Rheingau Literatur Preis 2011 für Josef Haslinger
Jáchymov – Heilbad und Gulag
von Renate Feyerbacher
Das diesjährige Rheingau Literatur Festival „WeinLese“ endete am 25. September 2011 mit der Preisverleihung an den österreichischen Schriftsteller Josef Haslinger. Im Kaminsaal von Schloss Vollrads nahm der Autor für „Jáchymov“ – eine romanhafte Biografie des tschechoslowakischen Eishockeytorwarts Bohumil Modrý – das Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro und 111 Flaschen besten Rheingau-Rieslings entgegen.
Zuvor hatten Michael Herrmann, Intendant und Geschäftsführer des Rheingau Musik Festivals, und Ingmar Jung, Staatssekretär im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, über das Festival „WeinLese“ und die noch laufende Weinlese gesprochen. Die informative Laudatio hielt Professor Heiner Boehncke, der künstlerische Leiter des Rheingau Literatur Festivals und Vorsitzende der Jury, die den Preis verleiht.
Heiner Boehncke, Josef Haslinger, Michael Herrmann
Ein schönes Städtchen im böhmischen Teil des Erzgebirges
Jáchymov heisst ein Ort in Tschechien, der dem neuen Roman von Josef Haslinger den Titel gab. Mit diesem Kurkleinod – ehemals Joachimsthal – verbinden sich Namen wie Marie Curie, die Ende des 19. Jahrhunderts im dort lagernden Uranerz das Element Radium entdeckte. Die französisch-polnische Physikerin erhielt für die Entdeckung 1911 den Chemie-Nobelpreis. Acht Jahre zuvor hatte sie bereits den Nobelpreis in Physik erhalten.
Nun weckt der Roman „Jáchymov“ die verdrängte, verschollene Erinnerung an Bohumil Modrý (1916 bis 1963), den berühmtesten Eishockeytorwart in der Zeit vor und nach dem 2. Weltkrieg. Er war ein Star. Auch sein Name ist eng mit dem Ort Jáchymov verbunden.
Kuranstalt in Jáchymov (Foto: Hejkal/wikimedia commons GFDL)
Die alte Bergstadt Jáchymov ist das älteste Radiumsol-Heilbad der Welt.
Hier waren KZ und Gulag.
Im März 1939 besetzten deutsche Truppen die sogenannte Rest-Tschechei, das restliche Staatsgebiet der Tschechoslowakischen Republik. Das Protektorat Böhmen und Mähren mit deutscher Gerichtsbarkeit wurde errichtet. In den Uranminen von Jáchymov wurden russische Kriegsgefangene gezwungen, für die deutsche Uranindustrie zu schuften. Nach dem Krieg wurden sie gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht. Diese wurden schliesslich abgeschoben. Sie wurden ersetzt durch tschechoslowakische Strafgefangene, die dem kommunistischen Regime missfielen. 1946 wurde das erste von 18 Lagern nach dem Vorbild sowjetischer Gulags gebaut. Nun wurde das geförderte Uran in die Sowjetunion transportiert, wo fieberhaft an der Entwicklung der Atombombe gearbeitet wurde. 1949 war es soweit: die erste sowjetische Atombombe wurde gezündet, wahrscheinlich mit Uran aus Jáchymov.
„Sie haben sich von der Räudigkeit der Nazis anstecken lassen, ohne sich dessen bewusst zu sein“, heisst es im Vorwort der Schriftstellerin Radka Denemarková.
Ein „System von Konzentrationslagern“ nennt es Haslinger. Die Kommunisten haben zwölf Arbeitslager nach dem Vorbild der deutschen Konzentrationslager errichtet.
Manche Quellen sprechen von 70.000 Häftlingen in den Uranminen von Jáchymov, wo mit blossen Händen das Uran abgebaut werden musste.
Sie starben fast alle.
Warum ist der Ort nördlich von Karlovy Vary, Karlsbad, wo Deutsche gerne hinreisen, nicht weit von der deutschen Grenze entfernt, nicht in unserer Erinnerung verankert?.
„Aber es ist schon seltsam, dass wir von diesen Vorgängen im Nachbarland keine Ahnung haben“, sagt Hausarzt Dr. Wachsmann (S. 234 Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011), der den Verleger Anselm Findeisen, seinen Patienten, zur Kur nach Jáchymov schickt.
Warum wusste auch ich bisher weder von den Hitler- noch von den Stalin-Greueln dort?
Und was hat Jáchymov mit dem Eishockey-Star Bohumil Modrý zu tun?
Josef Haslinger bei der Lesung am 25. September 2011
Von der Machtlosigkeit des Einzelnen gegen die Staatgewalt
Josef Haslinger wohnt in Wien und Leipzig, wo er seit 1996 am Deutschen Literaturinstitut lehrt. Geboren ist er 1955 im niederösterreichischen Zwettl.
Wahrscheinlich in Wien traf er vor 23 Jahren Blanka Modra, Tochter von Bohumil Modrý, Boža genannt, die 1972 Prag verliess. Sie war Tänzerin und Schauspielerin, auch am Burgtheater, und arbeitete als Regisseurin.
Viele Jahre hat der Autor nach einer Form gesucht, die Gespräche mit ihr umzusetzen. Er hat unendlich recherchiert, wahrscheinlich hatte er die Briefe von Bohumil Modrý zur Verfügung, die Verhörprotokolle, und schliesslich diese in einer doku-fiktiven Romanform niedergeschrieben – hauptsächlich am jenseitigen Ufer des Rheins, als er im Jahr 2010 Stadtschreiber von Mainz war. Nun werde er am diesseitigen Ufer des Rheins ausgezeichnet; damit habe er „genau das erreicht, was ich erreichen wollte“, so erzählt Josef Haslinger in seiner Dankesrede. Es habe gedauert, bis er wusste, wie er das, was er gehört hatte, verarbeiten konnte.
Josef Haslinger im Frankfurter Literaturhaus am 13. September 2011
Hinter der Tänzerin oder „Struwwelpeter“, so genannt wegen ihrer Frisur, verbirgt sich Blanka Modra, die dem Schriftsteller die unglaubliche Geschichte ihres Vaters geschildert hat.
Dokumentarisch, historisch belegt wird das Schicksal von Bohumil Modrý und der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft, deren Spieler 1950 nach dem zweifachen Gewinn der Eishockey-Weltmeisterschaft 1947 und 1949, kurz vor der Abreise zur Weltmeisterschaft nach London, verhaftet wurden. Unter ihnen Bohumil Modrý, der mit 21 Jahren erstmals im Tor der Nationalmannschaft stand und 1948 bei den olympischen Winterspielen in St. Moritz mit der Nationalmannschaft die Silbermedaille gewann.
Den Spielern wurde vorgeworfen, öffentlich den Präsidenten der tschechoslowakischen Republik sowie Regierungsmitglieder und Funktionäre der Kommunistischen Partei geschmäht zu haben. Zuletzt wurde ihnen vorgeworfen, die illegale Emigration des gesamten Eishockeyteams geplant und vorbereitet zu haben. Vor allem Modrý wurde in diesem Punkt belastet. Zu dieser Zeit spielte er schon einige Zeit nicht mehr in der Nationalmannschaft.
Im Verhör gab er zu, dass er die Ungerechtigkeiten und auch die Unmenschlichkeit, die er in seinem Land gesehen habe, Terror genannt habe und verärgert war. Aber er habe niemals der Tschechoslowakischen Republik schaden noch ihre Sicherheit gefährden, geschweige vom Ausland aus gegen die Republik vorgehen wollen.
Auch die Baufirma, bei der Modrý als Ingenieur beschäftigt war, setzte sich für ihn ein und bat um die schnelle Rückkehr an seinen Arbeitsplatz. Dieser Brief wurde von der Untersuchungsbehörde nie beantwortet.
Der Widerruf falscher Beschuldigungen durch Mitspieler fand keine Beachtung. Ein anderer Mitspieler, der gut aus der Affäre herauskam, schien als Informant und Zuspieler der Staatspolizei gedient zu haben. Dieser Sportler, der schon lange in Schweden wohnte, wurde 2007 zum tschechischen Sportler des Jahres gewählt. Bei dieser Gelegenheit nahm er den Emil-Zátopek-Preis entgegen. (Emil Zátopek, 1922 bis 2000, die „tschechische Lokomotive“ genannt, war ein Laufwunder. Ab 1948 stand er immer auf dem Olympischen- beziehungsweise dem Europameister-Podest. 1952 gewann er allein drei Goldmedaillen bei der Olympiade in Helsinki. Zátopek, der hohe Ämter im Verteidigungsministerium und in der kommunistischen Partei wahrnahm, beteiligte sich am Prager Frühling 1968. Er protestierte gegen den Einmarsch der Truppen der Warschauer Pakt-Staaten und verlor daraufhin alle Ämter; er musste als Müllmann und im Uranbergbau arbeiten.)
Modrý wurde zum Hauptangeklagten, weil er eine Freundschaft mit einem amerikanischen Botschaftsangehörigen pflegte. Spionage und Hochverrat wurden ihm schliesslich vorgeworfen, und der Staatsanwalt plädierte auf Todesstrafe, „weil sich mein Vater mit dem Staatsbürger eines anderen Landes über die politische Lage unterhalten hatte“ (S. 217 Roman).
Von der Todesstrafe wurde zwar abgesehen. Das Urteil hiess nun 15 Jahre schwerer Kerker, Straflager. Nach fünf Jahren, 1955, wurden Modrý und andere Eishockeyspieler vom tschechoslowakischen Präsidenten amnestiert. Stalin war 1953 gestorben.
Nur einmal, so erinnert sich die Tänzerin, hat er den Kindern etwas über das Gefängnis erzählt: „Wir haben mit den Fingern Brösel vom Boden aufgehoben“. Nie habe er Selbstmitleid gezeigt, aber seiner Frau habe er gleich nach seiner Haftentlassung gesagt, dass er sterben werde. Er wusste um die Krankheit, die er in sich trug.
Michael Hohmann, Romanfabrik Frankfurt, Josef Haslinger, Alf Mentzer, Hessischer Rundfunk, Heiner Boehncke
Ein Meister des Erzählens
Josef Haslinger hatte bereits 1995 mit seinem ersten grossen Roman „Opernball“ seine sprachliche Kraft bewiesen. 2000 erschien „Das Vaterspiel“, 2006 „Zugvögel“ und 2007 „Phi Phi Island“, ein Bericht über den Tsunami 2004, den der Autor und seine Familie überlebt haben.
Bereits 1987 hatte Haslinger in „Politik der Gefühle“ – Ein Essay über Österreich gezeigt, dass er sich politisch, gesellschaftspolitisch einmischt.
In „Jáchymov“ kreuzen sich Politik, Sport, Österreich und Tschechien, Nationalsozialismus und Stalinismus. „Er hat die vielen Fäden verknüpft zu einem doku-fiktionalen oder wie man es nennen mag Roman, den genau dieser politisch versierte, ästhetisch reflektierte und bestens lesbare Schreiber verfassen musste – und das eben auch getan hat“, lobte Laudator Heiner Boehncke.
Es ist kein Buch, das schnell gelesen werden kann. Es sind mehrere Erzählstränge, die verwoben werden. Der eine erzählt von Anselm Findeisen, dem Verleger, der an Morbus Bechterew leidet, der aus der DDR freigekauft wurde, der andere von der Tänzerin alias „Struwwelpeter“, die Prag verliess. Beide sind versehrt: er körperlich, sie seelisch. Sie breitet die Geschichte ihres Vaters, Bohumil Modrý, seiner Frau und ihrer Familie aus. Verwoben werden die historischen Fakten mit fiktiven Geschichten, es kommen erdachte Figuren dazu. Zusammengeknotet und -gehalten werden sie durch das historische Korsett. Viel – das zeugt von grosser Kenntnis – kann über Eishockey erfahren werden, und auch medizinisch gibt es interessante Informationen, die keineswegs belehrend daherkommen, sondern geschickt einfliessen in die Story. Der Roman ist fesselnd geschrieben, liest sich wie ein Krimi, aber der Kern ist historische Wahrheit, furchtbare Wahrheit.
Am Ende gibt der Laudator der Rheingau Literatur-Preisverleihung dem Hotel-Management des Radon Palace in Johannisthal den Tipp, Josef Haslingers Roman „Jáchymov“ den Gästen aufs Zimmer zu legen, auf dass sie „unruhig schlafen“.
Ich habe unruhig geschlafen.
Turm von Schloss Vollrads
(Fotos, soweit nicht anders bezeichnet: Renate Feyerbacher)
PS.: Josef Haslinger am Donnerstag, 13. Oktober 2011 auf der Frankfurter Buchmesse:
ZDF – Blaues Sofa 10.00-10.30 Uhr Gespräch (Übergang Halle 5 & 6 )
3 SAT, (S. Fischer) 14.00-14.30 Uhr Lesung – Gespräch ( 4.1 Q 555)
ARD – hr 16.00-16.30 Uhr Gespräch (ARD-Bühne – Forum, Ebene O)