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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Siegfried“ von Richard Wagner an der Oper Frankfurt

Zweiter Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“

Von Renate Feyerbacher

Fotos: Monika Rittershaus /Oper Frankfurt und Renate Feyerbacher

Wieder ist sie die Nummer 1, die Oper Frankfurt.

Mit diesem Auszeichnungsschub im Rücken geht es weiter mit dem Frankfurter Nibelungen-Projekt.

„Siegfried“, der dritte Teil der Opern -Tetralogie von Richard Wagner (1813 bis 1883), hatte nach „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ Premiere. Die Begeisterung des Publikums ist ungebrochen.

Was war zuletzt los in der „Walküre“?

Siegmund musste auf Wotans Geheiss im Kampf sterben, ebenso Sieglinde, seine Frau und Schwester, nach der Geburt ihres Sohnes Siegfried. Sie vertraut das Neugeborene Mime an. Er nimmt auch Siegmunds zertrümmertes Schwert an sich.

Brünnhilde, Wotans und Erdas Tochter, wird wegen Ungehorsams von ihrem Vater bestraft. Er nimmt ihr die Göttlichkeit und versetzt sie in tiefen Schlaf. Damit niemand an sie herankommt, lässt Wotan den Fels von Feuer umgeben. „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“

Lance Ryan (Siegfried; vorne) und Peter Marsh (Mime; hinten) © Monika Rittershaus

Wenigstens hat Brünnhilde, seine Lieblingstochter, erreicht, dass es ein Held sein soll, der sie befreit. Da hofft sie schon auf Siegfried.

Wer von den Zuschauern denkt da nicht an Dornröschen?

Ungestümes, trauriges Kind

Wotans Enkel, Siegfried, beherrscht fast viereinhalb Stunden das Operngeschehen.

Mime, der hinterlistige Zwerg, will ihm weissmachen, er sei der Vater. Auf Siegfrieds Frage: „Wo hast du nun, Mime, dein minniges Weibchen, dass ich es Mutter nenne?“ antwortet Mime: „Ich bin dir Vater und Mutter zugleich.“

Mime sieht sich schliesslich gezwungen, Siegfrieds Herkunft zu offenbaren. Aber die Fragen, wo komme ich her, wer sind meine Eltern, wie sahen sie aus, beschäftigen ihn weiterhin.

Lance Ryan (Siegfried) und Susan Bullock (Brünnhilde) © Monika Rittershaus

Im Zweiten Aufzug sinniert der junge Held: „Ach! Möchte ich Sohn meine Mutter sehn! – Meine – Mutter! Ein Menschenweib!“ Und er fragt bange: „Sterben die Menschenmütter an ihren Söhnen alle dahin?“

Bei der Befreiung von Brünnhilde im Dritten Aufzug ruft er, als er erkennt, dass es eine Frau ist: „Wen ruf ich zum Heil, dass er mir helfe?- Mutter! Mutter! Gedenke mein‘!“ und später „Wie ist mir Feigem? – Ist es das Fürchten? – O Mutter! Mutter Dein mutiges Kind!“

Dieser ungestüme Held, der selbst Wotan beleidigt, der tötet, fühlt sich verlassen. Die Psychologen kennen dieses Verhalten von Kindern, die nicht wissen, wer ihre Eltern sind. Sie leiden darunter oft ein Leben lang. Das ist ein Aspekt, der in der Inszenierung von Regisseurin Vera Nemirova deutlich wird.

Überhaupt die menschlichen Momente, die Verhaltensweisen der Agierenden kommen stark zutage. In dem Wanderer Wotan ist nichts Göttliches zu erkennen.

Wie ein Geck bewegt er sich manchmal über die Bühne. Siegfried ist ein jugendlicher Haudegen, ein ungezogener Bursche. Wen wundert es bei diesem hinterhältigen, lügnerischen, nur an seinen Vorteil denkendes Erzieher-Vorbild Mime.

In „Siegfried“ geht es auch wieder um Macht, um Reichtum und um die Natur: Feuer, Luft, Wasser, Erde.

Lance Ryan (Siegfried) © Monika Rittershaus

Siegfried kennt und liebt die Natur, hört die Waldvögel, versteht sogar deren Sprache, als er den – später in einen Drachen verwandelten – Riesen Fafner, der im Besitz des Rheingoldes, der Tarnkappe und des Rings ist, getötet hatte. Möglich wurde das, als dessen Blut zufällig auf seine Zunge geriet.

Siegfried kennt nicht die Machenschaften von Mime, Alberich, Fafner und Wotan.

Mime tötet er, weil er vom Waldvogel erfuhr, dass dieser ihn vergiften will. Fafner tötet er, weil Mime es ihm einredete, um an die Schätze zu gelangen, deren Wert Siegfried nicht kannte. Er tötet nicht „willkürlich“.

Märchen und Mythos

„Nur, wer das Fürchten nicht erfuhr, schmiedet Nothung neu“, so hatte der Wanderer, der inkognito umherziehende Gott Wotan, im Gespräch mit Mime gesagt.

Terje Stensvold (Der Wanderer; stehend) und Peter Marsh (Mime; sitzend) © Monika Rittershaus

Nothung war Siegmunds Schwert, das nur Siegfried, der Furchtlose, neu schmieden kann und mit dem er siegreich sein würde. Mime denkt, dass sein Ziehsohn im Kampf mit dem Riesen Fafner das Fürchten lernen würde. Was nicht geschieht. Ihm fehlt das Gen, die Angst wahrzunehmen. Nach Siegfrieds eigenem Bekunden hat erst Brünnhilde ihn das Fürchten gelehrt. „Im Schlafe liegt eine Frau: – die hat ihn das Fürchten gelehrt!“

Man denkt an „Das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob  und Wilhelm Grimm (1785 bis 1863 bzw. 1786 bis 1859). Der 1. Band erschien 1812, der 2. Band 1815.

Siegfried ist auch so ein Märchenheld, der auszog.

Märchen und Mythos gehen in einander über. War es der Bruch, der Übergang, den Wagner zunächst weder textlich noch musikalisch zu realisieren wusste?

Lance Ryan (Siegfried) und Magnús Baldvinsson (Fafner; liegend) © Monika Rittershaus

Warum Richard Wagner die Kompositionsarbeit an „Siegfried“ unterbrach und sie erst nach zwölf Jahren wieder aufnahm, ist ungewiss. Er brach sie ab im zweiten Akt. „Ich habe meinen jungen Siegfried noch in die schöne Waldeinsamkeit geleitet; dort hab ich ihn unter der Linde gelassen“, schreibt er 1857.

Hat er deshalb resigniert, weil er die Einsicht hatte, dass der dritte Akt, „der Übergang vom Märchen zum Mythos, die Vorstellung eines populären und in sich geschlossenen Werkes durchkreuzte“? Das vermutet Carl Dahlhaus (Richard Wagners Musikdramen, Velber 1971 – zitiert aus „Zwischen Märchen und Mythos“, Programmheft Siegfried der Oper Frankfurt).

Aus Notizen Wagners geht hervor, dass er ein populäres Werk schaffen wollte, das schnell die Opernbühnen eroberte. Tatsächlich wurde „Siegfried“ niemals so populär wie die beiden ersten Teile des „Rings“.

Alles in allem hat sich der Komponist 26 Jahre lang mit dem Nibelungenprojekt beschäftigt.

Streitgespräche

In „Siegfried“ geht es nicht so turbulent zu wie in „Rheingold“ und „Walküre“.

Es werden manchmal lange Gespräche geführt: zwischen Mime und dem Wanderer (Wotan); nur, wenn Siegfried erscheint, wird es lebendig im Ersten Aufzug.

Im Zweiten begegnet Alberich, der Nibelung, dem Wanderer. Schnell erkennt er in ihm den verhassten Wotan, der ihn um das Rheingold und den Ring erpresste, das er selbst den Rheintöchtern gestohlen hatte.

Jochen Schmeckenbecher (Alberich) und Terje Stensvold (Der Wanderer) © Monika Rittershaus

Mime führt Siegfried zur Höhle Fafners. Der junge Haudegen provoziert den Drachen-Riesen so lange, bis dieser seine Höhle verlässt, und tötet ihn. Sein Blut brennt Siegfried auf der Hand, die er unwillkürlich zum Mund führt. Plötzlich versteht er die Sprache des Waldvogels, der ihn leitet, vor Mime warnt und schliesslich zu Brünnhilde führen wird.

Packend das Streitgespräch der Brüder Mime und Alberich, die sich hassen. Jeder hofft, Siegfried die Beute abzuluchsen. Alberich: „schlimmer Gesell“ – Mime: „verfluchter Bruder“. Alberich: „nimmer erringst du Rüpel den Herrscherreif“. Mime: „Gegen dich ruf‘ ich Siegfried zu Rat und des Recken Schwert: der rasche Held, der richte, Brüderchen, dich!“ Ausgerechnet den will er zu Hilfe rufen.

Kurz darauf nähert er sich widerlich-zudringlich Siegfried, den er vergiften will. Auf seinem beweglichen Küchenwagen mixt er den Gifttrank. Siegfried, der von dem Anschlag weiss, tötet ihn.

Meredith Arwady (Erda) und Terje Stensvold (Der Wanderer) © Monika Rittershaus

Im Dritten Aufzug sucht Wotan Göttin Erda auf, die er aus tiefem Schlaf erweckt. Er will wissen, wie er das Schicksal der Götter wenden kann. In „Rheingold“ hatte sie ihn beschworen: „Ein düstrer Tag dämmert den Göttern: dir rat ich, meide den Ring!“

Die Götterdämmerung ist nah.

Sie ist unwillig, will ihm nicht raten, weist ihn ab und als sie, die Mutter von Brünnhilde, hört, was er mit der gemeinsamen Tochter gemacht hat, ist sie wütend und versinkt wieder in Schlaf.

Dann folgt der Dialog zwischen Wotan und Siegfried, der in ihm den Feind seines Vaters wähnt. Er zerschlägt ihm den Speer, mit dem er ihm den Weg versperrt hatte. Der Weg zu Brünnhilde ist frei.

Siegfried überwindet den Feuerring und erweckt die Schlafende durch einen Kuss, zu dem er sich, der keine Frau kennt, aufraffen muss.

Lance Ryan (Siegfried) und Susan Bullock (Brünnhilde) © Monika Rittershaus

Dann gibt es ein quälendes Gespräch der beiden. Brünnhilde: „Lass, ach lass! Lasse von mir!“, fleht die Walküre. Er später: „Lebe und lache, süsseste Lust! Sei mein! Sei mein! Sei mein!“ Schliesslich widersteht sie ihm nicht mehr, die, die sie von jeher sein war.

Und dann ein Happy End mit Einschränkung: „Leuchtende Liebe, lachender Tod“, singen sie beide, als sie sich in die Arme fallen. Die „Götterdämmerung“ wird folgen.

Bewährtes Team – immer wiederkehrendes Bühnenbild

In der „Walküre“ senkte sich der Feuerring um den Fels, auf dem Brünnhilde liegt. Am Schluss des Dritten Aufzugs entschwebt der Feuerring langsam in den Bühnenhimmel. Das ist wieder beeindruckend.

Es wird auf derselben Scheibe gespielt. Man hätte sich den Bühnenbildner sparen können, scherzt Intendant Bernd Loebe auf der Premierenfeier. Keinesfalls. Jens Kilian hat sich neue Variationen der Bühnenscheibe einfallen lassen. Wieder dabei: die Licht-und Videogestalter. Regie, Dramaturgie und Musikalische Leitung sind unverändert. Und die meisten der Sängerinnen und Sänger sind wieder mit von der Partie: Wotan, Alberich, Fafner, Erda, Brünnhilde. Dieses bewährte Sängerteam stärkt vor allem die Einheit des Projektes. Die Kontinuität hilft dem Zuschauer, der immer dabei sein will, die Zusammenhänge zu behalten.

Vera Nemirova (Regie), Sebastian Weigle (Musikalische Leitung), Jens Kilian (Bühnenbild) bei der Premierenfeier, Foto: Renate Feyerbacher

Neu dabei ist Siegfried, der in der „Walküre“ noch nicht existiert. Neu besetzt ist Mime mit Peter Marsh, der seit 1998 dem Ensemble angehört und mittlerweile international unterwegs ist. Eine Meisterleistung sängerisch wie schauspielerisch.

Heldentenor Lance Ryan debütierte in der letzten Saison an der Oper Frankfurt. Der Kanadier ist weltweit gefragt in dieser Rolle, und Intendant Loebe, mit seinem untrüglichen Gespür für Stimmen, hatte früh bei ihm angefragt und ihn als Siegfried engagiert. Die Staatsoper Berlin, die Mailänder Scala, die Münchner Staatsoper und die Bayreuther Festspiele, sie alle ziehen erst nach.

Zunächst singt er fast ruppig, manchmal schreiend, das ist wohl Absicht, ein ungehobelter Bursche, dann steigert er sich nach und nach zum Helden – melodisch und lyrisch. Eine grossartige Leistung.

Bei der Premiere frenetisch gefeiert wurde Terje Stensvold als Wanderer (Wotan).

Zu Recht: er war der Wotan schlechthin, exzellent. Manchmal dachte ich sogar an George London (1920 bis 1985), den berühmten Wotan in Bayreuth und auf allen grossen Bühnen der Welt, den ich als Einundzwanzigjährige 1962 in dieser Rolle an der Oper Köln gehört hatte.

Terje Stensvold bei der Premierenfeier, Foto: Renate Feyerbacher

Auch Jochen Schmeckenbecher als Alberich und Magnús Baldvinsson als Fafner (im Körperwelten-Kostüm) überzeugen in ihren verschiedenen Bass-Partien.

Susan Bullock als Brünnhilde, überzeugend in der „Walküre“, gefällt nicht immer, und Meredith Arwady als Erda kann ihren Auftritt im „Rheingold“ nicht wiederholen. Sie ist kaum zu verstehen im seitlichen Rang, was ihrem Langhaarkostüm zu schulden ist.

Psychologisch differenziert gestaltet Regisseurin Vera Nemirova die Figuren. Mime lässt sie als schmuddeligen, tölpelhaften, Kapuzenshirt und Küchentuch tragenden, bebrillten, seinen Küchenwagen schiebenden Nibelung auftreten. Hinterhältig schleicht er sich an Siegfried heran, der mit blonder Haarmähne mal im Bärenfell, mal im Helden-Outfit, mal im Pelzumhang seines Vaters zunächst frech, respektlos, gewalttätig, sich zum liebenden Helden entwickelt.

Den Waldvogel lässt sie nicht nur stimmlich (Robin Johannsen) hören, sondern in Person von Alan Barnes auftreten. Der ehemalige Forsythe-Tänzer, heute Choreograph, Tänzer und Regieassistent an der Oper, federte über die Bühne. Ein hübscher Einfall, der auch die enge Verbindung Siegfrieds zur Natur symbolisiert.

Alan Barnes (Der Waldvogel) und Lance Ryan (Siegfried) © Monika Rittershaus

Ansonsten sind die Aktionen auf der Bühne sparsam. Verschwenderisch werden sie in der Musik nachempfunden. Es ist grandios, was da zu hören ist. Die Forti sind hinreissend, die Pianos zart und lyrisch. Generalmusikdirektor Sebastian Weigle leitet das erneut ausgezeichnete Frankfurter Opern- und Museumsorchester (Orchester des Jahres). Und auch Sänger und Orchester harmonisieren eindrucksvoll.

Die nächsten Aufführungen von Richard Wagners „Siegfried“ an der Oper Frankfurt sind am 11., 19. und 27. November sowie am 2. Dezember 2011. Beginn ist jeweils um 17 Uhr.

Der gesamte Zyklus „Der Ring des Nibelungen“ wird im Juni 2012 aufgeführt.

⇒⇒⇒ Das Frankfurter Nibelungen-Projekt: Das Rheingold / Die Walküre

⇒⇒⇒ Götterdämmerung

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