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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Stephan Balkenhol in der Kirche Sankt Elisabeth zu Kassel

Kirche St. Elisabeth am Kasseler Friedrichsplatz – der sich im Campanile drehende „Mann im Turm“ des Bildhauers Stephan Balkenhol schaut weit über Stadt und Land

Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Bildhauern der Gegenwart: Stephan Balkenhol. Wir kennen eigentlich niemanden, der nicht von seinen grossen und kleinen Figuren, zumeist aus Wawaholz geschnitzt, angetan ist. Kein anderer als Balkenhol war es, der im vergangenen Jahr der grossen Jubiläumsausstellung zum 20. Geburtstag des Frankfurter Museums für Moderne Kunst MMK mit seinen „57 Pinguinen“ das Titelmotiv gab.

Nun widmen das Bistum Fulda und die Katholische Kirche Kassel dem Künstler in St. Elisabeth am Friedrichsplatz eine zeitlich in etwa parallel zur documenta 13 laufende Ausstellung der besonderen Art. Sie verändert das Gebäude – im Äusseren wie im Inneren – auf eine nachhaltige Weise.

Im offenen obersten Stockwerk des schlanken Campanile: Stephan Balkenhols „Mann im Turm“, 2012, Aluminium bemalt und Epoxy vergoldet, Höhe 200 cm

Der bekannte Konflikt zwischen der documenta-Leitung und der Katholischen Kirche ist Schnee von gestern – oder sollte dies zumindest sein. Carolyn Christov-Bakargiev betonte in der Pressekonferenz, sie habe nie den Versuch unternommen, den „Mann im Turm“ oder die Balkenhol-Ausstellung zu verhindern. Bei der einen oder anderen Äusserung mag es zudem zu Missverständnissen in der Übersetzung aus dem Englischen gekommen sein.

Wir verstehen sehr wohl das Anliegen der documenta, dem Publikum jeweils ein kuratiertes, klar abgegrenztes und unverwechselbares, documenta-spezifisches künstlerisches Angebot zu präsentieren. Weder Balkenhols Turm-Skulptur noch die Ausstellung im Kirchenraum konterkarieren jedoch diesen Anspruch, wie man sich vor Ort unmittelbar überzeugen kann. Dass sich mit dem documenta-Konzept und der Balkenhol-Ausstellung zwei diametral entgegengesetzte Kunstbegrifflichkeiten und Weltbilder gegenüberstehen, ist nicht zu beanstanden und Teil des gesamtgesellschaftlichen Diskurses. Deshalb verwundert es, dass documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld auch Tage nach der Preview-Eröffnung immer noch grollte und im Interview mit dem Hessischen Rundfunk von „Trittbrettfahrern“ sprach, die „fünf Jahre vor sich hin schlafen und nur zur documenta wach werden“. Die Kunst ist frei. Ein jeder darf Kunst ausstellen wo und wann er will, solange er nicht Verfassung und Gesetze verletzt. Punktum!

Bleiben wir zunächst bei dem „Mann im Turm“: Er steht, mit weissem Hemd und schwarzer Hose, auf einer goldfarbenen (Welt?)-Kugel, die sich in bestimmten Abständen nach allen Himmelsrichtungen dreht. Er breitet die Arme, einer Segnungsgeste ähnlich, aus. Man kann aber auch etwas Schwebendes, Tänzerisches in dieser Geste erblicken, ja eine um ihr Gleichgewicht bemühte, über dem Abgrund balancierende Gestalt. Oder gar, das Kreuz auf der Turmspitze nachstellend, einen Kruzifixus. Der Künstler liefert uns keine Interpretationsanweisung; täte er solches, wäre er nicht Künstler, sondern allenfalls Essayist, Feuilletonist. Der Künstler spricht zu uns allein durch sein Werk. Wir können den ausgezeichneten Katalog zur Ausstellung lesen, als willkommene Anregung, aber wir bleiben für den Zugang, gar ein Urteil doch auf uns selbst angewiesen.

Balkenhols Skulpturen lassen sich – wie im übrigen eigentlich Skulpturen generell – auf zumindest zweierlei Weise betrachten, wie auch Professor Matthias Winzen im Katalog ausführt: einerseits im Raum der „bildhaften Bedeutung, der Imagination“ und andererseits „dem der materialen Präsenz, dem anfassbaren Dasein im physischen Raum“. „Ich bin ein Leib und habe einen Leib – die konstitutive Doppeldeutigkeit meiner leiblichen Existenz ermöglicht mir, das lebendige Hin und Her zwischen materialer Konkretion und imaginativer Bedeutung zu verstehen, aus denen Skulptur besteht“, schreibt er. Auf alle Fälle faszinieren die Figuren, wie wir, leider hier nur abbbildhaft, noch sehen werden, schon durch ihre reine Präsenz, „ihr stilles, beharrliches Dasein“. Zwar können wir als gesichert annehmen, dass Balkenhol für St. Elisabeth keine „Heiligenfiguren“ schaffen wollte. Auf der anderen Seite geben wir uns nicht mit einer sich in Materialität erschöpfenden Annäherung an das Werk zufrieden. Vielmehr ermöglicht der Künstler es uns, oder umgekehrt ausgedrückt verunmöglicht er es uns nicht, bei Betrachtung seiner Menschendarstellungen an verinnerlichte Bedeutungszusammenhänge, auch an christliche Traditionen, Überlieferungen und Überzeugungen anzuknüpfen.

Die 1959/1960 – nach der Kriegszerstörung der alten – neu erbaute St. Elisabeth-Kirche ist als dreischiffige Basilika mit freistehendem hochaufragendem Campanile konzipiert, deren Seitenschiffe jedoch nicht überdacht, sondern als Gartenräume angelegt sind.

Dort wie auch im Innenraum begegnen wir wieder dem Mann von der Turmspitze – im weissen Hemd und schwarzer Hose. Im linken Seitenschiff steht er – fragend? sich rechtfertigend? zweifelnd? – einem ins Riesenhafte vergrösserten Konterfei seiner selbst gegenüber. Sein eigenes Gesicht blickt ihm entgegen – und umgekehrt blickt er in sein eigenes Gesicht. Sigmund Freudsches Ich und Über-Ich? Projektion einer Angst vor Ungewissheit und Versagen? Schuld und Rechtfertigung vor einem grossen Richter, gar vor dem biblischen „jüngsten Gericht“?

Grosser Kopf und männliche Figur, 2010/2012, Epoxy und Holzspäne, Bronze bemalt, 4 x 4 m

Auf der vom Eingang aus betrachtet linken Seite des Kirchenschiffs befinden sich die über lebensgrossen, weit über drei Meter messenden Skulpturen „Frau mit blondem Haar“, in der Mitte „Maria“ und, nahe dem Altar, das Diptychon „Paradies“; in umgekehrter Reihenfolge auf der rechten Seite das Diptychon „Tod und Mann“, in der Mitte der „Schmerzensmann“ und schliesslich der „Mann mit dunkelblauem Hemd“.

„Maria“, in traditionellem Marien-Blau gefasst, hält den im Campanile so exponiert auf der goldenen Kugel balancierenden Mann mit weissem Hemd und schwarzer Hose wie ein Jesuskind in ihren Armen. Im „Schmerzensmann“, mit unbekleidetem Oberkörper, überkreuz gehaltenen Handgelenken und einer rot klaffenden Wunde an der rechten Brust, könnte ein Betrachter unschwer den wiederauferstandenen Christus erkennen. Beide Skulpturen stehen sich im Kirchenschiff gegenüber.

Gegenüber stehen sich auch die beiden Diptychen „Paradies“ und „Tod und Mann“ – Adam und Eva und das Memento mori, Lebensbeginn und Lebensende.

Maria, 2012, Wawaholz, Höhe 340 cm
Paradies (Diptychon), 2012, Wawaholz, Höhe 350 cm
↓  Tod und Mann (Diptychon), 2012, Wawaholz, Höhe 350 cm
↓  Schmerzensmann, 2012, 2012, Wawaholz, Höhe 340 cm

Auch sie stehen sich im Kirchenschiff, nach dem Betreten als erste der Figuren zur Linken und zur Rechten, gegenüber: eine Frau und ein Mann, zwei Menschen der Gegenwart, dem Jetzt und Heute entnommen. Sie, wie bereits beschrieben, neben der „Maria“, er benachbart dem „Schmerzensmann“.

←  Frau mit blondem Haar, 2012, Wawaholz, Höhe 340 cm
→  Mann mit dunkelblauem Hemd, 2012, Wawaholz, Höhe 350 cm

Vor dem als ein grosses gleichschenkeliges Kreuz über dem Altar gestalteten stationären Kruzifix hat Balkenhol vier quadratische Tafeln montiert, eine jede unregelmässig mit drei, vier oder fünf Augen bemalt. Die senkrechten und waagerechten Zwischenräume bilden ihrerseits ein gleichschenkeliges Kreuz, das den Blick auf das dahinter liegende Kruzifix teilweise freigibt. Eine Installation, in der wir Zweifeln, Abwenden und dennoch Suchen erahnen.

Augenkreuz, 2012, Wawaholz, 4 x 4 m

In der unter dem Campanile gelegenen Krypta schliesslich die zierliche, anmutige, ja erotische Gestalt einer jungen Frau, angetan mit einem weissen Kleid oder Tuch (der Künstler liess die Bildlegende unvollendet). Natürlich denken wir sofort an die Namensgeberin der Kirche: die auch im Protestantismus verehrte, 1231 im Alter von nur 24 Jahren verstorbene Heilige Elisabeth, Landgräfin von Thüringen, Schutzpatronin von Hessen und Thüringen. Welchen Grund mag es haben, dass sie mit der Krypta vorliebnehmen muss, mag sich ein Betrachter fragen. Aber ist eine Krypta nicht vielmehr Fundament für all das, was über ihr errichtet wurde?

Frau mit weissem [Tuch], 2012, Pappelholz, Höhe 90 cm

Begeben wir uns in das rechte, unter freiem Himmel liegende Seitenschiff, sehen wir die monumentale, bald sechs Meter hohe, von stilisierten Gold- und Silbermünzen umgebene Skulptur Sempre più, Immer mehr: einen Götzen des Mammons, Sinnbild der Gier, der Unersättlichkeit auf der Jagd nach Gütern und Geldern. Einen, gar „den“ Menschen von heute?

Sempre più, 2009, Zedernholz, Höhe 570 cm

Wer von der documenta geht, so heisst es, ist ein anderer, als der er kam. Das stimmt. Und es gilt auf seine Weise gleichermassen für die einzigartige Ausstellung in St. Elisabeth.

Können wir uns – nach einigen Tagen der Begegnung und Betrachtung – diesen Campanile noch ohne ihn vorstellen, den „Mann im Turm“? Gewiss nein. „Diese Kirche hat auf Balkenhol gewartet, und mit Sicherheit ihr Turm“ sagt Ausstellungskurator Christoph Baumanns. Und so hoffen wir mit allen anderen, die uns in diesem Zusammenhang begegnet sind, dass die Skulptur dort ihren kongenialen, endgültigen Platz gefunden hat.

„Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth“, Kirche Sankt Elisabeth in Kassel, bis 18. September 2012

(abgebildete Werke © VG Bild-Kunst, Bonn; Fotos: FeuilletonFrankfurt)

 

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