Biennale Arte Venedig 2011 (12): Urs Fischer, Installation „untitled“, 2011
Alles Irdische geht einmal zu Ende, bleibt aber in unseren Erinnerungen lebendig; ja „lebt“ in einer anderen Art und Weise weiter, in einer anderen Materialität, in metaphysischen Räumen, in einer anderen Dimension des Universums, in einem möglichen Multiversum.
Auch die 54. Biennale in Venedig nähert sich ihrem Ende, und somit auch unsere Reihe von Berichten in FeuilletonFrankfurt, die informieren und neugierig machen wollen – noch ist es ja, bis zum 27. dieses Monats November, möglich, sich kurzentschlossen auf den Weg nach Venedig zu begeben, das überdies an nebelig-verhangenen Novembertagen sehr viel besser zu entdecken ist als in den Sommermonaten der überbordenden touristischen Masseninvasion.
Abschied nehmen heisst es also – und nichts passt besser dazu als eine wunderbare Arbeit von Urs Fischer in den Arsenale.
Urs Fischer präsentiert drei Skulpturen in Lebensgrösse beziehungsweise im Massstab 1 zu 1:
Da steht zum einen eine Nachbildung der manieristischen Marmorgruppe „Der Raub der Sabinerinnen“ aus dem Jahr 1583 von Giovanni da Bologna (1529 bis 1608, genannt Giambologna, eigentlich, seiner Geburt im heute französischen Douai geschuldet, Jean de Boulogne), weltweit bekannt durch ihren prominenten Standort vor der Loggia dei Lanzi in Florenz.
Davor ein Betrachter, bekleidet mit sportlicher Hose, offenem Hemdkragen und gepflegtem Sakko, die Hände lässig in den Hosentaschen, die Brille nicht minder lässig über die Stirn geschoben. Ein Geschäftsmann auf Kulturreise, die vermeintliche Marmorskulptur betrachtend? Nein, es ist „Fischers friend“, eine lebenstreue Nachbildung des Künstlers Rudolf Stingel.
Und dann steht da noch ein Bürosessel, durchaus komfortabel mit Armlehnen und erhöhter Rückenlehne, sagen wir mal für mittleres Management. Auch nicht wahr? Es handelt sich um ein in Urs Fischers Arbeiten häufig anzutreffendes Attribut: hier die Nachbildung seines eigenen Atelier-Sessels.
Was nun ist daran das besondere?
Nun, alle drei Skulpturen bestehen aus Wachs, wie es für Kerzen verwendet wird. Und sie sind auch in der Tat gewissermassen Kerzen: versehen mit einem Docht brennen sie. Das Wachs lief bereits am 1. und am 4. Juni 2011, als wir sie an den Preview-Tagen besuchten, an ihnen herunter.
Und die Figuren – die Florentiner Skulptur-Ikone „Raub der Sabinerinnen“, der Künstler Rudolf Stingel, Urs Fischers komfortabler Bürosessel – sie alle brennen und schmelzen täglich weiter ab. Wir wissen nicht, wieviel am heutigen Tag noch von ihnen übrig ist oder ob sie sich bereits in einen grösseren Hügel von Wachs auf dem Boden verwandelt haben.
Ein für die Biennale mit einigem Aufwand erschaffenes Werk verzehrt sich, zerstört sich selbst.
Eine Vanitas, ein Memento mori. Und ein Hinterfragen aller künstlerischen Tätigkeiten und aller künstlerischen Produkte.
Eine Verunsicherung auch des die Werke der Kunst betrachtenden Publikums: Was ist wahr, was hat Bestand, was geschieht mit „Kunst“, was geschieht mit einem „Künstler“? Wie steht – und „besteht“ – der heutige Künstler vor den grossen Ikonen alter Kunst?
Letzteres nun führt uns zum Ausgangspunkt der diesjährigen Biennale in Venedig zurück: zu dem grossen venezianischen Meister Jacopo Robusti, genannt Tintoretto (1518 bis 1594), dem Biennale-Direktorin Bice Curiger die grosse Haupthalle des Biennale-Palastes widmete.
Urs Fischer, 1973 in Zürich geboren, erhielt zwei Mal den Eidgenössischen Preis für Freie Kunst und bestritt zahlreiche Einzelausstellungen, unter anderem in New York, Paris, Rotterdam und Zürich. Fischer lebt und arbeitet in New York.
Installation “untitled”, 2011, Ausstellungsansichten, Wachs, Pigmente, Dochte, Stahl, Installationsmasse variabel, © Urs Fischer, Courtesy Galerie Eve Presenhuber, Zürich;
Fotos: FeuilletonFrankfurt
→ Susanne Gaensheimer auf der Biennale Venedig 2011 oder: Frankfurt am Canal Grande
→ Susanne Gaensheimer Kommissarin des Deutschen Pavillons für die 55. Biennale Arte di Venezia 2013