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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Charakterköpfe: Niclaus Gerhaert im Frankfurter Liebieghaus

Manche anderweitig vielbeschäftigte Liebhaberinnen und Liebhaber der Schönen Künste schieben lang geplante Museumsbesuche bis kurz vor dem Ende einer Ausstellung auf – dagegen ist ja auch nichts Grundsätzliches einzuwenden, und auch wir sind das eine oder andere Mal vor solch Gebaren nicht gefeit.

Nun ist aber der Besuch des Frankfurter Liebieghauses – und dort der Augen und Sinne betörenden Ausstellung „Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters“ – aufs Dringendste und Kurzfristigste anzuraten, denn diese endet am kommenden Sonntag um 18 Uhr.

Niclaus Gerhaert von Leyden (um 1430–1473), Selbstbildnis, Straßburg, 1463 (?), Rötlicher Sandstein, Höhe 44 cm, Musée de l’Oeuvre Notre-Dame, Strasbourg, Foto: M. Bertola, © Musée de l’Oeuvre Notre-Dame, Strasbourg

Niclaus Gerhaert wer? fragten sich manche Hiesige, bevor diese Ausstellung in das international bekannte Liebieghaus kam, und es waren keineswegs Kulturbanausen. Dieser Meister der Spätgotik war nämlich über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten. Nicht einmal die Umstände seiner Geburt weiss man genau: um das Jahr 1430, in Leiden wird sie vermutet. Erst 30 Jahre später, 1462 wird er nach heutiger Erkenntnis erwähnt, in Straßburg, vielleicht wurde er dort aber schon einige Jahre zuvor ansässig. Ende 1463 wurde Kaiser Friedrich III. auf ihn aufmerksam, er wollte ihn nach Wiener Neustadt holen, was ihm aber erst 1467 nicht ohne mehr oder weniger sanfte Gewalt gelang. Dort starb Gerhaert 1473.

Frankfurterinnen und Frankfurter müssten Gerhaert eigentlich seit langem kennen, schuf er doch die für das Liebieghaus schlechthin stehende Ikone: als Bärbel von Ottenheim geschätzt und geliebt, das Gegenstück gewissermassen zur wunderschönen Simonetta Vespucci im benachbarten Städel Museum.

Niclaus Gerhaert von Leyden (um 1430–1473), Kopf einer Sibylle, sog. Bärbel von Ottenheim, Straßburg, 1463/64, Rötlicher Sandstein, Höhe 23,2 cm, Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main, Foto: Rühl & Bormann, © Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main

Wie kommt es, dass einer der wichtigsten und einflussreichsten Meister der Spätgotik, zu Lebzeiten hoch verehrt, Vorbild der Bildhauer wie Tilman Riemenschneider in Würzburg, Veit Stoß in Krakau und Nürnberg, Michel Erhart in Ulm oder Michael Pacher in Tirol, in Vergessenheit geraten konnte? Wir wissen es nicht. Lediglich fünf Werke sind mit Sicherheit auf seine Hand zurückzuführen, viele andere jedoch werden ihm oder seiner Werkstatt aufgrund neuer kunsttechnologischer Erkenntnisse zugeschrieben.

Niclaus Gerhaert von Leyden (um 1430–1473), Kopf eines Propheten, sog. Jakob von Lichtenberg, Straßburg, 1463, Rötlicher Sandstein, Höhe 26 cm, Musée de l’Oeuvre Notre-Dame, Strasbourg, Foto: M. Bertola, © Musée de l’Oeuvre Notre-Dame, Strasbourg

Er ist wahrlich ein Meister: „Durch die handwerkliche Virtuosität der Ausführung, die Originalität der formalen Lösungen sowie die enorm räumliche Wirkung der Skulpturen, besonders aber die überraschende Lebendigkeit und berührende Lebensnähe der Figuren setzte er neue Massstäbe. Die starke Zerklüftung der bearbeiteten Stein- oder Holzblöcke, die Forcierung von Durchbrüchen und Hinterschneidungen sowie der weitgehende Verzicht auf Anstückungen steigerte die konventionelle Bildhauertechnik ins hochgradig Virtuose“ (Liebieghaus).

Niclaus Gerhaert von Leyden (um 1430–1473), Heiliger Georg, Straßburg, 1462, Nussbaum, originale Fassung, Höhe ca. 150 cm, Evangelische Pfarrkirche St. Georg, Nördlingen, Foto: Rühl & Bormann, © Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main

Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters: Liebieghaus Skulpturensammlung, nur noch bis Sonntag, 4. März 2012


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