Caodaismus – ein kunterbunter Mix der Weltreligionen
Von Hans-Bernd Heier
Dem Caodaismus bin ich zum ersten Mal begegnet, als ich das Buch „Das Mädchen hinter dem Foto“ von Denise Chong las. Ich wollte mehr über das Schicksal der Vietnamesin Kim Phuc erfahren. Ihr Bild ging 1972 rund um die Welt und grub sich ins kollektive Gedächtnis ein. Es war eines der Fotos, das Geschichte machte (so lautet auch der Titel einer Fotoausstellung „Making History“, die zur Zeit im Frankfurter Kunstverein zu sehen ist und Bezug auf Nick Uts berühmtes Foto nimmt). Ein kleines nacktes Mädchen, das sich die Kleider vom Leib gerissen hatte, lief mit schmerzverzerrtem Gesicht um sein Leben. Mit schlaffen, leicht vom Körper abgespreizten Armen und schwersten Napalm-Verbrennungen rannte die damals Neunjährige über die Strasse. Dieses Foto brachte dem Kriegsfotografen Nick Ut den renommierten Pulitzer-Preis, die angesehenste journalistische Auszeichnung, ein und löste weltweit noch vehementere Proteste und Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg aus. Auch in den USA trug dieser erschütternde Schnappschuss zu einer immer stärkeren Ablehnung dieses grausamen, wahnsinnigen Krieges bei. Das schreckliche Foto ist heute im Kriegsmuseum in Ho Chi Min City (dem ehemaligen Saigon) zu sehen.
Kim Phucs Eltern waren Caodaisten. Sie lebten in einem Dorf in der Nähe von Tay Ninh. Dort war und ist auch heute noch das Zentrum dieser im Wesentlichen in Südvietnam verbreiteten Glaubensrichtung. In dieser Zentrale suchten die Anhänger der Sekte häufig Schutz gegen Kriegsangriffe und Überfälle, weil sie überzeugt waren, dass weder die Vietcong noch die Viet Minh es wagen würden, das Heiligtum, die Wallfahrtsstätte, zu attackieren, zumal die Caodaisten selbst über ein bewaffnetes Heer verfügten.
Der prächtige Tempel in Tây Ninh ist Wallfahrtsziel für Caodaisten wie auch Touristen
Caodaismus – der Versuch einer Weltreligion
Ngô Van Chiêu (1878 bis 1932), der im Dienst der französischen Kolonialverwaltung stand, gilt als der Begründer dieser Glaubensrichtung. Ihm soll sich der Geist Cao Dài erstmals im Jahre 1919 offenbart haben. Er erschien Ngô Van Chiêu in Form eines grossen, strahlenden Auges in einem Dreieck von goldenen Strahlen umkränzt.
Später hatte der Vietnamese in mehreren Trancesitzungen weitere für ihn tief beeindruckende Erscheinungen des höchsten Wesens. Danach fühlte er sich berufen, die Lehren westlicher und östlicher Religionsstifter zu einer Weltreligion unter einem Dach zu vereinigen. Denn Ngô Van Chiêu war überzeugt: „Wegen der Vielfalt der Religionen kann es keine wahre Harmonie auf dieser Welt geben – nur ein Zusammenschluss wird die Menschheit zur ursprünglichen Einheit zurückführen“.
Der Geist Cao Dài offenbarte sich auch dem reichen, ehemaligen Mandarin Lê Van Trung, einem Opiumraucher und Lebemann aus Saigon. Diesem wurde in einer okkulten Sitzung seine neue Mission mitgeteilt. Der damals 50-jährige änderte daraufhin seinen Lebenswandel radikal – wandelte sich gewissermassen von einem Saulus zu einem Paulus. Er sah sich fortan als Führer des Caodaismus an. Zusammen mit Ngô Van Chiêu begründete er diese neue Glaubensrichtung.
Das mystische Auge symbolisiert den obersten Gott, den Cao Dài
Die offizielle Gründung der Sekte erfolgte im November 1926 in Tây Ninh, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, knapp 100 Kilometer nordwestlich von Saigon und keine 30 Kilometer von der kambodschanischen Grenze gelegen. Hier wurde bis zum Jahre 1937 ein Wallfahrtszentrum mit dem Sitz des „Heiligen Stuhles“, eine Art „Mini-Vatikan“, errichtet. Lê Van Trung wurde der erste Papst.
Die neue Glaubensrichtung breitete sich rasch in Südvietnam aus. Denn Lê Van Trung erregte mit der Änderung seines Lebenswandels erhebliches Aufsehen und brachte dadurch der Sekte grossen Zulauf. Spiritismus und Weissagungen konnten in dieser Zeit mit beträchtlichem Erfolg rechnen. Zudem durften Frauen an den Sitzungen des Konzils teilnehmen und alle Ämter mit Ausnahme des Obersten Führers, der Papst genannt wird, bekleiden. Alle Priester leben im Zölibat.
Nach dem Tode Trungs im Jahre 1934 bestimmte das Konzil Pham Công Tac zum Papst, einen Mann, der es verstand, die Sekte nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu organisieren, ohne die politischen und sozialen Aspekte ausser Acht zu lassen. Seit seinem Tod ist das Amt unbesetzt. Aufgrund von Restriktionen seitens der sozialistischen vietnamesischen Regierung ist es den Caodai-Anhängern nicht erlaubt, einen neuen Papst einzusetzen oder spiritistische Sitzungen durchzuführen.
Die Welt des Caodaismus – eine synkretische Glaubensbewegung
Der Caodaismus ist eine synkretische Lehre und vereint verschiedene religiöse Richtungen und verbindet bekannte und neue Gedanken. Die Glaubensbewegung vermischt Christentum und Buddhismus mit Hinduismus, Daoismus, Konfuzianismus sowie Islam und „verschmilzt alles noch mit dem alten vietnamesischen Geister- und Ahnenglauben“, so der Experte Alex Mais.
Prächtig sind die Gewänder der Würdenträger
Vom Katholizismus wurde die priesterliche Hierarchie übernommen. Auch das prunkvolle Zeremoniell der Gottesdienste orientiert sich – mit Ausnahme des okkultischen Teils – an dem der katholischen Kirche. Die Messe wird in den üppig ausgestatteten Tempeln mit Weihrauch, Geisterbeschwörungen und Gebeten vollzogen. Der Aufwand an Seidengewändern und Kirchengerät ist geradezu pompös und äusserst farbenprächtig. Dabei steht die Farbe gelb für Buddhismus, blau für den Daoimus, rot symbolisiert den Konfuzianismus und weiss steht in Verbindung mit dem Christentum, auch Novizen tragen weisse Gewänder.
Der Caodaismus lehrt die Unsterblichkeit der Seele, die Wiedergeburt, Brüderlichkeit und „christliche Nächstenliebe“. Nur wer die Grundgebote der Lehre – nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen – treu befolgt sowie Humanität, Liebe und Gerechtigkeit praktiziert, wird im Nirwana seine Erlösung vom Weltschmerz und die Glückseligkeit finden. Die Lehre nimmt für sich in Anspruch, die endgültige Offenbarung für alle Religionen der Welt und für die Weltgeschichte zu bieten.
Anspruchsvolle Leitprinzipien
Die Sekte schuf für ihre Mitglieder soziale Einrichtungen, die bisher unbekannt waren, und führte die Schulpflicht ein. Vegetarismus und Verzicht auf Alkohol werden als moralische Pflicht erwartet.
Überladen bis kitschig wirkt das Innere der Tempel
Spiritismus und Okkultismus im Caodaismus
Nach der caodaistischen Lehre folgen Zeiten des Aufstiegs solchen des Niedergangs – bis zum Ende der Welt. In spiritistischen Sitzungen versuchen die Sektenmitglieder, mit der höchsten Gottheit Kontakt aufzunehmen und göttliche Botschaften aus dem Universum zu empfangen. Als sogenannte Medien dienen Heilige, aber auch bedeutende historische Persönlichkeiten – unter ihnen Victor Hugo, Jeanne d`Arc, Chateaubriand, Isaac Newton, Johannes der Täufer, der chinesische Kriegsgott Tram Vu und der Poet Li Tai Po oder der Begründer der chinesischen Republik Sun Yat Sen, Lenin sowie Winston Churchill. Die Oberpriester empfangen ihre Einsichten in spiritistischen Sitzungen und schreiben die vermittelten Botschaften auf. „Offenbarungen“ können nicht nur von den Heiligen, zu denen unter anderem Konfuzius, Laozi, Buddha und Jesus Christus zählen, sondern auch von den Medien kommen.
Die Sekte wurde zeitweise so mächtig, dass sie sich eine Privatarmee von rund 20.000 Soldaten halten konnte. Diese Privatarmee wandte sich zuerst gegen die Franzosen, kämpfte für den letzten vietnamesischen König Bao Dai gegen die Viet Minh und erlitt eine Niederlage durch die Saigoner Regierung des katholischen Diktators Ngô Dình Diem. Die kommunistische Regierung schloss nach ihrem Sieg 1975 die Kirchen der Sekte und schickte deren Priester zur „Umerziehung“.
Seit 1990 hat sich die traditionelle Religionstoleranz in Vietnam wieder durchgesetzt und die Kirchen der Caodais sind wieder geöffnet. Die Zeremonien im Haupttempel von Tây Ninh sind heute öffentlich und können von Besuchern von einem Balkon aus verfolgt werden.
So kunterbunt die Glaubenslehre – so kunterbunt die Kirchen
So kunterbunt die Mixtur aus den moralischen Lehren der einzelnen Religionen beziehungsweise Philosophien, so kunterbunt sind auch die Kirchengebäude der Caodais. Es ist ein unbekümmerter Stilmix – eine Mischung aus Architekturelementen mit bunten Dekors aus Ost und West.
Kirche in Tan An mit altindischen Glückssymbolen (Swastikas)
Die Tempelanlagen sind leicht an der farbigen Architektur zu erkennen. Sie ähneln häufig barocken Kirchen, deren Eingang mit geschwungenem Dach von zwei quadratischen Glocken- beziehungsweise Trommeltürmen flankiert wird. Nicht nur die Aussenfassade wird von bunt bemalten Figuren und Türwächtern geschmückt. Auch das Innere schwelgt in Farben und Formen, wie die von Drachen umkränzten dicken Säulen oder den bunten Deckenreliefs mit glücksbringenden mythologischen Figuren: Dabei symbolisieren Drachen die Weisheit, Schildkröten die Langlebigkeit, Einhörner Frieden und Phönixe Wohlstand. Über dem Hauptaltar blickt das allgegenwärtige „himmlische“ Auge des Cao Dài auf die Besucher. Dieses Symbol, das von den Anhängern verehrt wird, ziert die Tempel auf ähnliche Weise wie das Kreuz christliche Kirchen.
Auch im Tempel von Tây Ninh wacht das allwissende Auge des Cao Dài über dem geschmückten Altar
Der Dom des Wallfahrtszentrums in Tây Ninh gleicht mehr einem europäischen als einem asiatischen Heiligtum. Das überrascht nicht, denn im Jahre 1927 begann ein katholischer Ingenieur in Tây Ninh mit dem Bau der ersten Kirche des Caodaismus. Damit traten damals die Glaubensanhänger der jungen Sekte erstmals an die Öffentlichkeit. 1937 wurde der Bau nach 10 Jahren fertiggestellt.
Obwohl die Tempel Barockkirchen nachempfunden sind, fliessen auch hier Elemente der verschiedenen Religionen zusammen und mischen sich zu einer ganz neuen Form, die in Stil und Gestaltung als einmalig angesehen werden kann. Im Inneren des Domes in Tây Ninh befinden sich beispielsweise 24 mit Drachen umschlungene Säulen, die zu einem himmelblauen Gewölbe führen. Der Altar ist verziert mit dem Sinnbild der Sekte, dem himmlischen Auge, auf einer riesigen Weltkugel.
Farbenfrohe Drachen umschlängeln die dicken Säulen
In den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erreichte die Sekte ihren Zenit und zählte wohl rund vier Millionen Anhänger. Seitdem ist die Zahl der Caodais eher rückläufig. Dies mag auch bedingt sein durch das Verdikt der damaligen kommunistischen Herrscher, die das öffentliche Auftreten der Sekte untersagten. Heute wird die Anzahl der Anhänger auf rund zwei Millionen in Vietnam geschätzt. Hinzu kommen etwa 200.000 geschätzte Caodaisten, die während des Vietnamkrieges überwiegend nach Europa und den USA auswanderten.
Deckendekor mit Tiersymbolen
Caodaismus ist auch heute noch mit etwa drei Prozent (nach Buddhismus mit rund 70 Prozent und knapp 10 Prozent Katholizismus) die drittgrösste Religion in Vietnam.
Übrigens Ngô Van Chiêu, dem der Geist Cao Dài zuerst erschienen war, gründete später eine neue Sekte, die Chiêu Minh Sekte. Diese war stärker auf Bekehrungen ausgerichtet und betonte den Erlösungsgedanken. Da es offensichtlich nicht einmal gelingt, diese beiden Sekten wieder zu vereinen, scheint das angestrebte Ziel des Zusammenschlusses aller grossen Religionen wohl kaum erreichbar. Selbst beim Caodaismus war es also nicht soweit her mit der religiösen Einheit! Kritiker bemängeln zudem: Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon mache kein Rezept zur Vereinigung aller Religionen.
Fotos: Wilhelm Böger und Hans-Bernd Heier