BERLINALE 2012 – wieder ein grosser Wurf
Text und Fotos: Renate Feyerbacher
Pressekonferenz am Eröffnungstag. Auf dem Platz vor dem Berlinale-Palast wird sie auf der grossen Leinwand übertragen. Es ist eiskalt. Kamerateams aus der ganzen Welt richten ihre Positionen ein.
Marina, eine junge Fernsehkollegin aus Kiew, redet mich an und stellt einige Fragen.
Marina, die junge Reporterin mit ihrem Kameramann
Am Eröffnungstag hatten sich schon früh an den Kassen in den Arkaden am Potsdamer Platz lange Schlangen gebildet. Die Wartenden blätterten im Berlinale-Journal, das alle Filme enthält, und machten sich Notizen in der Hoffnung, für den einen oder anderen Film Karten zu erhalten. Nicht gerade üppig war die Ausbeute, da viele Karten bereits übers Internet verkauft worden waren.
Schlangen vor den Kassen
Die Eröffnungs-Gala war dem französischen Film „Les Adieux à la Reine“ (Leb wohl meine Königin), einem opulenten Kostümfilm, gewidmet. Nur geladene Gäste hatten Zutritt. Das Geschichtsepos erzählt von den ersten Tagen der französischen Revolution aus Sicht der Dienerschaft um Königin Marie Antoinette.
Die Filmcrew mit Xavier Beauvois, Virginie Ledoyen, Léa Seydoux, Benoit Jacquot, Diane Kruger, Gala-Übertragung auf die Aussen-Leinwand
Nach der Eröffnungs-Gala, die Anke Engelke moderierte, eilten Stars aus dem Kino-Palast. Sie flüchteten vor der Kälte schnell in einen der eleganten BMW, die zur langen Shuttle-Flotte gehörte. Der vielbeschäftigte deutsche Filmschauspieler Armin Rohde (ZDF-Polizeifilmreihe „Nachtschicht“) erbarmte sich seiner Fans und gab zitternd Autogramme.
Armin Rohde
Weder im Internet noch an der Kasse gab es Karten für den Film der Brüder Paolo und Vittorio Taviani „Cesare deve morire“ (Cäsar muss sterben). Diese Arbeit mit Laiendarstellern, Schwerstverbrechern im Hochsicherheitstrakt der römischen Strafanstalt Rebibbia, wurde mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet. Es ist die Aufzeichnung der Probe und der Aufführung von Shakespeares „Julius Cäsar“, die ein Regisseur mit den Häftlingen sechs Monate lang im Gefängnis probte.
Viele Kritiker waren nicht begeistert von der Entscheidung der Jury unter Vorsitz des britischen Regisseurs Mike Leigh. Es fehle dem Film, der den höchsten Preis der Berlinale bekam, der Blick für die Gefängnisrealität, schrieb Katja Nicodemus in „Die Zeit“. „Der Goldene Bär für die Brüder Taviani kündet jedenfalls von einer merkwürdigen Ignoranz gegenüber einer Berlinale-Wirklichkeit, die geprägt war von Filmen, mit denen sich eine jüngere Regisseur-Generation ihren Platz im Weltkino eroberte.“ Die Entscheidung ist nur als Hommage für das Lebenswerk der über achtzigjährigen Filmemacher zu deuten.
Einige hätten gerne den Goldenen Bär für „Csak a szél“ (Nur der Wind) gesehen, für den der ungarische Regisseur Bence Fliegauf den Grossen Preis der Jury Silberner Bär und den Preis von Amnesty International erhielt. Er schildert die rassistischen Übergriffe in den Jahren 2008/2009 auf Familien der Roma in Ungarn, die in der Ermordung einer Familie gipfelten. Ein authentischer Film, dessen Laienschauspieler ebenfalls authentisch sind.
Einer in der Jury der Wettbewerbs-Filme war nicht vom Fach. Es war Boualem Sansal, der algerische Schriftsteller, der 2011 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Frankfurt erhielt. („Rue Darwin“, 2011, „Postlagernd: Algier – Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute“ und „Unser Herz schlägt in Tunis“, 2011).
Boualem Sansal
Der arabische Frühling oder Impressionen aus dem schwarzafrikanischen Kontinent waren Thema einiger Filme. „Aujourd’hui“ („Tey“) aus dem Senegal ist einer von ihnen. Er gibt Einblick in Bräuche, in menschliche Verhaltensweisen, die auch den unseren ähneln. Hier geht es nicht um Auswanderung und Neokolonialismus, sondern um Rückkehr vom Studium aus den USA. Es wird Satchés letzter Tag seines Lebens sein. In Ruhe und Frieden endet dieser Tag, der Satché mit grober Realität konfrontiert. Ein feiner, poetischer Film.
„Rebelle („War Witch“), dessen 15jährige Hauptdarstellerin den Silbernen Bär – Beste Darstellerin erhielt, schildert die brutalen Geschehen eines afrikanischen Bürgerkrieges. Komona, die ihre Eltern auf Befehl der Rebellen ermorden musste, wird als Kindersoldatin gezwungen, in den Urwald zu ziehen.
Den Preis für die Beste Darstellerin hätten auch andere verdient: zum Beispiel Nina Hoss für ihre Rolle in „Babara“ – ein Film von Christian Petzold, der nun zum vierten Mal mit der grandiosen Berliner Bühnen-und Filmschauspielerin arbeitete. Für den Film „Yella“ gab es für Nina Hoss 2007 den Silbernen Bär als Beste Darstellerin und den Deutschen Filmpreis 2008. Nun wurde Christian Petzold für „Barbara“ mit dem Silbernen Bär Beste Regie geehrt.
Nina Hoss (Berlinale 2011)
Berühmt wurde Nina Hoss 1996 in Bernd Eichingers Remake als Rosemarie Nitribitt. Da war sie 21 Jahre. Sehr gewandelt haben sich ihre Rollen. Die in Stuttgart geborene Schauspielerin, Tochter eines Politikers der Grünen und einer Schauspielerin, die später Intendantin wurde, gehört seit 1998/1999 zum Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin. Zweimal erhielt sie den Adolf-Grimme-Preis, ferner den Gertrud-Eysoldt Ring für ihre Darstellung der Medea am Deutschen Theater. Lang ist die Liste der Preise. Man muss sie einmal auf der Bühne gesehen haben, um ihre Bedeutung als Schauspielerin zu erfahren. Unglaublich ihre Ausstrahlung in Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ unter der Regie von Stephan Kimmig, der dafür 2011 in Frankfurt den deutschen Theaterpreis DER FAUST erhielt.
Nina Hoss strahlt grosse Klarheit und Menschlichkeit aus. Sie engagiert sich sozial und politisch. Sie beteiligt sich an der Aktion „Deine Stimme gegen Armut“, ist Botschafterin bei Terre-des-Femmes, die gegen weibliche Genitalverstümmelung eintritt, und kümmert sich um die Lebensverhältnisse von Indianern im brasilianischen Staat Pará. Hier setzt sie die Arbeit ihres Vaters fort, der die Zerstörung des Regenwaldes bekämpfte.
In „Barbara“, der Film kommt in wenigen Tagen in die Kinos, spielt Nina Hoss eine Ärztin, die 1980 einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt hat und dafür strafversetzt wird: von der Berliner Charité in ein kleines Kreiskrankenhaus in der Provinz. Ihr westlicher Geliebter, den sie auch gelegentlich heimlich trifft, arbeitet weiter an ihrer Flucht. Ein Film, der von den alltäglichen Schikanen, von Bespitzelung, von Leibesvisitation, vom Verlust der Privatsphäre berichtet, die diejenigen erleiden mussten, die sich in der DDR verdächtig machten. Das ist nicht dick aufgetragen, nicht anklagend, aber spannend und psychisch eindringlich erzählt. Es sind oft nur Blicke und Gesten, die alles über die Beziehung, über eine Situation aussagen. Es geht um den Überlebenswillen eines einzelnen Menschen in einer Diktatur und um die Kraft der Liebe. Nina Hoss spielt diese Rolle kühl, wenn es um die Begegnung mit ihren Bewachern geht, und misstrauisch, lauernd, wenn es um ihren Kollegen, empathisch gespielt von Ronald Zehrfeld, geht. Sie weiss nicht, ob er zu den Spitzeln gehört, ein Stasi-IM ist. Dafür ist sie umso einfühlsamer, liebevoll, eine Vertraute, wenn sie sich um die junge Aussreisserin Stella kümmert.
Ein vollkommener Film, der mehr von dem Leben in der DDR erzählt, als viele vor ihm.
Mit drei deutschen Filmen von 18 Wettbewerbsbeiträgen waren die Deutschen würdig und gut vertreten: „Was bleibt“ von Hans-Christian Schmid, der für seinen Film „Sturm“ auf der Berlinale 2009 mit dem Preis von Amnesty International ausgezeichnet wurde, dem später der Friedenspreis des Deutschen Films und 2010 der Deutsche Filmpreis in Silber zugesprochen wurde.
Corinna Harfouch
Hauptdarstellerin in seinem neuen Film ist Corinna Harfouch, auch Mitglied im Ensemble des Deutschen Theaters Berlin. Auch sie hätte den Silbernen Bär – Beste Schauspielerin für die Rolle als Depressivkranke verdient. Auch sie muss man auf der Bühne gesehen haben, zum Beispiel in Anton Tschechows „Die Möwe“ in der Regie von Jürgen Gosch. Grandios.
Auch Lars Eidinger als Sohn Marko in „Was bleibt“, langjähriges Mitglied der Berliner Schaubühne, ist ein aussergewöhnlicher Bühnenschauspieler. Furios sein „Hamlet“ unter der Regie von Thomas Ostermeier 2008, mit dem er in der ganzen Welt gastierte.
In „Alle anderen“, Berlinale-Beitrag 2009, spielte er zusammen mit Birgit Minichmayr, die für ihr Spiel den Silbener Bär – Beste Schauspielerin erhielt. Auch sie ist eine fantastische Bühnenschauspielerin, Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters und des Münchner Residenztheaters. Furore machte sie im letzten Jahr als Buhlschaft im Salzburger „Jedermann“. Sie und Jürgen Vogel sind die Hauptdarsteller im Film von Matthias Glasner „Gnade“, des dritten deutschen Wettbewerbsbeitrags 2012.
Eine deutsche Familie im hohen Norden Norwegens in schwieriger Situation, im Ausnahmezustand. Es geht um das Leid der anderen, verursacht durch Maria (Minichmayr), die einen schweren Unfall verursacht und sich nicht um das verletzte Mädchen kümmert. „Kann man ohne Gnade und Vergebung leben?“ (Berlinale Journal). Ein Melodram in grossen, landschaftlichen Kinobildern.
Birgit Minichmayr war Mitglied der Jury für den diesjährigen Amnesty International Preis, der an den ungarischen Film ging.
Eine Kandidatin für den Silbenen Bär wäre auch die 22jährige Französin Agathe Bonitzer gewesen, die in dem Film „À moi seule“ das Mädchen Gaelle verkörpert. Der Beitrag lehnt sich an die Entführungsgeschichte von Natascha Kampusch an.
In dem französischen Film geht es nicht um körperliche Gewalt, sondern um den Verlust der Freiheit im kindlichen Alter. Wie findet sich ein Mensch, der die Hälfte seines kindlichen Lebens eingesperrt war, nach Jahren in der Freiheit zurecht? Wie findet dieses Mädchen seine Identität wieder? Agathe Bonitzer ist eine Entdeckung, und der Film wurde von der Gilde der deutschen Filmtheater ausgezeichnet.
„Kuma“ („Zweitfrau“) ist der Debütfilm des Regisseurs Umut Dag, der in Wien als Sohn kurdischer, aus der Türkei stammender Eltern geboren wurde. Es war der Eröffnungsfilm von Panorama, den sein Leiter Wieland Speck vorstellte.
Ayse wird offiziell in einem türkischen Dorf mit dem Sohn einer in Wien lebenden Familie verheiratet. Aber der junge Mann ist schwul, was sie nicht weiss. In Wahrheit wird sie zur Zweitfrau eines älteren, verheirateten Mannes, dem Vater.
„Der Film ist der Versuch, verschiedene Aspekte zu zeigen, nicht aber aufgrund einer Idee, wie man eine Gesellschaft portraitieren könnte. Es geht vielmehr darum, einer Familie dabei zuzuschauen, wie sie mit einer jungen Frau, die spät zur Familie dazu kommt, emotional umgeht, wie sie zusammenwächst oder auseinanderdriftet“ sagt Umut Dag in einem Interview, das bei der Austrian Film Comission erschien..
Umut Dag mit Begüm Akkaya als Ayse und Nihal Koldaş als Mutter/Ehefrau.
Es ist kein Film über Integration, sondern er erzählt von einer geschlossenen Gruppe innerhalb der österreichischen Gesellschaft. Ein bedrückender, nachdenklich machender Film, der den Zuschauer aber zum Schluss versöhnt. Das Berliner Publikum nahm diesen Film begeistert auf.
Um die 400 Filme in Sälen von 22 Kinos und etwa 300.000 Karten wurden in diesem Jahr verkauft.
Gab es im letzten Jahr sehr viel Kritik an dem Leiter der Berlinale, Dieter Kosslick, so war in diesem Jahr viel Lob zu hören. Die Filme des Wettbewerbs, 18 Weltpremieren, waren durchweg interessant, ausgezeichnet, einige geradezu hervorragend. Auch das komplette Programm aller zehn Festival-Sektionen überzeugte durch eine differenzierte Auswahl der Filme, die unendlichen Gesprächsstoff lieferten und für jeden etwas bot.
Die Berlinale begann in Eiseskälte. Sie wandelte sich im Lauf der Tage in ein mild temperiertes, sonniges Klima. Symbolisch für das diesjährige Festival.
Berlinale-Direktor Dieter Kosslick
Preise der Internationalen Jury:
Goldener Bär für den Besten Film: „Cesare deve morire“ (Cäsar muss sterben) von Paolo und Vittorio Taviani
Grosser Preis der Jury – Silberner Bär: „Csak a szél“ (Nur der Wind) von Bence Fliegauf (auch Preis der Ökumenischen Jury)
Silberner Bär – Beste Regie: Christian Petzold für „Barbara“ (auch Leserpreis der „Berliner Morgenpost“)
Silberner Bär – Beste Darstellerin: Rachel Mwanza in „Rebelle“ („War Witch“) von Kim Nguyen
Silberner Bär – Bester Darsteller: Mikkel Boe Følsgaard in „En Kongelig Affære“ („Die Königin und der Leibarzt“) von Nikolaj Arcel
Silberner Bär – Herausragende Künstlerische Leistung: Lutz Reitemeier für die Kamera in „Bai lu yuan“ („White Deer Plain“) von Wang Quan’an
Silberner Bär – Bestes Drehbuch: Nikolaj Arcel, Rasnus Heisterberg für „En Kongelig Affære“ („Die Königin und der Leibarzt“) von Nikolaj Arcel
Alfred-Bauer-Preis in Erinnerung an den Gründer des Festivals für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet: „Tabu“ von Miguel Gomes (auch Preis der FIPRESCI – Fédération Internationale de la Presse Cinématographique)
Sonderpreis – Silberner Bär: „Lenfant d’en haut“ („Sister“) von Ursula Meier
Preis Panorama: „Die Wand“ von Julian Roman Pölsler
Panorama – Publikumspreis Dokumentafilm: „Marina Abramovic – The Artist is Present“ von Matthew Akers
Panorama – Publikumspreis Spielfilm: „Parada“ („The Parade“) von Srdjan Dragojevic
Forum: „La Demora“ („The Delay“) von Rodrigo Plá (auch Leserpreis des „Tagesspiegel“)
Generation 14 plus: Gläserner Bär für den besten Film: „Arcadia“ von Olivia Silver
Generation Kplus: Bester Erstlingsfilm: „Kauwboy“ von Boudewijn Koole (auch Grossen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den besten Film)
Preis Amnesty International: „Csak a szél“ („Nur der Wind“) von Bence Fliegauf (und Friedensfilmpreis)
Preis der Gilde Deutscher Filmkunsttheater: „À moi seule“ von Frédéric Videau