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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

documenta 13 in Kassel (4)

Ausstellungsstätte auch der documenta 13: die wiedereröffnete Neue Galerie

Sie ist untrennbar mit der Kasseler documenta verbunden: die Neue Galerie mit ihrer Sammlung der Moderne – Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts, eine der zahlreichen Ausstellungsstätten der weltberühmten Museumslandschaft Hessen Kassel (mhk). Seit 2006, also in den zurückliegenden fünf documenta-freien Jahren, wurde sie umfassend renoviert und Ende November 2011 feierlich wiedereröffnet – uneingeschränkt allerdings nur bis Ende März dieses Jahres. Seitdem nämlich werden das Unter- und Obergeschoss auf die Ausstellungen zur bevorstehenden documenta 13 vorbereitet. Lediglich das Erdgeschoss mit seiner berühmten Beuys-Sammlung im Zentrum bleibt – als immerwährender Teil der Sammlungspräsentation und damit zugleich jedweder documenta-Schauen – durchgehend geöffnet.

Neue Galerie Kassel

Johann Erdmann Hummel (1769 bis 1852), Schloss Wilhelmshöhe mit dem Habichtswald, um 1800, Leinwand

Die Sammlung umfasst Werke vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Wir finden Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts, Nazarener und Biedermeier, Salonmalerei und Historismus, deutschen Neoimpressionismus und Klassische Moderne sowie Kunst der Nachkriegszeit wie die Pop Art. Zu den glanzvollen Namen zählen dabei beispielsweise Lovis Corinth, Alexej von Jawlensky, Max Ernst oder Conrad Felixmüller; Gerhard Richter, Sigmar Polke oder Wolf Vostell.

Wie die Neue Galerie ist auch das Œuvre von Joseph Beuys (1921 bis 1986) selbst untrennbar mit der documenta verbunden. Zur Dauerausstellung des Hauses, wie bereits ausgeführt also auch während der documenta, gehören unter anderem der „Kasseler Raum – Ferne Zwecke“ (1998) von Ulrike Grossarth sowie schlechthin das „Herzstück“ der Neuen Galerie, der 1976 eingerichtete Beuys-Raum. Die Raum-Installation umfasst „The pack (Das Rudel)“ aus dem Jahr 1969, vier Vitrinen, 29 Zeichnungen und sieben plastische Bilder.

Das heute ausgestellte Ensemble mit der zentralen Arbeit „The Pack (das Rudel)“ von Joseph Beuys erwarb das Land Hessen im Jahr 1993 mit Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung und der Kulturstiftung der Länder von dem Ehepaar Jost und Barbara Herbig als damaligem Leihgeber.

Beuys soll den VW-Bus 1969 in Berlin bei einem befreundeten Galeristen entdeckt haben. Die Schlitten mit Bremsvorrichtung sind ein Produkt der damals für derartige Erzeugnisse namhaften DDR-Firma Polycomb. Die Schlitten scheinen, einem Rudel gleich, den Bus entgegen dessen Fahrtrichtung durch die geöffnete Heckklappe verlassen zu haben, einer befindet sich noch im Fahrzeug, ein weiterer gleitet aus ihm zu Boden. Bepackt ist jeder Schlitten mit einem Klumpen Fett, einer sorgsam zusammengerollten Filzdecke und einer grossvolumigen Stablampe, letztere sind mit hellen Riemen auf die Schlitten festgezurrt.

Filz und Fett gehören bekanntlich zu den wesentlichen Materialien der Arbeiten des Künstlers, Filz steht für Schutz und Wärme, Fett für Ernährung und Leben. Die Stablampen gewähren die notwendige Orientierung. Die Installation soll, wie in der Neuen Galerie zu lesen ist, auf einen Flugzeugabsturz des Meisters 1943 auf der Krim zurückgehen: Nomaden zogen den Überlebenden auf einem Schlitten in ihr Zeltlager, „wo er mit Filzdecken gewärmt und mit Fett ernährt wurde. Auf diese Weise wurde sein Leben gerettet“. Automobil und Schlitten versinnbildlichen zugleich die westlich-technologisierte und die im Gegensatz dazu stehende vorindustrielle Welt der Naturvölker. Beuys-Biograf Reinhard Ermen schreibt: „Neben dem optimistischen Szenario wird auch die Andeutung einer (kommenden) Katastrophe sichtbar, frei nach dem Motto ‚Die Ratten verlassen das sinkende Schiff‘ … Die ihnen [den Schlitten] aufgeschnallte Überlebensration, nämlich Fettscheibe und Filzdecke, sind die plastischen Materialien der Zukunft“ („Joseph Beuys“, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2007, 2. Auflage 2010).

„Das Rudel“ zählt zu den frühen Werken des Künstlers, mit denen er 1969 den Durchbruch auf dem Kunstmarkt erreichte.

Joseph Beuys ist mit Kassel auch durch sein zur documenta 7 im Jahr 1982 begonnenes Grossprojekt „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ auf Dauer verbunden, einer das Kasseler Stadtbild im Grundsatz prägenden Intervention gegen die allgemeine landschafts- und umweltzerstörende Verstädterung. Er liess vor dem Kasseler Fridericianum einen Berg von 7000 Basaltstelen aufschichten; im Laufe der folgenden fünf Jahre wurden im Stadtgebiet 7000 Bäume, ein jeder flankiert von einer dieser Basaltstelen, gepflanzt. Den letzten Baum nebst Stele pflanzte sein Sohn Wenzel Beuys im Sommer 1987 während der documenta 8. Die damals in der Kasseler Bürgerschaft heftig umstrittene Aktion galt mit ihren Kosten von etwa 4,3 Millionen D-Mark als eines der teuerstes Kunstwerke seiner Zeit.

Will der aktuell zur bevorstehenden documenta 13 in der Karlsaue aufgeschichtete und bepflanzte Hügel an den Beuys’schen Stelenhügel anknüpfen?

Einer der 7000 Bäume nebst Basaltstele vor dem Kasseler Fridericianum

(Fotos: FeuilletonFrankfurt)

→  documenta 13 in Kassel (1)
→  documenta 13 in Kassel (3)

 

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