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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

documenta 13 in Kassel (5)

Was tut Stephan Balkenhols „Mann im Turm“ der documenta 13 an?

„Kunst wird von Menschen für Menschen gemacht.“
„Kunst muss Konkurrenz aushalten.“
„Das Prinzip von Kunst ist die Freiheit.“
Stephan Balkenhol in der Pressekonferenz am 1. Juni 2012 in Kassel

„Die mild und still, aber beharrlich präsenten Skulpturen von Stephan Balkenhol sind Bilder des Zweifels, Zweifel nicht als narratives Motiv, sondern als Struktur der bildlichen Wirkweise. In seiner Kunst geht es nicht um die klare Richtung, sondern darum, durch präzise Vieldeutigkeit und Varianz des Bildlichen geistigen Spielraum zurückzugewinnen. Spielraum ist hier nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln, sondern es geht um eine Art spielerischen Konzentrationsraum, einen anspruchsvollen bildlichen Vorstellungsraum, der andere, selbst erzeugte Imaginationen von innen erlaubt, anders als die auf neurophysiologische Überrumpelung von außen angelegte Bilderflut des informationellen Spätkapitalismus. Verkörpert in Holz, stellen sich Balkenhols Bilder des Zweifels gegen die Enteignung der individuellen Vorstellungskraft.“
Professor Matthias Winzen (aus seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog)

„Die dOCUMENTA (13) widmet sich der künstlerischen Forschung und Formen der Einbildungskraft, die Engagement, Materie, Dinge, Verkörperung und tätiges Leben in Verbindung mit Theorie untersuchen, ohne sich jedoch Letzterer oder erkenntnistheoretischer Stilllegung unterzuordnen. Dabei handelt es sich um Gebiete, in denen Politisches untrennbar ist von einem sinnlichen, energetischen und weltgewandten Bündnis zwischen der aktuellen Forschung auf verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Feldern und anderen, historischen ebenso wie zeitgenössischen Erkenntnissen. Die dOCUMENTA (13) wird von einer ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision angetrieben, die dem beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptisch gegenübersteht. Diese Vision teilt und respektiert die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen. Die Teilnehmer der dOCUMENTA (13) decken ein weites Feld von Aktivitäten ab. Die meisten sind Künstler, aber manche kommen auch aus Bereichen der Wissenschaft, einschliesslich Physik und Biologie, Ökoarchitektur und organische Agrikultur, der Forschung nach erneuerbaren Energien, Philosophie, Anthropologie, ökonomische und politische Theorie, Sprach- und Literaturwissenschaften, einschliesslich Fiktion und Poesie. Sie alle tragen der dOCUMENTA (13) bei, in dem untersucht werden soll, wie verschiedene Formen des Wissens das Herz der aktiven Übung, sich die Welt neu vorzustellen, bilden. Was manche dieser Teilnehmer tun, und was sie in der dOCUMENTA (13) ‚ausstellen‘, mag Kunst sein oder auch nicht. Jedoch rufen ihre Taten, ihre Gesten, ihre Gedanken und ihr Wissen Umstände hervor, und werden wiederum von diesen Umständen produziert, die von der Kunst gelesen werden können – Aspekte, mit denen Kunst umgehen kann, und die von der Kunst aufgenommen werden können.“
Statement der Künstlerischen Leiterin der documenta 13 Carolyn Christov-Bakargiev (Pressemitteilung)

„Es wird hier keine künstlerische Repräsentation des Menschen geben.“
Carolyn Christov-Bakargiev

Was man noch lesen sollte:

„Kassel ist Australien“, Interview mit Carolyn Christov-Bakargiev in „Die Zeit“

„Über die politische Intention der Erdbeere“, Interview mit Carolyn Christov-Bakargiev in „Süddeutsche Zeitung“

Stephan Balkenhol, Mann im Turm, 2012, Aluminium bemalt und Epoxy vergoldet, Höhe 200 cm; Bildnachweis: Katholische Kirche Kassel, Fotos: Fernando Vargas

Was also tut Stephan Balkenhols „Mann im Turm“ im obersten Turmgeschoss der Kirche Sankt Elisabeth am Kasseler Friedrichsplatz der documenta an?

Nun, er blickt nicht nur über den zentral gelegenen Friedrichsplatz und die nahe Karlsaue, über das Fridericianum, die Neue Galerie und das Orangerieschloss, jene hauptsächlichen Spielorte der documenta 13 also, sondern über das ganze, im Zweiten Weltkrieg von Bomben furchtbar verwüstete, nach dem Krieg ebenso recht wie schlecht wiederaufgebaute Kassel und das „Kasseler Becken“ hinweg bis in die Weiten des Habichts- oder des Kaufunger Walds. Die Arme ausgebreitet, die erhobenen Handflächen gleichsam beschützend über das unter ihnen Liegende erhoben, einer Geste ähnlich, mit der ein Pfarrer der Gemeinde den Segen spendet.

Sie fühle sich von ihm „bedroht“, sagte Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin der documenta 13 in Kassel. Überhaupt konterkariere die Balkenhol-Ausstellung der Katholischen Kirche das Konzept der documenta. Wie kann das sein, fragen wir uns, ganz neutral und harmlos, mit vielen anderen?

Zunächst dachten wir, selbst ein Leben lang Medienmensch, an einen – durchaus genialen – PR-Gag, der die diesjährige documenta und deren Protagonistin schlagartig in die bundes- und europaweiten Medien bringen sollte, was denn auch tatsächlich geschah, denn was hilft einem Ereignis mehr auf die Sprünge als ein kleines oder grösseres, für Schlagzeilen sorgendes Skandälchen zu dessen Beginn.

Nein, das ist es denn bei rechtem Licht betrachtet doch nicht.

Was wir verstehen

Wir glauben, Carolyn Christov-Bakargievs „nachhumanistische“ (Süddeutsche Zeitung) Weltsicht in vielem durchaus verstehen zu können. Die documenta-Chefin tritt entschieden einem anthropozentrischen Weltbild entgegen, das die jüdisch-christliche Tradition und das Christentum ganz überwiegend bestimmt (und als bekennende Feministin erst recht gar einem Androzentrismus, den Balkenhols „Mann im Turm“ für sie wohl ebenso zu verkörpern scheint).

Sie möchte, wie es die Hessische/Niedersächsische Allgemeine auf den Punkt bringt, „eine nicht menschenbezogene Weltsicht stärken und die selbst gemachte Vorherrschaft des Menschen gegenüber den Mitgeschöpfen aufbrechen … Jede Einordnung, wie wertvoll menschliche und nicht menschliche Hervorbringungen sind, basiert auf gesellschaftlichen Festlegungen. Christov-Bakargiev will deutlich machen, wo Menschen Bewertungen vornehmen, was Kunst sei oder wer überhaupt Kunst erzeugen kann“.

Nein, auch manchen um Glauben und Erkenntnis ringenden Christen fällt es oft genug schwer, im Menschen angesichts fortlaufender Umweltzerstörung, angesichts Folter, Massaker und atomarer Bedrohung, angesichts der bewusst in Kauf genommenen Ungerechtigkeit in Ökonomie und Gesellschaft die „Krone der Schöpfung“ zu erkennen. Dass sich Christov-Bakargiev in den zitierten Interviews in einigen Gedanken und Formulierungen sozusagen „versteigt“, ist ein anderes. Insgesamt jedoch verdient ihr Konzept für die documenta 13 ein Mindestmass an Respekt. Deshalb können wir auch der von uns eher für befremdlich als witzig empfundenen Glosse von Antonia Baum und Claudius Seidl „Die Documenta-Chefin fordert sogar das Wahlrecht für Tiere: Sollen Tiere in Zukunft eine grössere Rolle spielen?“ in der heutigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung nun wirklich nichts abgewinnen.

Was wir nicht verstehen

Nicht nachvollziehbar und unakzeptabel erscheinen uns die Interventionen Carolyn Christov-Bakargievs und der documenta-Leitung gegen die Begleitausstellung der Katholischen Kirche „Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth“ und ebenso gegen das Ausstellungsprojekt der Evangelischen Kirche, das eine Installation des Weltklasse-Künstlers Gregor Schneider vor der Kasseler Karlskirche vorsah. Auch einer documenta kann im gesellschaftlichen Prozess kein Alleinstellungsanspruch zukommen. Die Kunst ist frei und muss frei bleiben. Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Der Artikel zählt zu den unveräusserlichen und deshalb unabänderbaren Grundrechten der Verfassung.

Was wir ebenfalls nicht verstehen

ist deshalb die Absage der Evangelischen Kirche an die geplante Installation Gregor Schneiders.

„Es ist schwer nachvollziehbar, dass eine Kuratorin eine Stadt komplett kontrollieren und säubern will, um darin eine Ausstellung zu machen“. Und weiter: „Dass die documenta Kunst zensiert, beziehungsweise zensieren will, was in Kirchen beziehungsweise in eigenständigen Institutionen geplant wird, ist ein Skandal.“
Gregor Schneider (im Hessischen Rundfunk)

Heute, am 3. Juni 2012 wird die Ausstellung „Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth“ von Bischof Heinz Josef Algermissen feierlich eröffnet. FeuilletonFrankfurt wird auf sie zurückkommen.

Abgebildete Werke © VG Bild-Kunst, Bonn

→  documenta 13 in Kassel (1)
→  documenta 13 in Kassel (4)

→  Stephan Balkenhol in der Kirche Sankt Elisabeth zu Kassel

documenta 13

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