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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Mengeles Schädel – Der Aufstieg der forensischen Ästhetik“

Städelschul-Rektor Nikolaus Hirsch und Anselm Franke

Ausstellung von Hito Steyerl, Thomas Keenan & Eyal Weizman und Paulo Tavares im Portikus Frankfurt

Es ist keine leichte Kost, die den Betrachtern im Portikus serviert wird, und doch – oder gerade deswegen – kann jedem an der Kunst und an der Aufarbeitung gesellschaftlicher Prozesse Interessierten ein Besuch der Ausstellungshalle der Städelschule nahegelegt werden. Ausgangspunkt der Schau ist die Beobachtung, dass hinsichtlich der Opfer sowohl von Individual- als auch von Massenverbrechen eine „Ära“ der Traumata wie auch der Zeitzeugenschaft zu Ende geht und von einer „Ära der Forensik“ abgelöst wird. Besonders deutlich wird dies im Blick auf die im zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen, deren Täter wie – überlebende – Opfer fast gänzlich verstorben sind. Ähnliches lässt sich bereits auch von anderen zurückliegenden, politisch motivierten Verbrechen und Massenmorden etwa in Südamerika oder im südosteuropäischen Raum feststellen.

Seit längerem könne, wie Anselm Franke, der Kurator der Ausstellung ausführt, eine Welle von Forschungen über Massengräber und von entsprechenden Exhumierungen beobachtet werden. Mittels der Scan-Technik und dreidimensionaler bildgebender Verfahren gelinge es immer mehr, Sachverhalte und Tathergänge zu rekonstruieren und zu wissenschaftlich fundierten Bewertungen zu gelangen.

Auch Künstlerinnen und Künstler interessieren sich für die damit verbundenen Fragen: Welche – vor allem suggestive – Rolle spielen die mit 3D-Scans gewonnenen Bilder und „dokumentarischen Skulpturen“ im gesellschaftlichen Diskurs? Entwickelt sich etwas, das man als eine „forensische Ästhetik“ bezeichnen könnte?

Ausstellungsansicht

Die Ausstellung im Portikus – vier Videos bzw. Filme und einige „dokumentarische Skulpturen“ – präsentiert neben Dokumentar- und Quellenmaterial Arbeiten der 1966 in München geborenen Künstlerin, Filmemacherin und Autorin Hito Steyerl. Im Zentrum steht „The Kiss“, ein Werk von bemerkenswerter künstlerischer Gestaltung und Ästhetik.

Konkret wurzelt die Ausstellung „Mengele’s Skull“ in dem gleichnamigen Buch von Thomas Keenan, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft und Direktor des Human Rights Project am Bard College, und Eyal Weizman, Architekt und Professor für Visuelle Kultur in London. Es befasst sich mit der Identifizierung der 1979 unter falscher Namensangabe begrabenen Leiche des berüchtigten KZ-Arztes und Kriegsverbrechers Josef Mengele, die 1985 im brasilianischen Embu exhumiert wurde.

„Mengele’s Skull“, Filmvortrag von Eyal Weizman und Thomas Keenan über die Arbeit der beiden forensischen Anthropologen Richard Helmer und Clyde Snow, als Film performativen Charakters realisiert von Kerstin Schroedinger; Ausstellungsansichten

Ein Film von Paulo Tavares und Eyal Weizman, realisiert von Steffen Krämer, handelt von Opfern eines Völkermordes in den Jahren 1982 bis 1984 in Guatemala, bei dem über 100.000 Mayas um ihr Leben kamen und 400 indigene Gemeinden zerstört wurden.

Film von Paulo Tavares und Eyal Weizman, realisiert von Steffen Krämer: forensische Anthropologen bei der Untersuchung von Überresten der Opfer eines Völkermords in Guatemala; Ausstellungsansicht

Eher unterhaltsam und ironisierend wirkt Hito Steyerls zweikanaliger Film „Leibniz Skull“ über den durchaus von lokalpatriotischen Interessen getragenen Disput bei den Leibniz-Festtagen im Herbst 2011 zur Authentizität eines der Gipsabgüsse von Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Schädel.

„Leibniz Skull“, Film von Hito Steyerl, (Ausstellungsansichten; Pastorin Martina Trauschke und Anatom Reinhard Pabst beim Disput über Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Schädel in der Neustädter Hof- und Stadtkirche Hannover)

In ihrem Hauptwerk „The Kiss“ rekonstruiert Hito Steyerl mit Hilfe forensischer 3D-Technologie ein bis heute unaufgeklärtes Verbrechen des Bosnien-Krieges. 1993 entführte eine paramilitärische Einheit 20 Passagiere eines Eisenbahnzuges, die nie mehr aufgefunden wurden. 19 Entführte sind namentlich bekannt, die Identität eines weiteren Passagiers schwarzer Hautfarbe blieb ungeklärt. Zeugenaussagen zufolge küsste der Anführer der bewaffneten Gruppe diesen Vermissten vor der verbrecherischen Tat. „The Kiss“ zeigt in der künstlerischen Umsetzung des Ereignisses nicht dieses selbst, sondern die Abwesenheit verlässlicher Informationen und Daten und letztlich der vermissten Reisenden selbst.

© Hito Steyerl, „The Kiss“, Scans/Screenshots;
Fotos: Hito Steyerl/Arman Kulasic/Imri Kahn

Mengeles Schädel – Der Aufstieg der forensischen Ästhetik, Portikus, bis 6. Mai 2012

Fotos (ausser Scans/Screenshots „The Kiss“): FeuilletonFrankfurt

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