Dem Jazzmusiker Emil Mangelsdorff zum 87. Geburtstag
„Ich werde reifer und reifer in der Musik“
Interwiews und Text: Renate Feyerbacher
Der Jazzmusiker Emil Mangelsdorff wurde am 11. April 1925 in Frankfurt am Main geboren. Nach wie vor ist er in der Frankfurter Jazzszene präsent.
Foto: Renate Feyerbacher
„Emil ist für mich ein grosses Vorbild im europäischen Jazz. Was er in seinem Leben gemacht hat, was er gespielt hat, was er durchgemacht hat. Er steht immer noch auf der Bühne und spielt wahnsinnig toll“ (Jazzmusiker Tony Lakatos).
Woher nimmt der 87jährige die Energie?
Emil: „Das ist keine Frage von Energie, das hat mit dem Spass und der Freude an der Musik zu tun. Diese Motivation bringt zustande, dass ich also übe mit einer Lust, (lacht) wie ich das früher selten erlebt habe. Das bringt natürlich auch Fortschritte. Ich merke, dass ich reifer und reifer in der Musik werde, und es bringt neue Ideen.“
Ausserdem findet er es gut, dass er seinem Körper Bewegung, die ja gesund ist, abverlangen kann. Das Alter ist ihm dabei nicht bewusst, auch wenn es anstrengend ist. Denn Emil Mangelsdorff spielt mit ziemlich schweren Saxophonblättern. Es sind Reeds. Die leichten Blätter sind ihm zu schrill, zu scharf.
Sein Tag ist streng gegliedert. Drei, manchmal auch fünf Stunden übt er täglich.
Musikausschnitt:
„Au Privave“ (Charlie Parker) aus der CD „Blues Forever“, Bellaphon 2207 CDLR 714427
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„Ich habe gemerkt, weil ich Emil von früher kenne, er arbeitet immer dran. Man hat einen bestimmten Stil, sei es Miles Davis oder Emil, man hört Neues, und ich denke: oh, Emil hat hart gearbeitet“ (Jazzmusiker Wilson de Oliveira, der mit ihm Anfang des Jahres in zwei Konzerten spielte).
Poster: © Günther Kieser (Foto: Renate Feyerbacher)
„Er ist ein unheimlich guter Musiker. Vor allem, wie er spielt. Die Art, wie er zur Musik steht, zur Jazzmusik. Er spielt nicht nur Musik, er ist Musik“ (Wilson de Oliveira).
Während der Kriegsjahre machte Emil Mangelsdorff, er war damals 17, 18 Jahre alt, zunächst Musik auf dem Akkordeon. Dann wechselte er zur Klarinette und studierte am Dr. Hoch’schen Konservatorium. Flöte gehörte auch zu seinem Instrumentenpark. Erst mit 25 Jahren griff er zum Saxophon.
Warum so spät? Emil: „Nachdem ich damals von der Gestapo verhaftet war, wurde ich gleich zum Arbeitsdienst eingezogen, anschliessend sofort zum Militär. Ich wurde erst mal als Funker ausgebildet und dann nach Russland geschickt. Da hab ich sehr viel Schlimmes erlebt. Als der Krieg ’45 zu Ende war, bin ich in russische Gefangenschaft marschiert und bin da fast viereinhalb Jahre gewesen und kam zurück, als ich 25 war. Also, mir fehlen so mit Landjahren, Wehrertüchtigungslager mehr als sieben Jahre, wo also keine Ausbildung stattfand, wo ich immer fremdbestimmt durch die Nazis war, wo ich nicht hin wollte. Dann kam ich zurück, da habe ich eigentlich von vorne anfangen müssen.“
Musikausschnitt:
„Blues Forever“ (Emil Mangelsdorff) aus der CD „THIS SIDE UP“, Bellaphon 1992 CDLR 45065
alle Rechte vorbehalten
Natürlich hatte sich ihm die amerikanische Musik, die er zuvor im Krieg bei Freunden auf Schallplatten gehört hatte, eingeprägt. Der Bebop, die Musikrichtung, die den Swing ablöste, der während seiner Gefangenschaft massgeblich von Musikern wie Dizzy Gillespie (1917 bis 1993) und Charlie Parker (1920 bis 1955) kreiert wurde, war völlig neu für ihn. Sein Freund, der Trompeter Carlo Bohländer (1919 bis 2004) half ihm, so dass er sich in dieser Stilrichtung schnell zurecht fand. Anfang der vierziger Jahre waren Carlo, Emil und der Pianist Otto Jung (1920 bis 2009) Gründer des Frankfurter Hot Club, die local heroes der Swingszene in Frankfurt.
„Er hat diese Musik unter anderem erfunden damals. Er war dabei, als diese Musik entwickelt wurde in den ’50er Jahren. Er ist diese Musik. Die Jungen sollten bei ihm lernen. Er hat es weiter entwickelt in seiner Art und ist dabei geblieben. Das ist was ganz Tolles“ (Tony Lakatos).
Albert Mangelsdorff (1928 bis 2005), Emils jüngerer Bruder, war durch Emil zum Jazz gekommen. Er spielte sofort nach dem Krieg Rhythmusgitarre in amerikanischen Clubs, verdiente also schon Geld. Er lieh dem 1949 heimgekehrten Bruder Kleider.
Emil: „Ich hatte ja nur eine verschlissene Uniform, als ich aus Gefangenschaft kam. Aber ansonsten ist man schon auf die eigenen Füsse gestellt, wenn man sein Instrument lernen will. Damals, in einer sehr kleinen Wohnung in Praunheim, haben wir geübt, so dass nicht zu vermeiden war, dass der eine den anderen hörte. Naja, wenn man das will, geht es auch.“
Zunächst spielten die Brüder zusammen. 1953 verliess Albert die Gruppe und ging zur Hans Koller-Band. Die höchste österreichische Jazzauszeichnung ist nach dem Jazzmusiker und Maler Hans Koller (1921 bis 2003) benannt. Emil war damals enttäuscht. Albert hatte sich nun endgültig für die Posaune entschieden.
Emil und „Joki“ Freund (1926 bis 2012), ein vielseitiger Instrumentalist, taten sich mit der Pianistin Jutta Hipp (1925 bis 2003) zusammen. Sie hatte die Hans Koller-Band verlassen und brachte noch zwei andere Kollegen mit. Ein neues Quintett war gegründet.
Die Zusammenarbeit der Brüder Mangelsdorff war damit aber nicht beendet. Sie musizierten zusammen bei den Frankfurt All Stars, die in Polen, Südamerika und drei Monate in Südostasien unterwegs waren, und im Jazzensemble des Hessischen Rundfunks, das 1958 ins Leben gerufen wurde.
Die Trennung nennt Emil Mangelsdorff folgerichtig, denn ihre Stilausrichtungen waren verschieden. Doch voll des Lobes ist er für seinen berühmten Bruder. Emil: „Man muss dem Albert zugestehen, dass er mit der Art, Posaune zu spielen, ein Phänomen geschaffen hat, mit dieser Mehrstimmigkeit auf der Posaune. Deswegen, würde ich sagen, sind zu Recht sein Bekanntheitsgrad und seine Wertschätzung, die doch weltweit war. Was Albert auf der Posaune gemacht hat, war ein Novum, einmalig. Insofern würde ich jeden Vergleich scheuen zwischen Albert und mir, weil er etwas ganz Anderes gemacht hat.“
„Emil ist für mich einer der deutschen Meister im Jazz gleich wie Albert. Es war eine grosse Ehre für mich, mit Emil und Albert zu spielen. Beide sind sehr menschlich. In letzter Zeit habe ich drei oder vier Mal mit Emil gespielt. Ich habe das gleiche Ehrgefühl wie damals in den ’80er Jahren – erste Qualität. Er ist ein grosser Musikartist. Was ich sage, kommt direkt von meinem Herzen“ (Jazzmusiker „Joe“ José Gallardo).
Emil Mangelsdorff-Quartett im Haus der IG Metall (Foto: Renate Feyerbacher)
Seit Jahren ist das Emil Mangelsdorff Quartett, zu dem der Schlagzeuger Janusz Stefanski (*1946), der Bassist Vitold Rek (*1955), beide sind Polen, und der Pianist Thilo Wagner (*1965), der „schwäbische Oscar Peterson“ gehören, in vielen Konzerten zu hören. Stefanski wurde mit dem Hessischen Jazzpreis ausgezeichnet und ist Dozent an der Mainzer und der Frankfurter Musikhochschule, wo auch Rek unterrichtet. Alle gastieren in der ganzen Welt.
Emil: „Das sind hervorragende Musiker. Die Motivation wird dadurch gestärkt, dass man mit wunderbaren Musikern zusammenarbeitet.“
Schon seit mehr als 25 Jahren kennt Janusz Stefanski Emil Mangelsdorff, und seit 20 Jahren spielt er in seinem Quartett als Drummer.
„Er ist weltoffen und sehr human. Er schätzt die Menschen unabhängig von welcher Kultur oder Herkunft. Er ist einer von wenigen, die den Bebop und dessen Standards so kreativ spielen und immer wieder neu interpretieren. Bis heute schöpft er aus dieser Musik und erfrischt deren tiefste und schönste Inhalte und begeistert uns alle damit. Seine Interpretationen der Balladen zeigen, wie sehr er diese Musik lebt“ (Janusz Stefanski).
Auch Thilo Wagner ist seit 20 Jahren dabei. „Für mich hat er eine Vorbildfunktion. Er hat eine extreme musikalische Spannweite. Emil kann alles. Er hat ein Riesenrepertoire. Er ist immer noch irre kreativ“ (Thilo Wagner).
Er spiele das, was er könne und was sich bewährt habe, antwortet der Quartett-Chef auf die Frage nach musikalischen Vorlieben. Emil: „Wir spielen tonale Musik. Kontrollmöglichkeit gibt es in der tonalen Musik, wo wir über Jazzstandards improvisieren. Da hört man schon, ob einer besser spielt oder einer Technik hat, ob er Ideen hat oder keine. Da ist ein weites Feld und da gibt es kein Ende von Qualität. Es gibt immer einen, der noch besser spielt. Es wird auch so bleiben. Improvisieren, das ist das Wesentliche dessen, was wir machen. Da kommt ja der Musiker zum Zuge. Improvisieren ist eine Begabung.“
Emil Mangelsdorff-Quartett: Janusz Stefanski, Vitold Rek, Emil Mangelsdorff und Thilo Wagner (Foto: Renate Feyerbacher)
Und was ist das Unverwechselbare seines Spiels?
Emil: „Das können nur andere sagen. Mir ist es gelungen, das ist nicht jedem gegeben, mit Balladen die Menschen zu erreichen. Das hat einen starken Niederschlag im Publikum gefunden. Da habe ich, glaube ich, ein paar Sachen geleistet, an die ich mich gerne erinnere. Wo ich glaube, dass es nicht jedem vergönnt ist, das zu haben. Es ist nicht so oft, dass es gelingt. Ballade ist so eine Art Liebeslied, ein getragenes, langsames Stück. Gefühliger als ein anderes, schnelleres Stück. Man kann durchaus Menschen damit erreichen, dass sie ein musikalisches Erlebnis haben, das man doch hoch einschätzen kann. So kommt es vielleicht sonst nur in der klassischen Musik vor, bei grossen Komponisten. Das gelingt Jazzmusikern auch.“
Foto: Renate Dreesen
„Wenn er eine Ballade spielt, das hat mit seinem Alter zu tun, das kann man nicht üben. Das sind die Erfahrungen, die er in seinen Jahren gesammelt hat, und wie er mit Balladen umgeht, ist einfach nicht übbar, da muss man älter werden. Es ist unglaublich, dass er immer besser spielt, gefühlvoller. Es ist einfach der Wahnsinn“ (Tony Lakatos).
Lakatos selbst ist ein vorzüglicher Balladen-Interpret. Sein Lob ist kennerreich.
Schon Anfang der fünfziger Jahre beschäftige sich Emil Mangelsdorff, der ein begeisterter Leser ist, mit Jazz und Lyrik. Er erinnert sich, dass die Veranstaltungen im Theater, das es damals noch im Haus der Börse gab, erst um 23 Uhr begannen und wegen des grossen Andrangs ab 1 Uhr nachts wiederholt wurden. Später hat er mit dem berühmten Gerd Westphal, dem deutschen Sprecher per se, zusammengearbeitet.
Musikausschnitt:
„Joanne“ (Attila Zoller) aus der CD: „mediation“, Bellaphon 1994 CDLR 45088
alle Rechte vorbehalten
Mit Attila Zoller (1927 bis 1998), dem weltbekannten ungarischen Jazz-Gitarristen, produzierte er eine Heine-Platte. Da spielte er Flöte, heute nicht mehr, weil ihm dabei zu viel Zeit zum Saxophon-Üben verloren gehe. Seine eigene Lyrik-Platte „Das Geheul“ nennt Mangelsdorff „nicht ganz koscher“ wegen ihrer sexuellen Schlüpfrigkeit. 1957 wurde der Verleger des US-amerikanischen Schriftstellers Allen Ginsberg, der das Gedicht „Howl“ (Das Geheul) schrieb, wegen der obszönen Veröffentlichung angeklagt, aber freigesprochen. Der Prozess machte Ginsberg bekannt.
Weitere Lyrikabende gab es mit dem Schauspieler Edgar M. Böhlke (*1940), der lange Jahre am hiesigen Theater war, seit 2006 Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim ist, den der Theaterkritiker Peter Iden einen „starken Typ“, einen „Schauspieler des modernen Theaters“ nennt.
Monique und Emil mit Janusz Stefanski 2008 im Holzhausenschlösschen (Foto: Renate Feyerbacher)
Auch mit Monique, geborene Nowak, seiner seit fast 26 Jahren zweiten Frau, war Emil Mangelsdorff in Sachen Jazz und Lyrik aktiv. Unter anderem waren sie bei der Veranstaltung „Gewalt gegen Rechts“ am 30. Januar 2001 dabei. Sie ist darüber hinaus seine Managerin und nutzt ihre künstlerische Begabung, indem sie gelegentlich die Covers von Emils CDs gestaltet.
Emil Mangelsdorff ist in seinem Herzen jung geblieben. Gerne trifft er junge Menschen, gerne macht er Musik mit ihnen. Vor einem Jahr war er Solist beim Jugendjazzorchester der Bundesrepublik Deutschland (BuJazzO) auf der Wartburg bei Eisenach.
Nach wie vor geht er in Schulen und spricht über die Jazzmusik in der Nazizeit. 300 Schülerinnen und Schüler hörten ihm soeben in der Europäischen Schule Frankfurt zu. Emil: „Alle müssen, wohl auf Anordnung der Lehrer, aufschreiben, was sie gelernt haben bei meinem Vortrag. Das habe ich noch durchzusehen und muss noch ein paar Antworten für die Kinder zustande bringen.“
Wie schon erwähnt, liest der Künstler viel und gern. Sein grosses Wissen begeistert. Er liebt klassische Musik, vor allem die Oper. Dahin hat ihn seine erste Frau, die Opernsängerin Simone Mangelsdorff (1931 bis 1973) geführt. Die Sopranistin sang an allen grossen deutschen Bühnen, bei den Bayreuther Festspielen, an der Mailänder Scala und und und … Sie habe immer grossen Respekt gehabt, was im Jazz geleistet wurde, lobt er.
Sie hat ihren Mann auch den Genuss des Weines schätzen gelehrt. Im Laufe der Zeit hat sich Emil regelrecht zum Weinkenner entwickelt. Und vorzüglich sind seine Kochkünste. Er ist ein Geniesser „comme il faut“.
„Bewundernswert sind seine enorme Musikalität und seine Bescheidenheit. Wie er mit den vielen Preisen umgeht, da gehen andere mit hoher Nase daher. Er hat es nicht nötig“ (Thilo Wagner).
Das nächste Konzert „Jazz mit Emil Mangelsdorff und seinen Freunden“, veranstaltet vom Holzhausenschlösschen, das wegen eines Umbaus derzeit geschlossen ist, findet am 7. Mai 2012 um 19.30 Uhr im Frankfurter Haus am Dom statt. Very special guest wird der weltberühmte Herb Geller sein – geboren 1928 in Los Angeles, der Deutschland zur Heimat erkor. Geller bringt sein Alt-Saxophon mit.
Biografisches zu den Interviewpartnern:
Der Saxophonist Tony Lakatos, 1958 in Budapest geboren, entstammt einer Musiker-Dynastie. Er lebt in Frankfurt am Main. Wie Emil Mangelsdorff hat er einen Bruder, der – so Lakatos – zwischenzeitlich als Geiger bekannter sei als er selbst. Aber Tony Lakatos braucht sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, weil er inzwischen selbst Weltruhm geniesst. Er ist Mitglied und Solist der hr-Bigband und anderer Gruppen. An nahezu 300 CD-Produktionen ist er beteiligt.
Wilson de Oliveira wurde 1945 in Uruguay geboren, verliess seine Heimat 1973, als das Militär die Macht übernahm. Er beherrscht das Saxophon, die Klarinette, die Flöte, ist Komponist und Leader der Frankfurt Jazz Big Band. Seit 1975 gehörte er zur hr-Bigband.
„Joe“ José Gallardo ist in vierter Generation Amerikaner mexikanischer Herkunft. Der 1939 in Texas Geborene ist ein Könner auf dem Klavier und auf der Posaune. Er ist Komponist und Arrangeur. Er war Hochschullehrer und Mitglied mehrerer Radio-Bigbands. Weltweit gastierte er.
Alle drei Musiker haben mit dem Emil Mangelsdorff-Quartett als „very special guests“ gespielt.
Foto: Renate Dreesen
Musikausschnitte mit freundlicher Genehmigung der Bellaphon records GmbH, Frankfurt am Main
s. a. „Jazzlegende Emil Mangelsdorff zum 85. Geburtstag