Weise schwankend-mobil, eine Art von Brücke über den Küchengraben, eine der künstlich angelegten Wasserstrasssen der barocken Karlsaue unweit der Gebäude der Kasseler Kunsthochschule. Wir erkunden den Weg von einem Ufer zum anderen und wieder zurück, die Passage eignet sich wahrlich nicht für Gehbehinderte, es geht mehrfach über steile Leiterchen und Treppenstufen, wir haben auch Zweifel daran, ob die längst der Pontons gespannten Drahtseile einen Ungeschickten oder Fehltrittigen wirklich vor einem unfreiwilligen Bad im Küchengraben bewahren könnten. Und wer will schon pitsche patsche nass auf der documenta herumlaufen.

Swiss Chard Ferry / Mangold-Fähre (Der Russe kommt nicht mehr über die Fulda), 2012, THW-Pontons, Mangold, Körbe, Erde, Masse variabel (Ausstellungsansichten und Details); in Auftrag gegeben und produziert von der documenta 13, Courtesy der Künstler

Und nun zu Beta vulgaris, besser bekannt als Mangold, es soll sich um eine Rübenart handeln, obgleich nur Blätter und Stiele verzehrt werden, nicht die Wurzel, als Stiel- und Rippenmangold auch Krautstiel genannt, als Schnitt- und Blattmangold heisst er auch Beisskohl oder Römischer Kohl: was für ein sonderbares, in vielen Haushalten gar nicht mehr bekanntes Gewächs. Kräftig schmeckt er, der Mangold, und schön sieht er auch aus, Künstlerherz, was willst du mehr?

60 und mehr Arten von Mangold haben Müller und seine Assistenten zusammengetragen, auf den Pontons angepflanzt und im Kasseler Naturkundemuseum im Ottoneum als Samen ausgestellt. In kargen Zeiten einst als ein Notessen, die Mangoldstiele als „Spargel der Armen“ angesehen, ist Mangold heutzutage in Gourmetrestaurants anzutreffen – verkehrte Welt, Zeitgeist: So gehen in Friedenszeiten überflüssig gewordene Pontons und in Zeiten des Überflusses und Prassens wiederentdeckter Mangold eine neuartige Liaison ein, stehen ein Stück weit für all das, was die aktuelle documenta dem Publikum vermitteln möchte.

Vermittlung übrigens auch ganz im Sinne eines Einverleibens: Am 15. September 2012, 17 Uhr, ist eine zweite Aktion an der Mangoldfähre vor der Kunsthochschule Kassel geplant: Künstler-Rektor Christian Philipp Müller wird für 150 Besucherinnen und Besucher eine Mahlzeit aus verschiedenen Mangoldsorten zubereiten lassen und dazu sein Projekt erläutern. Ein Teilnahmebillet kann an den documenta-Kassen am Friedrichsplatz für 5 Euro erworben werden.

An den Ufern des Küchengrabens haben sich Enten und Gänse längst an den Anblick der Mangold-Fähre gewöhnt. Carolyn Christov-Bakargiev wird ihre Freude daran haben.

Christian Philipp Müller, 1957 im schweizerischen Biel geboren, besuchte zunächst eine Schule für experimente Gestaltung in Zürich und anschliessend die Kunstakademie in Düsseldorf, wo er Assistent von Professor Kasper König wurde. Er vertrat das Land Österreich auf der Biennale in Venedig 1993 und nahm 1997 an der documenta 10 teil. 2011 wurde er zum Rektor der Kunsthochschule Kassel berufen.

Fotos: FeuilletonFrankfurt

→  documenta 13 in Kassel (1)
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→ documenta 13

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