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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Arte Essenziale“ im Frankfurter Kunstverein

Gemeinschaftsausstellung mit der italienischen Collezione Maramotti

Über die Weihnachtstage waren wir zu Gast im Städel Museum, bei den Alten Meistern, genauer gesagt bei drei Madonnendarstellungen. Nun naht das „Neue Jahr“, und nicht nur deshalb begeben wir uns zu „neuer Kunst“, genauer gesagt zu zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, deren Arbeiten der Frankfurter Kunstverein unter dem Titel „Arte Essenziale“ präsentiert – noch bis einschliesslich 1. Januar 2012. Es sind also nur noch ein paar Tage Zeit, genug jedoch, diese überaus sehenswerte – wenn auch etwas anstrengende – Ausstellung zu besuchen.

Arte essenziale – essenzielle, also grundlegende, wesentliche, unabdingbare Kunst? Was ist das?

Zunächst einmal gilt es, betont Holger Kube Ventura, Direktor des Kunstvereins, sehr genau hinzusehen auf das, was vor uns liegt, also das Material zu erforschen und zu definieren, um als Betrachter die Materialität der Objekte als Kunstwerke in ihrem räumlichen und zeitlichen Kontext zu erfassen, zu verstehen und auch zu hinterfragen. Federico Ferrari, Professor für Philosophie der Kunst an der renommierten Mailänder Accademia di belle Arti di Brera und Kurator der gemeinsam mit der Collezione Maramotti realisierten Ausstellung, auf den der Begriff Arte essenziale zurückgeht, sucht nach dem „Ursprung künstlerischer Praxis unter besondere Berücksichtigung des Wesens der künstlerischen Geste“. Er misst dabei dem künstlerischen Ausgangsmaterial eine entscheidende Bedeutung zu. Alltägliche, banale Materialien (wir denken an die Arte povera) können dabei zu „symbolisch aufgeladenen“ Materialien wie zum Beispiel Marmor oder Bronze in Beziehung treten und einen neuen Sinnzusammenhang erschliessen.

Karla Black, „Nature Does The Easiest Thing“, 2011, Ausstellungsansichten

Gleich im offenen Treppenhaus empfängt uns eine an der Decke befestigte, über elf Meter an Länge messende Arbeit der 1972 in Alexandria (Schottland) geborenen Karla Black, die in Glasgow lebt und arbeitet. Kleine quadratische Folien aus Polyethylen, mit zart pastellfarbenem Kreidestaub bedeckt, hat sie aneinander geknüpft. Die hauchdünnen Materialien sind in ununterbrochener Bewegung, allein schon die normale Thermik in dem Treppenhaus lässt sie niemals zur Ruhe kommen. Der Kreidestaub auf den knitternden und sich kräuselnden Folien bringt zarte, zerbrechliche Strukturen zum Vorschein, die sich von Sekunde zu Sekunde verändern. Der von der halbkreisförmigen Treppe über die Etagen gebildete Raum gewinnt eine neue Dimension und eine neue Ästhetik.

Francesco Gennari, „Degeneration of Parsifal (Nativity)“, 2005-2010, Ausstellungsansichten

Eine wunderbare Kreation des 1973 in Pesaro geborenen Francesco Gennari, der dortselbst sowie in Mailand lebt und arbeitet: Ein Quader aus Mehl, mit 80 kg dem Körpergewicht des Künstlers entsprechend, wurde zunächst durch vier spiegelblanke Stahlplatten und Schraubzwingen zusammengepresst und -gehalten, die sodann gelöst wurden und nunmehr auf dem Boden liegen. Der Würfel aus der instabilen Masse Mehl erodiert an den Rändern und bildet tiefe Risse, die abgespalteten Teile „stürzen“ herab wie etwa (dieser Tage geschehen mit einem zu beklagenden Todesopfer) Kreidefelsen auf Rügen. Eine die eigene Person und Existenz als Künstler reflektierende Arbeit, eine Metapher für Eingesperrtsein in überwiegend behüteter Bürgerlichkeit und einer – der Schutzlosigkeit ausgesetzten – künstlerischen Freiheit.

Karla Black, „Persuader Face“, 2011, (im Hintergrund „What To Ask Of Others“, 2011), Ausstellungsansicht

Karla Black, „What To Ask Of Others“, 2011

Und noch einmal Karla Black: Wunderbar auch zwei weitere ihrer Arbeiten , die in einem räumlichen Zusammenhang präsentiert werden. Auf dem Boden breitet die Künstlerin einen „Teppich“ aus, er soll aus Make up-Puder in einem warmen, zarten Rosa bestehen (nach anderer Ausführung aus gefärbtem Gipspulver). Der Belag franst an den Rändern aus, bedeckt zunächst kaum wahrnehmbare, bei längerem Hinsehen aber immer deutlicher erkennbar werdende Strukturen. Wir denken an die Blütenstaub-Arbeit von Wolfgang Laib seinerzeit im MMK. Man bückt sich nieder, ist versucht, den „Teppich“ mit den Fingern zu berühren, zu erkunden.

Ähnlich die Wandarbeit aus einer hauchdünnen, mit Kreidestaub bedeckten Folie, wiederum aus Polyethylen, einem trotz seiner Zartheit als widerstandsfähig und belastbar bekanntem Material. Assoziationen stellen sich ein: an Brautkleider, Schleier über Kinderwiegen, festlich dekorierte Tafeln und Räume. Auch diese Folie ist, der Luftzirkulation im Saal geschuldet, in ständiger Bewegung, reagiert sofort auf die einen Luftzug erzeugende Annäherung des Betrachters, weicht ihm aus oder kommt ihm entgegen. Jede Erscheinungsform in einer Millisekunde ist vergänglich, kehrt nie mehr wieder.

Gianni Caravaggio, „Shortly Before the Solar System“, 2008

Der studierte Bildhauer und Philosoph Gianni Caravaggio, 1968 im Dörfchen Rocca San Giovanni in den Abruzzen geboren, lebt und Arbeitet in Mailand und Stuttgart. Auf dem Boden ein an einen noch nicht gerundeten, mit Kratern übersäten Himmelskörper erinnerndes, etwa eineinhalb Meter hohes kugelähnliches Objekt aus Styropor, bei dem optische Massigkeit und physikalische Leichtigkeit des Materials in einem offenen Widerspruch stehen, darauf eine kleine Skulptur aus neun Kugeln unterschiedlicher Grösse und Materialität wie Bronze, Zink, Aluminium oder auch Soja. Dieses in sich schon fragile Gebilde – es könnte auf die nach älterer Definition neun Planeten des Sonnensystems anspielen – lagert unbefestigt in einer der kraterförmigen Vertiefungen des bodenstehenden Objekts. Instabilität, Zufälle auch im Universum? Oder ein spielender Creator, Demiurg?

Thea Djordjadze, eine 1971 in Tiflis geborene Installations- und Objektkünstlerin, lebt und arbeitet in Berlin. Sie konstruiert einen häusliche Situationen zitierenden Raum aus den harten Materialien Stahl, Glas und Spiegeln, den sie mit wohnlichen, gleichsam „warmen“ Objekten wie Teppichen und Decken oder auch gefässartigen Gebilden aus Keramik oder Ton ausstattet. Die Jalousie des Fensters ist heruntergelassen. Der Raum verharrt in einem „unfertigen“ Zustand – wird hier etwas errichtet oder abgebrochen? Konstruktion wie Dekonstruktion spielen in der gezeigten Arbeit ebenso eine Rolle wie räumliche Inszenierungen, die beim Umschreiten der Installation erfahrbar werden.

Wir schauen aus einem der Installation benachbarten Fenster, mitten hinein in die umbrechende Stadtlandschaft:

Ausstellungs-Aussicht (durch ein Fenster des Ausstellungssaals auf Dom, Grossbaustelle „Altstadtbebauung“ mit Graffiti-Zaun und Schirn Kunsthalle)

„Arte Essenziale“ zeigt ausserdem Arbeiten von Alice Cattaneo, Jason Dodge, Ian Kiaer und Helen Mirra. Die Künstler haben ihre Werke im Auftrag der Collezione Maramotti in Reggio Emilia für die Ausstellung produziert. Nach einer ersten Präsentation in der Collezione Maramotti, dem von Achille Maramotti (Max Mara) begründeten Museum für zeitgenössische Kunst, wird „Arte Essenziale“ derzeit – noch bis 1. Januar 2012 – im Frankfurter Kunstverein gezeigt.

(Fotos: FeuilletonFrankfurt)

 

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